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Band 104

Rideryon-Zyklus

Der Virus Prosperoh

Atlan kämpft um die Existenz des Kosmotarchen

Aki Alexandra Nofftz & Jürgen Freier

Cover

1. Die Gefühle eines Haluters

Nachdem Atlan und Osiris geflüchtet waren, stand Icho Tolot auf und ging über die Treppe in den ersten Stock. Er ignorierte die irritierten Söldner völlig. Oben angekommen öffnete er willkürlich eine Tür. Mit einem Blick stellte er fest, dass es nicht das war, was er gesucht hatte.

Ohne zu zögern öffnete er die Fensterläden und sprang auf den Hof. Hier wollte er sich aus Gewohnheit auf die Laufarme fallen lassen, doch gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass er sie nicht besaß. Er steckte in einem Menschenkörper. So rannte er, so schnell es ihm damit möglich war, in den Wald hinein.

Er rannte und rannte, bis er irgendwann erschöpft über eine Wurzel stolperte und zu Boden fiel. Erst jetzt entrang sich ihm ein Schrei. Er schrie und schrie seinen Schmerz hinaus. Er war in einer Hölle gelandet. Der Hölle einer vom Bösen infizierten Vorstellungswelt eines Kosmotarchen, in der alles Gedachte Wirklichkeit wurde.

Welche Gedanken, welche Wirklichkeit war das! Und er steckte im ausgedachten Körper eines Menschen fest. Aber befreien konnte er sich nicht daraus. Um sich loszureißen, dazu war bloßes Verstehen zu schwach. Er wusste … wusste … und doch war es echt. Es war entsetzlich.

Durch die Vergewaltigungen und die Hinrichtung, die er mit ansehen musste, ohne helfen zu können, war etwas passiert, was er außerhalb der Drangwäsche nie für möglich gehalten hätte. Die unmenschlichen Verbrechen hatten dazu geführt, dass sich sein Ordinärhirn mit aller Macht in den Vordergrund gespielt und das Planhirn verdrängt hatte.

Icho Tolot hatte das Gefühl, sein logisches Denkvermögen wäre völlig verschwunden. Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Die Spirale seines Seelenschmerzes begann sich zu drehen. Sein Kind. Die gestohlene Erinnerung daran. Der erschlagene Wirt. Dessen zwei apathische Töchter. Die Marksuppe. Die Knochen. Sein Kind. Die gestohlene Erinnerung daran …

Der Mensch gewordene Haluter schlug die Stirn gegen einen Baumstamm, immer und immer wieder. Doch die Gedanken ließen sich durch Schmerz nicht auslöschen.

Heulend ließ er sich zu Boden gleiten, kauerte sich zusammen und weinte hemmungslos. Wie gern wäre er dazwischen gegangen und hätte den Wirt, sein Kleines, gerettet. Oder die beiden Mädchen. Aber er war so schwach in diesem Körper, so vollständig nutzlos. Wie konnte ihm Sanna Breen das nur antun?

Allmählich begriff er, warum DORGON in letzter Zeit so wenig in Erscheinung getreten war und warum Sanna Breen so passiv gewirkt hatte, denn das, was die Zechonen hier mit den Bewohnern und damit den Bestandteilen von DORGON machten, konnte nur in den Wahnsinn oder die völlige Apathie treiben.

Hätte er seinen richtigen Körper besessen, wäre er jetzt in Schockstarre gefallen und hätte so lange als Statue mit der Härte von Terkonitstahl herumgestanden, bis die Krise vorüber war. Doch das war ihm leider nicht möglich. So blieb ihm nur, die verbliebenen zwei Hände auf seine verbliebenen Augen zu pressen und vor sich hin zu wimmern.

In dieser Weise ganz auf sich selbst konzentriert, bemerkte Tolot, wie der Hass und die Aggression der Umgebung in seinen Geist kriechen wollten.

Komm!, lockte die Stimme. Tue dir den Gefallen, falle in Drangwäsche! Niemand wird sich dran stören … Und du kannst vergessen …

»Nein!«, brüllte Tolot. »Aufhören! Lasst mich!«

Er sprang auf und rannte ziellos weiter. Doch seine Umgebung hatte sich auf erschreckende Weise gewandelt. Der Wald bestand aus ausgedorrten und geschwärzten Baumleichen. Aus dem Boden ragten ausgelaugte Büsche und einige bleiche Knochen empor. Alles war von einem düsteren Dornendickicht überwuchert, das in Tolots Menschenbeine schnitt.

Nach einer Ewigkeit erreichte er den Waldrand. Nur noch Fetzen der Kleidung bedeckten seine Unterschenkel, die von blutenden Schrammen übersät waren – für den Haluter eine völlig neue Erfahrung. Doch der Schmerz half ihm, die übelsten Gedanken ins Hinterste seines Bewusstseins zu schieben.

Inzwischen war er sich sicher, den Reflex zur Drangwäsche überwunden zu haben, doch die schlechten Gedanken warteten nur darauf, bei der kleinsten Unachtsamkeit wieder völlig seinen Kopf auszufüllen. Nach wie vor spürte er nicht das geringste Anzeichen seines Planhirns.

Er fühlte sich unvollständig. Nicht nur, dass ihm zwei Arme, ein Auge und der Großteil seiner Leibesmasse fehlten – ohne sein logisches Denken fühlte er sich verloren. War er wenige Stunden zuvor noch völlig emotionslos gewesen, tobte in seinem Leben nun ein Wechselbad starker Gefühle, die ihn allesamt fast um den Verstand brachten.

Jenseits des Waldes breiteten sich klägliche Felder aus. Icho Tolot wurde erst auf den zweiten Blick bewusst, dass diese stinkenden und versumpften Flächen tatsächlich für Ackerbau genutzt wurden. Auf ihnen arbeiteten Menschen.

Die Arbeiter waren das Spiegelbild des Landes. Nur die wenigsten trugen mehr als in Fetzen herabhängende Kleidung am Leib. Sie bewegten sich so mechanisch wie schlecht programmierte Roboter und gingen stumpfsinnig der Feldarbeit nach. Tolot konnte an den ausgemergelten Körpern offene Wunden und Geschwüre ausmachen, bei einigen traten sogar die Knochen aus den Wunden hervor. Icho Tolot fragte sich, wie sie die Schmerzen überhaupt aushalten konnten.

Bewacht wurden die Arbeiter von zwei Zechonen, die auf straußenähnlichen Tieren ritten. Icho Tolot irritierte, dass die Reittiere keinerlei sichtbaren Hals und Kopf wie auch keine Sinnesorgane besaßen. Ihre einzigen Gliedmaßen schienen große Hühnerbeine zu sein.

Die Zechonen trugen Peitschen, mit denen sie die Bauern antrieben, schneller zu arbeiten. Die Arbeiter nahmen die Treffer und die teilweise damit verbundenen neuen Wunden geräuschlos hin. Lediglich das Arbeitstempo erhöhten sie, und damit schienen sich ihre Schinder zufrieden zu geben. Vielleicht lebten sie die Neigungen aus, die MODROR oder Rodrom ihnen eingeimpft hatten.

»Meine Kleinen!«, flüsterte der Haluter in Menschengestalt. Einzelne Tränen flossen in seinen Bart. »Ich muss euch retten, bevor ihr daran zugrunde geht.«

Aber wie sollte er das anstellen? Hätte er nicht diesen schwächlichen Körper, wären die beiden Zechonen-Krieger kein Thema gewesen, aber schwach, unbewaffnet, übermüdet und verletzt, wie er momentan war, schien ein Eingreifen für ihn praktisch unmöglich zu sein.

Als die Peitsche wieder herabschnellte und bei einer Frau, die schon mit vielen offenen Wunden übersät war, eine Verletzung bis auf die Knochen aufriss, hielt es Icho Tolot nicht mehr aus. Sein Mutterinstinkt wurde übermächtig. Er stürmte aus seiner Deckung auf die Felder.

Zumindest wollte er das tun, doch sein geschwächter, ungewohnter Körper ließ nur ein wenig elegantes Taumeln zu.

»Ihr dürft das nicht tun!«, brüllte er den Aufsehern zu. »Ihr dürft sie nicht verletzen.«

Tolot ignorierte die beiden Zechonen auf ihren Reittieren und rannte, so schnell er konnte, zu der geschundenen Frau. Dort riss er sich einen Fetzen seiner Hosenbeine ab und versuchte, die gröbsten Wunden der Arbeiterin zu verbinden. Doch die ignorierte ihn völlig und ging ihrer Arbeit nach.

Icho Tolot stellte sich genau vor sie, um sie vom Weitermachen abzuhalten, aber sie drehte sich leicht zur Seite und hieb ihre Hacke ein weiteres Mal in den Boden.

»Lass mich dir helfen, Kleines«, flüsterte er ihr zu, doch ihr Blick ging leer durch ihn hindurch. Er versuchte, sie aus ihrer Lethargie zu rütteln, aber sie riss sich los und fuhr an einer anderen Stelle mit ihrer Feldarbeit fort, als sei er nur ein lästiges Hindernis.

So werden auch die beiden Mädchen aus der Gastwirtschaft enden, dachte er traurig. Nur noch Zombies, die stumpf ihrer Arbeit nachgehen und keinen eigenen Willen mehr besitzen.

Geistig wie körperlich völlig ausgelaugt ließ er sich zu Boden sinken. Er konnte nicht verhindern, dass ihm die Tränen wieder in die Augen schossen.

Er wehrte sich nicht, als ihn die Zechonen fesselten, und ließ sich abführen. Warum auch nicht? So konnte er nicht weiterleben. Sollten sie ihn doch töten, wie es seinem eigenen Kind und dem Wirt ergangen war. Oder auch zu einem untoten Sklaven machen. Jedes Ende seiner derzeitigen Existenz war besser, als weiter in diesem unwürdigen Körper zu stecken und all dies mitansehen zu müssen.

Ob er sein Kind wiedertreffen und sich an alles erinnern würde, wenn er erst einmal tot war? In seinem ganzen Elend gelang Icho Tolot für einen winzigen Moment ein Lächeln, bevor er wieder zu heulen begann.

2. Prinz Prosperoh

Atlan

Ich machte mir bewusst, dass ich auf mich allein gestellt war. Icho Tolot und Osiris waren verschollen, und Sanna Breen … Ja, Sanna … Ich schaute zu der dunkelblonden Terranerin. Sie kauerte im Schneidersitz in einer Ecke unseres Käfigs und starrte ohne jegliche Regung auf ihre Oberschenkel. Ab und zu sah ich eine Träne in ihren Schoß fallen, doch ein Blick in ihr Gesicht war mir aufgrund der tief herabgezogenen Hutkrempe nicht möglich.

Die Zechonen-Krieger hatten uns zunächst gefesselt und ruhiggestellt, doch dann war unser wanderndes Gefängnis angekommen. Es handelte sich um eine Art Käfig, der auf zwei riesigen Hühnerbeinen herangeschritten kam.

Es war so ziemlich das ungewöhnlichste Reittier, das ich jemals gesehen hatte. Man löste uns gnädigerweise die Fußfesseln, bevor wir eingesperrt wurden, doch die Stricke um meine Handgelenke schnitten mittlerweile schmerzhaft ins Fleisch.

Da ich momentan keinerlei Möglichkeit sah, uns aus dieser Lage zu befreien, blieb mir nur, die vorbeiziehende Landschaft zu beobachten, die immer mehr einem Albtraum glich. Seit unzähligen Stunden flankierten nur noch ausgedorrte Gerippe von Bäumen unseren Weg. Hin und wieder passierten wir Pyramiden aus übereinander gestapelten Totenschädeln, die mit ihren Kiefern klapperten, wenn wir vorbeizogen.

Das löste bei mir immer wieder eine Gänsehaut aus. Ich wollte gar nicht wissen, ob das nur eine perfide Illusion war, mit der Prosperoh und seine Zechonen etwaige Besucher demoralisieren wollten, oder ob wirklich dem Wahnsinn nahe Bewusstseine in diesen Schädeln ihr Dasein fristen mussten.

An den Stellen, an denen sich der Wald lichtete, waren Sklaven mit karger Feldarbeit beschäftigt. Die bedauernswerten Kreaturen waren so übel entstellt, dass ich nicht mehr genau hinsehen konnte, ohne mich übergeben zu wollen. Mir war unklar, wie sich Menschen mit solchen Verletzungen überhaupt noch auf den Beinen halten konnten, doch trieben die Aufseher mit ihren widerwärtigen Peitschen, die in unzähligen Enden ausliefen, die Landarbeiter offensichtlich effektiv zur Arbeit an.

In diesem Moment tauchte eine Vogelscheuche in meinem Blickfeld auf. Ich wollte Sanna auf dieses unerwartete Kuriosum aufmerksam machen. Da rief ich mir in Erinnerung, dass die Zechonen mit Sicherheit kein lustiges Dekorationsstück hier aufgestellt hatten.

Misstrauisch beäugte ich den stummen Wächter über ein mit bleichem Getreide bewachsenes Feld. Als unser Käfig an der Scheuche vorbei schritt, schnellten uns plötzlich ihre Arme entgegen. Sie versuchten, die Gitterstäbe zu erreichen. Ich vernahm ein Geräusch, als würde sich ein schwer erkälteter Mann permanent räuspern.

Einer unserer Wächter schlug mit seinem Stab gegen die Arme der Scheuche, die daraufhin in ihre Ausgangsstellung zurückkehrten. Ich musste würgen. Das war eindeutig keine Vogelscheuche, sondern ein aufgespießter Mensch gewesen!

Langsam wurde es mir zu viel. Irgendwann war alles genug. Ohne es wirklich bewusst wahrzunehmen, rutschte ich zu Sanna hinüber und nahm sie in den Arm, soweit das mit den Handfesseln möglich war. Diese erwiderte meine Nähe und klammerte sich an mich. Auf diese Weise dicht aneinander gepresst bemerkte ich, dass ihr Oberkörper in stillem Wimmern bebte.

Wie gern hätte ich sie getröstet, doch momentan war mir das einfach nicht möglich. Immer stärker beeinflusste die Stimmung unserer Umgebung meine Gefühlswelt. Ich hatte panische Angst davor, wieder wie vor dem Gasthaus die Kontrolle über mein Tun zu verlieren und womöglich noch Sanna was anzutun. Wie es in ihr aussah, darüber konnte ich nur spekulieren. Selbst in ihrem wahren Leben war sie eine Person gewesen, die keiner Fliege was zuleide tun konnte. Sie war eine Frau gewesen, die an das Gute eines Menschen glaubte.

Ganz besonders in Cauthon Despair. Obwohl alle ihn mit Misstrauen bedacht hatten – zu recht – hatte sie gehofft, dass er ein guter Mensch werden würde. Nach der Absorption ihres Bewusstseins durch DORGON war ihre Friedfertigkeit nur noch verstärkt worden.

Hinzu kam, dass sie nicht wie die meisten anderen hier lediglich ihr Leben in diesen unfassbaren Welten fortgesetzt oder neu begonnen hatte, sondern als Botin praktisch allen Einflüssen und Aspekten DORGONS gleichzeitig erlegen war. Wie musste sie sich jetzt fühlen, wo sie von allen externen Einflüssen getrennt und in dieser für normale Menschen kaum erträglichen Umgebung gefangen war?

Während ich mich diesen trüben Gedanken hingab, überkam mich endlich die Müdigkeit des langen Marsches. Ich schlief ein.

*

Irgendwann schreckte ich auf. Mein Schlaf war von Albträumen erfüllt und nicht wirklich erholsam gewesen. Sanna Breen hatte sich in meinen Schoß gekuschelt und stieß einen dumpfen Laut aus, als ich aufschreckte. Zum Glück hatte ich sie nicht geweckt.

Da ihr der Hut weggerutscht war, konnte ich nun endlich ihr Gesicht betrachten, das blass geworden und eingefallen war. Zusätzlich rahmten dunkle Ringe ihre Augen ein. So sah jemand aus, der monatelang in irgendeinem finsteren Verlies bei Wasser und Brot dahinvegetierte. Die Botin einer kosmischen Entität stellte ich mir anders vor.

Ich versuchte herauszufinden, wie lange ich geschlafen hatte, doch die Landschaft um uns war in dasselbe trübe Dämmerlicht getaucht, das auch den Wald erfüllt hatte.

Von diesem war nichts mehr zu sehen. Stattdessen breitete sich eine Wüste aus grauem Staub vor meinen Augen aus, die mich stark an die zerstörte Natur auf Aykon erinnerte. Offenbar hatte der tödliche Staub in irgendeiner nicht fassbaren Weise hier seinen Ursprung.

In Laufrichtung der Hühnerbeine unseres Käfigs, fern am Horizont, konnte ich einen Berg ausmachen, der wie ein gigantischer Pickel aus der Landschaft quoll. Ich kniff die Augen zusammen, um im Dämmerlicht weitere Details ausmachen zu können. Tatsächlich, der Berg war über und über mit Häusern bedeckt.

Am höchsten Punkt funkelte eine Burg, die aus purem Gold zu bestehen schien. Vier Türme flankierten die Ecken des Bollwerks, während sich in der Mitte ein viel höherer Turm erhob.

Die Architektur hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit den Tempelanlagen auf Aykon, parodierte diese aber auf erschreckendste Weise. Ich war mir auf den ersten Blick sicher, Prinz Prosperohs Residenz vor mir zu haben.

Sanna begann zu zittern. Offenbar hatte sie ebenfalls schlechte Träume.

Konnte ein Wesen wie sie überhaupt Albträume haben? Aber andererseits hatte sie, seitdem wir die Schwarzen Lande betreten hatten, das Verhalten einer ganz normalen Terranerin gezeigt.

Ich zog, soweit es mir mit gefesselten Händen möglich war, ihre Kutte über sie, um ihr etwas Wärme zu geben. Eigentlich war es verwunderlich, dass sie mich in ihrer Schönheit nie körperlich gereizt hatte. Vermutlich, weil ich in ihr immer DORGONS Botin und nie eine Frau gesehen hatte.

Narr!, meldete sich in meinem Kopf eine Stimme, die ich schon seit der großen Mauer nicht mehr vernommen hatte. Sanna hat dich sehr wohl interessiert, sonst hättest du dich auf das hier nie eingelassen! Erinnerst du dich, dass sie dir nur schöne Augen machen musste, damit du deine Argumente über Bord geworfen hast? Wäre Hesinja nicht gewesen, so wärst du mit Sicherheit über Sanna statt über die Küchenmagd hergefallen.

Ich bin über Hesinja nicht hergefallen!, gab ich ärgerlich zurück. Außerdem ist das ja jetzt wohl kaum die Situation, um über solche Nebensächlichkeiten zu diskutieren, oder?

»Mit wem redest du?«, hörte ich Sanna flüstern. Offenbar hatte ich in meinem Ärger laut gesprochen.

»Es ist nur mein Extrasinn«, winkte ich ab. »Schlaf ruhig weiter, du hast es nötig.«

Doch sie schlug die Augen auf und setzte sich neben mich, den Rücken wie ich an die Gitterstäbe gelehnt. Dann legte sie ihren Kopf an meine Schulter.

»Es ist komisch«, flüsterte sie. »In den letzten Jahren habe ich fast vergessen, wie es ist, ein Mensch zu sein. Nur meine Besuche bei Cauthon Despair hatten mich an mein einstiges Ich erinnert. Aber nach all dem, was ich hier bisher sehen musste, will ich gar kein Mensch mehr sein und sehne mich nach dem Frieden in der Gemeinschaft DORGONS zurück.«

Ich schwieg. Was sollte man darauf auch antworten?

Lange Zeit schwieg auch Sanna, ihre Augen starr auf den Horizont gerichtet. Dann fuhr sie fort: »Atlan, ich glaube, ich werde wahnsinnig.«

Ich schluckte. »Wie meinst du das?«

Sie hob ihren Kopf, um direkt in meine Augen blicken zu können. »Du merkst es wahrscheinlich nicht so stark, weil du kein Teil von DORGON bist, aber ich spüre, wie diese Umgebung Stück für Stück meinen Geist vergiftet.

Es sind immer nur winzige Mengen, doch auf die Dauer werde ich mich davor nicht schützen können. Es war die einzig richtige Entscheidung, euch zu Hilfe zu holen. Kein Bewohner DORGONS könnte Prosperoh entgegentreten.«

Eine einsame Träne kullerte ihre eingefallene Wange herab. »Atlan, ich muss dich nun um etwas bitten – nein, ich muss dir etwas befehlen: Sollte ich jemals Aggressivität zeigen, dann töte mich auf der Stelle.«

»Sanna, ich …«

»Tu es, bitte! Vielleicht kann ich mich dann wieder mit reinem Geist neu manifestieren. Wenn nicht …« Sie deutete auf einige entstellte Arbeitssklaven, die mechanisch unserem Transport folgten. »Prosperoh und die Zechonen machen uns zu ihren Sklaven – und damit auch DORGON. Irgendwann werden wir alle so dahinvegetieren und für MODROR leichte Beute sein. Alles ist besser, als so zu enden.«

Ich atmete tief ein. Nahm dieser Horror denn kein Ende? Dabei hatten wir Prosperoh bisher nicht einmal gesehen!

*

Wenig später erreichten wir die Stadt. Die tumben Arbeiter wurden in einen Verschlag gesperrt, wie er anderswo nur für Vieh verwendet wurde. Ohne den geringsten Widerstand ließen es die entstellten Gestalten mit sich geschehen. Ich sah, wie ein Zechone Innereien und Essenreste in einen Trog füllte. Die Sklaven begannen zu fressen. Angewidert wandte ich mich ab.

Unser auf Hühnerbeinen wandelnde Käfig konnte das mächtige Stadttor problemlos passieren, sodass wir auch die Gassen der Stadt durch die Gitterstäbe zu sehen bekamen. Sie machten einen völlig heruntergekommenen Eindruck.

Was einstmals wohl hübsche Fachwerkhäuser gewesen waren, bestand nur noch aus Dreck, Löchern und Unrat. Dazwischen huschten einige Bewohner wie Ratten umher und sammelten ein, was die lärmenden und lachenden Zechonen fallen ließen.

Letztere gebärdeten sich, als wären sie die Allmächtigen persönlich. Kam ihnen einer der bedauernswerten früheren Einwohner entgegen, wurde er brutal zur Seite getreten. Hier und da sah ich auch, dass Zechonen, egal welchen Geschlechts, auf offener Straße vergewaltigten. Alle zeigten bei ihrem Tun eine perverse Freude, so dass mir schlecht wurde.

Als wir weiter den Berg in Richtung Schloss empor getragen wurden, kam uns ein Streitwagen entgegen, der jedoch nicht von Pferden, sondern von nackten, jungen Männern gezogen wurde. Der Wagen wurde von einer Zechonin gelenkt, die wie eine Domina gekleidet war und ihre Peitsche auf die Rücken ihrer »Pferde« zischen ließ. Dabei stieß sie ein lustvolles Stöhnen aus.

Sanna Breen wandte sich ab. Sie setzte wieder den Spitzhut auf, zog die Krempe über ihr halbes Gesicht und verbarg dieses auf meiner Brust. Ich fühlte, dass sie vor Ekel zitterte.

Aus einer Gasse wehte ein Geruch herüber, der stark nach Käse roch. Ich hoffte, nie herausfinden zu müssen, womit man dort beschäftigt war.

Endlich hatten wir den Burgplatz erreicht. Unser wandelnde Käfig ließ sich zu Boden sinken. Ich nahm dies als Aufforderung, mich zu erheben und zum Ausgang zu gehen. Dabei zog ich die völlig apathische Sanna mit mir. Sie murmelte etwas vor sich hin, vielleicht ein Gebet, vielleicht redete sie sich auch nur Mut zu. Wenn wir Glück – oder Pech – hatten, würden wir gleich schon dem bösen Zentrum dieser Welt gegenüberstehen.

Einige der in knappes Leder gekleideten Damen erwarteten uns, in offensichtlicher Vorfreude die Peitschen schwingend. Tatsächlich – kaum hatten wir den Käfig verlassen, trafen mich die Schläge der neun Enden, die jede Peitsche aufwies, und zogen blutige Striemen über meine Haut. Ich drückte Sanna an mich, um sie vor den Hieben zu schützen. So schnell es unsere Peinigerinnen zuließen, liefen wir in die goldene Festung.

Dort erwartete uns ein in pompöse Gewänder gekleideter Mann, dessen Haut scharlachrot eingefärbt war.

»Halt!«, rief er den Schinderinnen zu. »Lasst mich mal sehen.«

Brutal wurde mir Sanna Breen aus den Armen gerissen. Der Rote pflückte ihr den Hut von Kopf und begutachtete ihr Äußeres.

»Na, die Kleine sieht doch ganz passabel aus«, stellte er schließlich zufrieden fest. »Bringt sie in den Jungfrauenhort.«

Mein Herzschlag setzte aus. Jungfrauenhort? Gab es denn keine Abscheulichkeit, zu der die Zechonen nicht fähig waren?

NEIN!, donnerte plötzlich eine Stimme durch den Raum. Sie schien von überall her gleichzeitig zu kommen. Oder entstand sie direkt in meinem Kopf? ICH WILL SIE SEHEN. ALLE BEIDE! BRINGT SIE ZU MIR!

Sofort wurden wir beide die Treppe in den Zentralturm hochgezerrt. Ein weiteres Mal traf mich eine Peitsche am Rücken. Ich versuchte, den Schmerz zu unterdrücken. Sanna Breen war kurz davor zu kollabieren. Ich sah nur noch das Weiße in ihren Augen. Sie hatte Schaum vor dem Mund. Als wir weiter die Treppe hochgestoßen wurden, begann sie am ganzen Körper zu zittern und brach schließlich zusammen.

Als eine der Peinigerinnen zuschlagen wollte, riss ich mich los und ging dazwischen. Trotz der Fesseln gelang es mir, Sanna über meine Schulter zu werfen. Hämisch grinsend stießen mich die Palastwachen weiter.

Inzwischen war mir aufgefallen, dass alle Anwesenden die scharlachrote Hautfärbung und keinerlei Behaarung aufwiesen. Ob es sich bei ihnen um eine spezielle Rasse der Zechonen handelte? Oder hatten sie sich absichtlich die Köpfe geschoren und die Haut gefärbt, um auf ihre besondere Stellung hinzuweisen?

Schließlich erreichten wir einen gigantischen Saal, der sich über mehrere Stockwerke bis zur Spitze des Turms zu erstrecken schien. Die Form erinnerte mich auch hier wieder an das hohle Innere einer Pyramide.

Im exakten Zentrum des Raums war ein gewaltiges Podest aufgebaut, auf dem sich ein pompöser Thron befand. Auf diesem wiederum räkelte sich ein Männchen, das ohne diese ungeheure Ausstrahlung von Gewalt und Hass in dieser Umgebung einfach nur lächerlich gewirkt hätte. Auch an ihm war kein Haar zu finden, nicht einmal Augenbrauen, und die Haut war scharlachrot gefärbt.

Als ich bis auf etwa zehn Schritte an den Thron herangekommen war, zwang mich ein unerwarteter Schlag in die Kniekehlen auf den Boden. Dabei entglitt mir Sanna und sie schlug unsanft auf. Kein Ton kam über ihre Lippen. Sie schien die Aggressivität, die dieser Ort ausstrahlte, nicht verkraften zu können und war wohl ins Koma gefallen.

»Fräulein Breen«, vernahm ich eine Eisesstimme, gegen deren Tonfall das Organ von Majordomus Mew Wulfski noch sympathisch geklungen hatte, »was für eine unerwartete Überraschung.«

Das Männchen fixierte mich. Seine Augen schienen mir die Seele aus dem Leib zerren zu wollen. Schnell blickte ich zu Boden. Nach meiner Begegnung mit dem Chaotarchenknecht Peonu, der mir vor etwa achtzig Jahren in der Intrawelt einen Teil meiner Seele entrissen hatte, wollte ich so etwas nie wieder erleben.

»Und Ihr müsst Atlan sein«, fuhr er fort. »Wirklich reizend, dass Ihr mich besuchen kommt. Ich will nicht unhöflich sein, ich möchte mich vorstellen. Ihr gestattet? Prinz Prosperoh, der persönliche Sendbote des Teufels MODROR!«

Sanna war immer noch bewusstlos. Zum Glück! Selbst mir fiel es schwer, diese ungeheure Aura von Aggressivität zu ignorieren.

»Ach, Ihr wollt nicht mit mir reden«, keckerte das glatzköpfige Männchen. »Ich kann mir denken, warum Ihr hier seid. Aber seid versichert, dass Ihr zu spät kommt! Wir, die Zechonen haben uns mittlerweile so weit verbreitet, dass unser Herr, der Teufel MODROR, keinerlei Probleme mehr haben wird, dieses primitive Wesen namens DORGON zu übernehmen und zu vollenden, wozu Kosmokraten und Chaotarchen nicht fähig waren.«

»Was meint Ihr damit?«, fragte ich.

Prosperoh gähnte hingebungsvoll und betrachtete seine Fingernägel, bevor er fortfuhr. »Ihr seid so erbärmlich. Was ich meine? MODROR wird gewinnen. MODROR ist unser Teufel! Immer habe ich an ihn geglaubt. Aber wisst Ihr was? Ich muss nicht mehr an ihn glauben, denn ich weiß mittlerweile, dass er existiert. Was gibt es für eine größere Erfüllung? Aber wie kann ich das jemand Kleingläubigem wie Euch erzählen …«

Prosperoh hatte sich so in Rage geredet, dass er nicht mehr auf mich Acht gab. Das war die Chance, auf die ich gewartet hatte! Aus dem Stand hechtete ich nach vorn und versuchte, Prosperoh in die Hände zu bekommen.

Genau in diesem Moment verwandelte sich der Zechonen-Prinz in einen fünf Meter langen schwarzen Drachen. Das Untier bestand aus Schuppen und freiliegendem Gerippe. Nichts Lebendiges war mehr an ihm, nicht einmal totes Fleisch. Trotzdem – der Verwesungsgeruch raubte mir fast die Besinnung. Dann traf mich der mörderische Schlag seiner Tatze und ich flog bis an den Rand des Thronsaales. Nur mit Mühe gelang es mir, bei Bewusstsein zu bleiben.

DU LEGST DICH NICHT MIT MIR AN!, donnerte die Stimme Prosperohs durch meine Gedanken, während er sich in das so unscheinbare Männlein zurückverwandelte. Er grinste. EIGENTLICH SOLLTE ICH DICH SOFORT TÖTEN!

»Aber ich will gnädig sein«, fuhr er akustisch fort, nachdem seine Rückverwandlung beendet war. »Schließlich soll mein Volk auch seinen Spaß haben. Sanna Breen … ja, ich weiß, dass sie keine Jungfrau mehr ist, aber wir wollen das ja nicht so eng sehen. Sie kommt in meinen Jungfrauenhort und du, Atlan, wirst zur Belustigung meines Volkes in der Arena gegen eines meiner süßen Haustiere kämpfen …«

Ich konnte mir genau vorstellen, was dieses Ekelpaket unter süßem Haustier verstand, aber leider sah ich nach wie vor keinerlei Möglichkeit zur Flucht. Im Gegenteil, mein gescheiterter Angriff auf Prosperoh saß mir so tief in den Knochen, dass ich mir wünschte, in den nächsten drei Wochen kein Glied mehr rühren zu müssen. Als Prosperohs Häscher mich nach draußen schleppten, wurde ich bewusstlos.

3. Wirklich oder unwirklich?

Lang ausgestreckt und gefesselt lag Icho Tolot in einer Hütte und starrte dumpf an die dunkle Decke.

Das ist nun also das Ende, dachte er traurig. Ein Haluter, gefangen im schwachen Körper eines Humanoiden. Allein und hilflos, festgesetzt durch Häscher, die mir normalerweise keine Probleme bereiten würden.

Er ließ die Menschentränen wieder fließen und störte sich nicht daran, dass er so etwas bisher nur gesehen hatte. Doch er war jetzt kein Haluter mehr, also ging das Weinen auch bei ihm.

Plötzlich stutzte Icho Tolot. Er weinte völlig selbstverständlich, weil er sich als Mensch und nicht als Haluter verstand. Daher klappte es! Was hatte Sanna Breen noch mal über das Altern und Sterben in dieser Traumwelt gesagt?

Du bist hier, was du sein willst. Wenn dein Unterbewusstsein dir vorgaukelt, erschöpft sein zu müssen, dann bist du es auch! Du kannst hier auch altern und sterben, wenn du dir nicht ständig bewusst machst, dass du es eben nicht kannst.

War das der Schlüssel? Musste er sich einfach nur vorstellen, wieder ein Haluter zu sein, und er wäre wieder einer? Aber wie sollte er sein Unterbewusstsein beeinflussen können? Wenn er doch nur auf sein Planhirn zurückgreifen könnte!

Tolot schloss die Augen und versuchte, sich intensiv vorzustellen, wie er auf seinen Laufarmen durch die Landschaft Haluts lief. Es gelang ihm so intensiv, dass er den Wind an seinem Bart vorbeiziehen spürte.

Bart? Er brüllte zornig auf. Er war ein Haluter! Er hatte gar keinen Bart!

Resigniert ließ er den Kopf wieder zu Boden sinken. So klappte das nicht. Hatte Sanna nicht auch gesagt, dass Atlan, Osiris und er die Umwelt hier nicht beeinflussen können, weil sie kein Teil von DORGON seien?

Icho Tolot stöhnte verzweifelt auf. Zum ungezählten Mal zerrte er an seinen Fesseln und zum ungezählten Mal stellte er fest, dass er sich nicht befreien konnte.

Schließlich gab er auf. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht sollte er mit einer Kleinigkeit anfangen.

Er schloss die Augen und versuchte mit aller Konzentration, zu der er momentan fähig war, sein drittes Auge zu öffnen. Er schaltete alle anderen Gedanken aus, nur noch das mittlere Auge existierte für ihn. Er konnte förmlich spüren, wie seine Stirn zu prickeln begann. Aber es blieb dunkel. Tolot widerstand dem Verlangen, die anderen beiden Augen zu öffnen. In seiner Vorstellung existierte nur sein Stirnauge.

Plötzlich sah er die Decke der Hütte!

Icho Tolot schrie seinen Triumph heraus. Er hatte es geschafft!

Ob es auch mit seinen Brustarmen funktionieren würde?

Wieder konzentrierte er sich und dachte an nichts anderes als an seine Brustarme, bis die Stellen, an denen die Arme ansetzten, zu prickeln anfingen.

Dann konnte er sein zweites Armpaar spüren. Er hatte tatsächlich den Dreh herausbekommen.

Mit vier Armen stellte es für ihn kein Problem mehr dar, seine Fesseln zu zerreißen. Nun hielt ihn nichts mehr. Nach nur einer weiteren Konzentrationsphase, in der er sich vorstellte, wieder zu wachsen und seine ursprüngliche Gestalt einzunehmen, schrumpfte die Hütte um ihn herum zusammen.

Dann stand er dort: Drei Meter fünfzig groß, von schwarzer Haut bedeckt, drei Augen im halbkugeligen Schädel mit großem Gebiss, vier Arme und zwei Beine in einem roten Kampfanzug, wie ihn alle Haluter trugen.

Tolot stieß einen donnernden Triumphschrei aus, ließ sich auf seine Arme herab und rannte eine der Außenwände einfach zusammen. Die Zechonen, die davor gewacht hatten, flüchteten zur Seite.

Icho Tolot lachte. Lange hatte er sich nicht so gut gefühlt.

*

Nach einigen Kilometern, als er sich sicher war, alle Verfolger abgeschüttelt zu haben, wurde ihm bewusst, dass er gar nicht wusste, wo er nach Osiris und Atlan suchen sollte. Wie mochte es ihnen inzwischen ergangen sein?

Eigentlich blieb ihm nur ein Ort, an dem er ansetzen konnte.

Abrupt blieb der Haluter stehen. Wollte er wirklich zum Gasthaus zurück? Dort, wo er eine der grausamsten Szenen seines Lebens miterleben musste? Nein, das konnte er nicht tun.

Was, wenn Hackibrai und seine Leute noch da waren? Er zerbröselte einen Stein zwischen seinen Händen. Wenn er die Schinder träfe, würde er die beiden Mädchen rächen. Ganz sicher würde er das tun – doch das war eines Haluters unwürdig.

Besorgnis erfüllte ihn. Wer sollte sich um die beiden kümmern? Die Zechonen hatten den Vater umgebracht. Sicherlich hatten sie sich irgendwo in eine Ecke gekauert und fürchteten um ihr Leben. Ganz allein!

Nein, so etwas konnte er niemandem antun. Er musste die beiden Jugendlichen beschützen!

So schnell er konnte, machte er sich auf den Weg.

*

Als das Gasthaus in seinem Blickfeld auftauchte, konnte er ein Zittern seiner Beine nicht verhindern. Hier war es also gewesen. Einsam und scheinbar verlassen stand das Gebäude im fahlen Licht der Nacht. Die Bäume kamen Icho Tolot kahl und verdorrt vor. Traurig hingen die Fensterläden schief in ihren Verankerungen. Die Tür des Gebäudes stand weit offen. Innen war alles dunkel.

Behutsam näherte er sich dem Eingang, schlich nahezu. Wie würde er sie vorfinden? Lebten sie noch? Waren sie geflohen?

Tolot stutzte. Irgendetwas stimmte nicht, war anders als vor einigen Stunden. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Bei ihrer Ankunft am Abend hatte er noch die menschliche Gestalt besessen und war dadurch viel kleiner gewesen. Ob es ihm wieder gelingen würde, die Gestalt des blonden Hünen anzunehmen?

Nein! Das würde er nicht über sich bringen, zu negativ belegt war dieses Aussehen. Aber vielleicht gelang es ihm, nur seine Größe zu ändern.

Icho Tolot setzte sich auf den Boden, schloss die Augen und versuchte, sich wie in seinem Gefängnis wieder zu konzentrieren. Er fokussierte sein gesamtes Denken auf die Verkleinerung.

Du musst kleiner werden!, hämmerte er sich ein. Musst kleiner werden! Kleiner werden! Kleiner …

Nach einer Weile öffnete er ein Auge, um das Ergebnis zu kontrollieren, aber die Eingangstür war immer noch viel zu klein. Offensichtlich hatte es nicht geklappt. Was hatte er vorhin nur anders gemacht? Tolot versuchte, noch einmal genau nachzuvollziehen, was er genau getan hatte.

Er hatte sich die entsprechenden Körperteile genau vorgestellt und sie gefühlt.

Der Haluter holte noch einmal tief Luft, dann konzentrierte er sich erneut. Er ließ sein Empfinden jeden Quadratzentimeter seiner Haut entlang laufen. Erst die Zehenspitzen, dann die Fersen, Unterschenkel und Oberschenkel. Die Fingerkuppen aller zwanzig Finger, dann die vier Hände, die Unterarme und Oberarme. Zuletzt tastete er gedanklich seinen Torso und seinen Kopf ab. Als er sich seiner Körperoberfläche völlig bewusst war und diese intensiv spüren konnte, zog er seine Aura auf einen Schlag zusammen.

Noch bevor er die Augen öffnete, wusste er, dass es funktioniert hatte. Die Türöffnung war auf eine solche Größe angewachsen, dass er bequem durchgehen konnte. Er schätzte seine neue Körpergröße auf etwa einen Meter fünfundsiebzig, also gut die Hälfte seiner eigentlichen Gestalt.

Entschlossen trat er in den Eingang, doch dann kam die Unsicherheit zurück. Vorsichtig spähte er in den Schankraum, doch von den Zechonen-Kriegern war nichts mehr zu sehen – von Atlan und Osiris allerdings auch nicht. Vor dem Durchgang in die Küche lag noch immer der ermordete Wirt, von dessen geplatztem Schädel ausgehend sich mittlerweile eine große Blutlache auf dem Lehmboden ausgebreitet hatte.

Wo mochten dessen Töchter sein?

Behutsam schlich Tolot durch den Raum und wagte einen vorsichtigen Blick in die Küche. Nichts. Also blieb nur das obere Stockwerk mit den Schlafräumen. Er bemühte sich, leise zu sein, doch das Knarren der Treppe kam ihm unendlich laut vor.

Er hatte etwa zwei Drittel der Stufen hinter sich gebracht, da hörte er ein leises Wimmern aus dem oberen Korridor. Das mussten die Kinder sein, oder zumindest eines der beiden.

Vorsichtig schob er seinen Kopf in den Gang – und genau auf dieselbe Art kam ihm ein Mädchenkopf aus einer Zimmertür entgegen. Tolot sah, wie sich das verheulte Gesicht in unendlichen Schrecken weitete, wie die Gesichtszüge entgleisten und sie den Mund öffnete, um danach einen markerschütternden Schrei auszustoßen. Sofort war der Kopf wieder verschwunden.

»Frenja!«, brüllte sie. »Da … da draußen ist ein Dämon. Die bösen Leute haben uns einen Dämon aufgehetzt, der uns nach Vater auch noch töten soll. Renne so schnell du kannst!«

Icho Tolot hörte ein Poltern, dann war Ruhe.

Sofort rannte er in das Zimmer, konnte aber nur noch die beiden Kinder in ihrer zerschlissenen Kleidung und barfüßig in den Wald rennen sehen.

Hätte er doch nur wieder die Menschengestalt angenommen! Alles ging schief, seit sie in DORGON waren! Der Haluter erkannte sich selbst nicht wieder.

Verzweifelt ließ er sich auf den Boden sinken und grollte traurig.

4. Die Arena

Atlan

Die Arena befand sich außerhalb der Stadt direkt am Ufer eines reißenden Flusses. Inmitten des Flusses ragte ein Turm auf, der oben mit einem großen, fremdartigen Gesicht geschmückt war. Es schien mich zu verhöhnen, weil ich die einzige Chance verpatzt hatte.

Ich fluchte unterdrückt. Warum war hier nur alles so undurchschaubar? Warum änderten alle Leute hier ständig ihre Gestalt oder ihre Umgebung – nur, um mich zu ärgern?

Der Kerl, der mich mit seinen Pranken gleich einem Schraubstock festklammerte, drückte etwas fester zu. Sofort hielt ich wieder den Mund.

Wie ich es auch drehte und wendete, ich sah momentan keinerlei Fluchtmöglichkeit. Wenn ich doch nur einen Strahler gehabt hätte! Einen harmlosen Paralysator oder meinetwegen einen Nadler. Damit wäre ich in dieser mittelalterlichen Horrorwelt unschlagbar gewesen. Wirklich? Nach allem, was ich bisher gesehen hatte, schienen die Zechonen beliebig auf ihre Umgebung Einfluss nehmen zu können. Eine Macht, die hier Magie gleichkam – und mir nicht zur Verfügung stand.

Mein Peiniger, der mich immer noch trug, hatte inzwischen die Arena erreicht. Er warf mich mit Schwung in eine Art Zelle, dann sauste auch schon das Fallgitter herab.

»Und jetzt?«, brüllte ich ihm hinterher. »Sollte ich nicht irgendwie kämpfen? Womit denn?«

Aber er lachte nur und verschwand.

Ich schaute mich um. Meine Zelle enthielt absolut nichts, nicht einmal Staub auf dem Boden, nur kaltes Gestein und das Fallgitter, das mir den Weg nach draußen versperrte. Ich ersparte mir den Versuch, es anheben zu wollen, denn mir war klar, dass es entsprechend gesichert war.

Frustriert ließ ich mich zu Boden sinken. Diese ganze DORGON-Expedition schien immer mehr in einem Fiasko zu enden. Ich wusste, warum ich direkt ein schlechtes Gefühl gehabt hatte. Was konnten wir drei auch schon gegen ein ganzes, von MODROR entsprechend konditioniertes Volk ausrichten?

Ich lachte gehässig auf. Wir drei … inzwischen war ich ja allein. Icho Tolot saß vermutlich immer noch mit versteinerter Miene in diesem Gasthaus und Osiris ging irgendwelchen Gespenstern nach, anstatt sich um konkrete Probleme zu kümmern.

Ein sehr konkretes Problem war etwa, Sanna Breen aus diesem ominösen Jungfrauenhort zu retten. Was mochte Prosperoh wohl darunter verstehen? Einen Harem, der ihm oder der Gesamtheit dieser rotgefärbten Zechonen zur Verfügung stand? Aber warum dann Jungfrauen? Nein, das war nicht perfide genug. So pervers, wie ich die Zechonen bisher kennengelernt hatte, würden sie mit den Frauen irgendeine Abscheulichkeit vorhaben.

Ich schluckte. Hatte nicht Prosperoh bewiesen, dass er in der Lage war, sich in einen Drachen zu verwandeln? Und was machten Drachen in den Sagen? Sie entführten Jungfrauen oder fraßen sie ganz einfach auf. Vermutlich gab es derlei Legenden auch bei den Zechonen – oder aber MODROR hatte sie ihnen eingetrichtert.

Sanna Breen – verspeist von einem geisteskranken Zechonen!

Ich sprang auf und rüttelte jetzt doch an dem Gitter. Ich musste sie da rausholen, sofort!

Zwecklos!, erkannte der Extrasinn lapidar. Das Gitter bewegt sich keinen Millimeter.

Dann mach doch einen besseren Vorschlag!, gab ich genervt zurück.

Och, das ist einfach: Spare deine Kräfte, besiege den Gegner, den Prosperoh für dich ausgesucht hat, dann flüchte aus der Arena, rette Sanna Breen und töte Prosperoh.

Na super, wenn es weiter nichts ist. Bis auf den letzten Punkt bekomme ich vermutlich sogar alles hin, aber wie sollen wir Prosperoh ausschalten, wo er ja anscheinend jede beliebige Gestalt annehmen kann?

Da bin ich momentan leider auch überfragt.

Ich lachte hämisch. Das sollte jetzt also mein schöner Logiksektor sein. Offenbar litt auch er unter dieser Umgebung.

Das ist richtig, fühlte er sich offensichtlich herausgefordert. Aber anscheinend hast du gar nicht mitbekommen, dass ich dich davor bewahrt habe, wieder der aggressiven Ausstrahlung dieses Ortes zu unterliegen.

Das stimmte sogar, wie ich mir eingestehen musste. Ich ließ das Gitter endgültig los und setzte mich wieder hin. Eine Dagor-Meditationstechnik sollte mir neue Kräfte geben, bis die Zechonen mich abholten.

*

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann hörte ich Schritte und anschließend, wie das Gitter hochgezogen wurde.

»Mitkommen!«, fauchte eine Stimme. »Dein Kampf steht an. Wie schade, dass du ihn nicht überleben wirst.«

Ich öffnete die Augen. Vor mir stand einer der rothäutigen Zechonen. Er war in ein pompöses Wams gekleidet, dass seinen nicht gerade schlanken Körper wie eine Wurstpelle einfasste. Direkt hinter ihm stand der kräftige Kerl, der mich hier abgeliefert hatte.

Gehorsam stand ich auf und folgte dem Roten. Der bullige Zechone blieb immer einen halben Schritt hinter mir. Ich war mir sicher, dass jede falsche Bewegung sehr schmerzhaft für mich werden würde.

Schließlich gelangten wir in einen Korridor, der direkt in den Innenraum der Arena zu führen schien.

»Soll ich meinem Gegner unbewaffnet entgegentreten?«, fragte ich beiläufig, denn bisher hatte ich keinerlei Waffe bekommen.

»Ja«, antwortete mein Führer schlicht. »Nachher passiert noch ein Unglück und du überlebst den Kampf. Dieses Risiko müssen wir ausschließen.«

Er zog das Gitter, das den Weg in den Innenraum versperrte, empor. Dann bekam ich einen mörderischen Schlag in den Rücken, der mich einige Schritte weit auf den Kampfplatz schleuderte.

Missmutig erhob ich mich und klopfte den Staub aus meiner Kleidung. Die Ränge, die sicherlich einige zehntausend Zechonen fassten, waren beinahe lückenlos gefüllt. Prosperoh schien alle seine Artgenossen zu diesem Schauspiel zusammengetrommelt zu haben. In einer übertriebenen Loge, gegen die sogar die Kaiserloge in der flavischen Arena – besser bekannt als Kolosseum – schlicht aussah, räkelte sich das rote Männchen.

Ich hielt auf direktem Weg auf die Loge zu und baute mich breitbeinig davor auf.

»Ave, Caesar, morituri te salutant!«, rief ich ihm gehässig zu. Ich war zwar allein und der Satz unter römischen Gladiatoren längst nicht so verbreitet gewesen, wie spätere Generationen immer angenommen hatten, doch hier erschien er mir sehr passend.

Prosperoh machte eine wegwerfende Bewegung. »Atlan! In meiner unendlichen Güte …«, rief er so laut, dass seine Stimme durch die gesamte Arena hallte, und fuhr dann flüsternd fort, sodass nur ich ihn verstehen konnte, »… und natürlich, um meinen Leuten ein eindrucksvolleres Schauspiel als nur ein langweiliges Abschlachten zu bieten …«, jetzt brüllte er wieder, »… habe ich mich entschlossen, dir doch eine Waffe zu geben.«

Die Menge jubelte, als er mir eine Klinge herabwarf. Ich fing die Waffe problemlos auf. Es war ein Kurzschwert, oder besser ausgedrückt ein etwas zu lang geratener Dolch.

»Vielen Dank für diesen Zahnstocher!«, rief ich ihm sarkastisch zurück.

Du solltest zufrieden sein, mischte sich mein Extrasinn ein. Immerhin haben sich jetzt deine Überlebenschancen gewaltig erhöht.

Noch kennen wir unseren Gegner nicht, gab ich zurück.

Doch!, antwortete meine innere Stimme. Schau!

Ich hob meinen Blick und erstarrte. Das besagte Haustier entpuppte sich als fast drei Meter großes Monstrum, das auf eitergelben Vogelbeinen herangestapft kam. Aus dem feisten Körper, der von einem riesigen Schnabel, wie ihn Kraken besaßen, dominiert wurde, wuchsen nicht weniger als fünf Tentakel und vier Hörner heraus. Die Länge der Tentakel schätzte ich auf gut zwei Meter. In Anbetracht dessen war mein Kurzschwert nicht das Geringste wert. Ich fluchte.

Das Wesen rannte mit beängstigendem Tempo auf mich zu und stieß einen gewaltigen Kampfschrei aus. Mich umwehte ein Geruch, der mich sehr an Schwefel erinnerte.

Ich umfasste den Griff meiner Waffe mit beiden Händen, stellte mich breitbeinig hin und ließ meinen Gegner auf mich zu rennen. Im letzten Moment sprang ich zur Seite und zog die Waffe durch. Ein Tentakel traf mich voll und presste mir die Luft aus den Lungen. Schmerzhaft schlug ich auf. Das Publikum jubelte.

Innerhalb von einer Sekunde stand ich wieder auf den Beinen. Wo war mein Gegner? Ich wirbelte herum. Mit Genugtuung erkannte ich, dass ich ebenfalls getroffen und einen der Tentakel abgetrennt hatte. Doch was war das? Wuchs er etwa nach? Ich schauderte. Wie sollte ich so einen Gegner besiegen?

Die Kreatur griff ein weiteres Mal an. Wiederum wollte ich ausweichen, doch diesmal schien es meine Reaktion erwartet zu haben. Ich fühlte mich von zwei der Fangarme gepackt und empor gehoben. Sofort hieb ich mit meinem Schwert auf einen Tentakel ein, doch ich konnte nicht verhindern, dass ich dem Schnabel immer näher kam. Dann biss das Biest zu. Der Schmerz war fürchterlich. Gequält schrie ich auf. Mit aller Kraft, zu der ich fähig war, schlug ich mit meinem Schwert nach dem Tentakel, der meinen Körper umklammert hielt. Endlich kam ich frei. Das Monster fauchte, die Menge applaudierte.

Dieses Mal brauchte ich zwei Sekunden, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich spürte, wie mich meine Kräfte verließen. Die klaffende Wunde am Bein, die der Schnabel gerissen hatte, blutete fürchterlich. Noch so eine Attacke würde ich nicht überstehen.

Leicht schwankend stellte ich mich wieder dem Monstrum entgegen. Es brachte seine Tentakel in Kampfposition und schien mich diesmal direkt mit dreien gleichzeitig angreifen zu wollen. Sofort wich ich zurück, doch es folgte mir.

Dann flog ein Körper an mir vorbei und rammte meinen Gegner mit voller Wucht, sodass er einige Meter zurück flog. Erschöpft ließ ich mein Schwert sinken und versuchte zu erkennen, wer mir das Leben gerettet hatte. Es war eine kleine, gedrungene Gestalt in einem roten Anzug.

»Atlan, lauf!«, brüllte sie mit Tolots Stimme, jedoch um mindestens eine Oktave zu hoch.

War das wirklich mein Haluter-Freund? Irritiert starrte ich das Wesen an, das mindestens ein Kopf kleiner war als ich.

»Worauf wartest du denn noch? Schnell, er kommt gleich zu sich.«

Ich war immer noch völlig irritiert. »Tolotos?«

Der kleine Haluter sprang auf, packte meine Hand und riss mich mit sich. Er stürmte unter dem lauten Protest der Zuschauer zu einer Lücke in der Wand, die vor wenigen Augenblicken definitiv noch nicht da gewesen war. Hinter mir vernahm ich das Brüllen meines Widersachers. Die Kampfmaschine musste uns dicht auf den Fersen sein.

Schließlich hatten wir den Durchgang erreicht. Sofort schlug irgendjemand hinter uns die Geheimtür zu. Nur einen Augenblick später hörte ich, wie das Tentakel-Biest dagegen rannte.

Erst jetzt wagte ich, durchzuatmen und mich umzudrehen. Neben dem kleinen Haluter standen zwei Mädchen, von denen eines eine Fackel trug. Sie waren ausgemergelt und bleich, aber ihre Augen strahlten glücklich.

»Darf ich vorstellen?«, erklang Icho Tolots viel zu hohe Stimme. »Frenja und Zibilja.«

»Die Kinder des Wirts«, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu dem Haluter.

»Ja«, bestätigte Tolot meine Vermutung. »Wir haben uns etwas angefreundet.«

»Wir haben früher in dieser Stadt gelebt«, berichtete die Ältere der beiden. »Bis Prosperoh und seine Zechonen kamen. Vater dachte, mit der Herberge wären wir weit genug von ihrem Einfluss entfernt. Aber …« Sie brach ab und ihre jüngere Schwester schniefte.

»Wir müssen weiter«, brach Icho Tolot das Gespräch ab. »Die Zechonen werden bald einen Weg hier herein finden.«

Als wir, von Frenja geführt, durch die Gänge rannten, fuhr Tolot fort: »Ich habe ihnen geholfen, ihren Vater zu beerdigen. Leider war es etwas ungeschickt gewesen, ihnen in meiner Halutergestalt gegenüberzutreten, aber nun vertrauen sie mir.«

Ich nickte. »Wir müssen Sanna Breen befreien. Sie wird in Prosperohs Burg in einem Jungfrauenhort gefangen gehalten.« Ich wandte mich an die Mädchen. »Kennt ihr einen Weg in die Burg?«

Frenja schien zu überlegen. »Prosperoh hat die goldene Burg erst erbaut, nachdem er die Stadt erobert hatte, aber es dürften noch genug Wege in die Nähe führen … Allerdings müssen wir dann mitten durch den Molchenberg.«

Ihre Schwester Zibilja blickte sie entsetzt an. »Mitten durch?«

Frenja nickte.

»Was ist so schlimm daran?«, wollte ich wissen.

»Was meinst du, wo der Shruuf herkam, gegen den du kämpfen musstest? In den Katakomben des Berges gibt es noch viel fürchterlichere Sachen. Vor allem jetzt, da die Umgebung böse geworden ist.«

»Früher konnte man da wohl gefahrlos hinunter?«, vermutete ich.

»Ja, aber angenehm war es trotzdem nicht, sehr unheimlich … Hier entlang.«

Ich vernahm weit hinter uns ein Bersten. Die Zechonen hatten unseren Fluchtweg entdeckt. Fluchend trieb ich unsere Wegweiserinnen zur Eile an, obwohl wir bereits so schnell liefen, wie es mir mit meiner Verletzung möglich war.

Tolot bemerkte dies und hob mich hoch. »Du musst dir deine Verletzung wegdenken!«

»Wie, wegdenken?«, fragte ich verständnislos nach.

»Schau mich an!«, forderte er. »Ich bin nicht nur wieder ein Haluter, sondern es gelang mir auch, meine Größe zu reduzieren. Du musst dich einfach nur sehr stark darauf konzentrieren, dann geht das. Allerdings ist es uns nur möglich, unser Erscheinungsbild in dieser Welt zu ändern, nicht die Welt selbst, wie es DORGONS Bewohner und die Zechonen können.«

Ich versuchte kurz, mittels Konzentration meine Wunde verschwinden zu lassen, brachte jedoch nicht die nötige Ruhe auf. Das würden wir später klären müssen. Kommentarlos riss ich einen Teil meines Ärmels ab und verband meinen Unterschenkel damit. Solche Dinge waren mir ohnehin lieber als der Hokuspokus, der in diesen Traumwelten herrschte.

Frenja hatte uns inzwischen in eine Kammer geführt, die von verschiedenen, abgetrennten Separees beherrscht wurde, und schien zu überlegen, wo wir unseren Weg fortsetzen mussten. Ich blickte mich um. Über jedem Vorhang war eine Plakette mit einem Gegenstand angebracht. Ich sah etwa ein Horn, eine Harfe, eine Standarte und einen Spiegel. Da Tolot mich heruntergelassen hatte, wollte ich neugierig den Vorhang unter der Abbildung des Spiegels zur Seite ziehen, doch Zibilja riss meine Hand weg.

»Nein, nichts anfassen!«, redete sie beschwörend auf mich ein. »Diese Gegenstände sind böse! Spürst du es nicht?«

Ich schüttelte bedauernd den Kopf. Wieder einmal erkannte ich, dass ich hier nicht hingehörte. Warum hatte Tolot weniger Probleme damit, sich einzufinden?

»Hier ist es!«, rief in diesem Moment Frenja. »Ich habe endlich den Hebel gefunden.«

Sie legte einen großen Schalter um, dann öffnete sich über uns eine Klappe, durch die ich einen Teil des Sternenhimmels sehen konnte.

»Schön«, meinte ich. »Und wie kommen wir da hinauf?«

Zibilja konzentrierte sich kurz, dann bemerkte ich, wie eine Liane mit unfassbarem Tempo in unser Verlies hinabwuchs. Fassungslos starrte ich das Mädchen an. Irgendwie wurde mir alles immer unheimlicher.

Entschlossen griff ich zu und kletterte die Ranken hinauf. Oben angekommen half ich den Mädchen und Tolot aus dem Loch. Wir befanden uns in einem Burghof, der über und über mit den merkwürdigsten Pflanzen bewachsen war. Unmittelbar dahinter ragten die goldenen Mauern von Prosperohs Festung auf.

»Wie kommen wir da hinein?«, wollte Icho Tolot wissen, doch unsere beiden Begleiterinnen konnten nur bedauernd den Kopf schütteln.

Ich wog das Kurzschwert in meiner Hand. »Da bleibt uns wohl nur der rabiate Weg.«

»Nein!«, rief Frenja. »Ihr könnt nicht handeln wie sie. Ihr dürft das nicht!«

Die beiden begannen zu weinen. Ich hatte völlig vergessen, dass es immer noch Geschöpfe DORGONS waren, zu keiner aggressiven Handlung fähig.

Ich nahm beide in den Arm. »Hört mir zu: DORGON persönlich hat uns geholt, damit wir ihn und damit euch alle vom Virus Prosperoh befreien, der euer Land vergiftet und die Leute zu dumpfen Untoten macht. Wir sind hier, weil wir kein Teil eurer Gemeinschaft sind und damit Dinge tun können, die euch nicht möglich sind, etwa kämpfen. Versteht ihr?«

Die Mädchen schüttelten synchron den Kopf.

Ich seufzte. »Es tut mir furchtbar leid, euch das sagen zu müssen, doch wir sollten uns hier und jetzt trennen. Alles, was wir nun tun müssen, wird euch nicht gefallen. Von daher ist es besser so.«

Icho Tolot hockte sich neben uns. »Atlan hat recht, so leid es mir tut. Mit den Tricks, die ich euch verraten habe, werdet ihr euch bestimmt zukünftig vor den Zechonen retten können. Aber vielleicht ist das gar nicht mehr nötig, falls wir hier und jetzt Erfolg haben. Versteht das bitte!«

Die beiden blickten uns traurig an, so traurig, wie mich vor einer halben Ewigkeit auch Hesinja angesehen hatte. Mir zerriss es fast das Herz, doch ich musste jetzt hart sein. Prosperoh, dieser Shruuf und die anderen waren hinter Tolot und mir her. Die beiden Kinder waren uns nur ein Klotz am Bein, da sie uns vermutlich noch von jedem Kampf abhalten würden und uns vor allem erpressbar machten, falls sie den Zechonen in die Hände fielen.

Nach einem unendlich langen Moment der Stille fassten sie sich an den Händen, schnieften noch einmal und winkten uns zu. Dann begannen sie, sich innerhalb weniger Augenblicke in zwei Gänse zu verwandeln, die gemächlich aus der Burg flogen. Lange blickte ich ihnen hinterher.

»Atlan!«, rief plötzlich Icho Tolot und riss mich dadurch aus meinen trüben Gedanken.

Der Haluter zeigte auf die Klappe, durch die wir gekommen waren. Dort war ein Tentakel aufgetaucht, dann noch einer und noch einer. Als ein Schnabel zu sehen war, musste ich fluchen. Der Shruuf hatte uns eingeholt und wir wussten immer noch nicht, wie wir Sanna Breen befreien konnten.

5. Flucht

Atlan

Ich sprang auf, um zum Haupteingang der Burg zu rennen, doch meine Wade schmerzte immer noch so sehr, dass es bei einem Humpeln blieb. Inzwischen war mir alles egal. Ich wollte nur rein und Sanna holen. Irgendwie würde uns schon eine Fluchtmöglichkeit einfallen.

Der Eingang wurde von vier breitschultrigen Zechonen-Schlägern bewacht. Ich hob das Schwert und rannte laut brüllend auf sie zu. All die Grausamkeiten und Gräueltaten, die ich auf dieser Welt mitansehen musste, legte ich in meine Schläge.

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Icho Tolot. Er wütete wie ein Berserker in den Reihen der Palastgarde. Nach wenigen Minuten gingen uns die Gegner aus. Wir hatten die Zechonen besiegt, die nicht mit echter Gegenwehr gerechnet hatten.

»Weiter!«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Wir betraten die Pyramide.

Die Treppe hinauf in Prosperohs Thronsaal kannte ich bereits, doch beim Hochsteigen zweigten Wege nach rechts und links ab. Welcher war der richtige?

Ohne rationalen Grund entschied ich mich für links. Ich humpelte den Korridor entlang, mit dem Schwert voraus sichernd.

An einer Ecke stieß ich mit einem zusammen, der mir entgegen kam. Sofort riss ich das Kurzschwert hoch, um zuzustechen, da erkannte ich mein Gegenüber.

»Osiris«, keuchte ich fassungslos. »Was machst du denn hier?«

»Sanna Breen retten«, antwortete der Kemete lapidar. »Und ihr?«

»Dasselbe«, gab ich zu. »Du warst aber schneller.«

Osiris hatte die immer noch bewusstlose Sanna in ein Gestell gesetzt, dass er mühelos auf dem Rücken trug. Der Kemete, geboren vor ca. 260.000 Jahren, war ein Meter zweiundneunzig groß und muskelbepackt. Sein schwarzes, langes Haar und sein kantiges Gesicht verliehen ihm den Ausdruck unbedingter Entschlossenheit. Er war eine eindrucksvolle, charismatische Erscheinung, der Sannas Rettung unbedingt zuzutrauen war. Selbst in dieser irrsinnigen Welt, in der Gedanken wahr wurden.

Wir fuhren herum, als wir hinter uns ein lautes Fauchen vernahmen. Der Shruuf!

»Was ist das?«, entfuhr es Osiris.

»Erzähle ich dir später! Kennst du einen guten Weg hier hinaus?«

Osiris nickte. »Schnell, hier hinein.«

Er verschwand durch die nächstbeste Tür. Ich folgte ihm und gelangte in einen winzigen Raum, in dem es nach Fäkalien roch. Osiris hatte uns geradewegs in die Latrine geführt.

Der Kemete zuckte mit den Achseln. »Toiletten sind so gut wie jeder andere Fluchtweg. Ihr müsst euch genau auf diese Gegenstände konzentrieren.« Er deutete auf etwas, was mich frappierend an Klobrillen erinnerte.

Verständnislos starrte ich ihn an. »Hinter uns ist der Shruuf her! Ich finde, du solltest mit einem konkreteren Fluchtweg aufwarten.«

Osiris verdrehte genervt die Augen. »Die Gegenstände sind der Schlüssel. Damit können wir eine andere Welt erreichen. Das Bindeglied, der Transmitter, das Wurmloch – wie auch immer du dir das vorstellen willst. Konzentriere dich auf den Gegenstand, trete hindurch und du kommst bei einem ähnlichen Objekt in einer anderen Welt wieder zum Vorschein. Ich habe das herausgefunden, als ich Rodrom gesucht habe!«

Langsam dämmerte mir, worüber der Kemete sprach. Allerdings verstand ich nicht, warum alle anderen besser mit DORGONS Welt zurechtkamen als ich.

Hm – vielleicht weil die beiden nicht ihren Aufenthalt in irgendwelchen Käfigen oder Zellen verbracht haben?, spottete mein Extrasinn.

Da hatte er recht. Ich beobachtete, wie Osiris die Augen schloss und direkt in ein Klo sprang. Ein Augenzwinkern später war er verschwunden. Tolot tat es ihm gleich.

Wenn das mal gut geht …, dachte ich angewidert, doch die durch die Tür greifenden Tentakel ließen mir keine Wahl. Ich stellte mir die Klobrille als einen Transmitterbogen vor und wünschte mir angestrengt, Osiris und Tolot gleich wiederzusehen. Dann hielt ich die Luft an und stürzte mich direkt ins Plumpsklo.

Ich spürte Tentakelspitzen über meinen Rücken streifen. Dann waren sie plötzlich verschwunden. Es kam auch kein Aufklatschen in einer ekelhaften Brühe.

Stattdessen öffnete ich die Augen und stieß erleichtert die Luft aus. Ich befand mich in einer WC-Kabine, die im Gegensatz zum mittelalterlich angehauchten Abort sehr gepflegt wirkte, allerdings immer noch Welten von einer modernen Nasszelle entfernt war. Es schien, als sei die Welt, in der wir nun gelandet waren, eher zu Beginn des Solaren Imperiums zu verorten.

Osiris und Tolot hatten das WC bereits verlassen, also beeilte ich mich, ihnen zu folgen. Direkt nach der Tür zu den Toilettenräumen gelangte ich auf einen kurzen Gang. Rechts herum schien eine Sackgasse zu sein, also wählte ich die linke Abzweigung, wo ich einige Treppenstufen hochsprang.

Danach befand ich mich in einem großen Raum, der mich an eine Gastwirtschaft erinnerte. Allerdings eine Wirtschaft der makabersten Sorte. Alles war in dunklen Tönen gehalten und die Wände mit Gerippen, Spinnenweben und Kerzen geschmückt. Unmittelbar vor mir befand sich eine Theke, die von schwarz gekleideten, aber jung wirkenden Gestalten gesäumt war.

Ihr solltet mal die Welt aufsuchen, aus der wir gerade kommen!, dachte ich voll triefendem Sarkasmus. Die wird euch bestimmt gefallen. Kein übertrieben auf Tod getrimmter Spaß, sondern der pure Ernst, inklusive Untoter, Dämonen und Schlagetots.

Erst jetzt fiel mir auf, dass alle in eine bestimmte Richtung starrten. Ich folgte dem Blick, obwohl mir klar war, dass das Objekt ihrer Aufmerksamkeit nur Icho Tolot sein konnte. Der Haluter wirkte auch in seiner verkleinerten Erscheinungsform auf viele Wesen abschreckend.

»Cooles Outfit!«, rief einer der Leute. »Wo hast du denn das her? Komm, ich gebe dir ein Bier aus!«

Mir verschlug es die Sprache. Aber andererseits war die Wendung, die unsere Flucht genommen hatte, nicht übel. Ich legte meinen Mitstreitern je eine Hand auf die Schulter und deutete mit dem Kinn auf eine Glastür genau am anderen Ende des Raums. Für mich sah das sehr nach einem Ausgang aus.

In diesem Moment ertönte hinter uns das hinlänglich vertraute Fauchen, direkt gefolgt vom Knall berstender Rahmen. Der Shruuf war uns gefolgt. Wieder flogen alle Köpfe in eine Richtung, doch dieses Mal in purer Panik. Der Shruuf arbeitete sich aus dem Korridor heraus, der für seinen großen Körper viel zu schmal war.

So hielt er sich nicht lange mit Feinheiten auf, sondern zertrümmerte, was in Reichweite seiner Tentakel kam, ohne uns aus den Augen zu lassen. Er riss ein Bierfass von der Theke und schleuderte es nach mir.

Panik brach aus und die Besucher dieser Gaststätte drängten zu der Tür, durch die wir gerade eben noch fliehen wollten. Das Bierfass traf einen der Gäste am Hinterkopf. Der Mann sackte in einem seltsamen Winkel zu Boden und holte dabei mehrere andere von den Beinen. Inzwischen war der Fluchtweg hoffnungslos blockiert.

Der Shruuf machte sich derweil an einigen Holzsäulen zu schaffen, die die Theke flankierten. Wenn er so weitermachte, würde hier bald alles zusammenbrechen. Ich hob das Schwert, fest entschlossen, mein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.

Osiris riss mich zur Seite und deutete auf eine kleine Treppe, die auf einen Balkon führte. Dort gab es eine Art Misch- oder Tonpult, aber keinerlei Türen. Ich blickte ihn irritiert an, bis ich begriff. Ein Musikgerät eignete sich für uns als Fluchtmöglichkeit. Ich nickte ihm zu und er rannte die Treppenstufen hinauf.

Oben angekommen riss er den dort positionierten, strohblonden Angestellten von den Beinen und warf ihn kurzerhand nach unten. Der Mann hatte dort starr vor Schreck gestanden und dem Shruuf dabei zugesehen, wie er die Theke zertrümmerte. Uns blieben vielleicht noch Sekunden, bis die Bestie bei uns war, da konnten wir keine Rücksicht mehr nehmen.

Osiris griff sich eine der Silberscheiben, die hier wohl als Datenträger benutzt wurden, konzentrierte sich und knallte sie sich an den Kopf. Es funktionierte! Er verschwand.

Während der Shruuf nach dem Balkon griff und diesen aus seinen Angeln riss, taten Tolot und ich es ihm nach. Es war buchstäblich Rettung in letzter Sekunde.

*

Alles war dissonant. Ich versuchte, mich in der neuen Welt zu orientieren, doch das war hoffnungslos. Schließlich vernahm ich inmitten der durcheinanderschrillenden Misstöne eine vertraute Melodie, dann noch eine. Erfreut ging ich eine Terz höher.

Die Melodie stimmte ein paar fragende Akkorde an und ich antwortete mit einer irritierten Tonfolge. Fragend ging die Melodie eine Oktave höher.

Plötzlich tauchte eine gewaltige, zerstörerische Klangfolge auf. Ich wechselte entsetzt in einen Achteltakt und wies meine befreundeten Sonaten an, das Tempo anzuziehen.

Dann war da plötzlich etwas Dumpfes, Absorbierendes. Ich schlug einen Akkord, um die anderen anzulocken, und dehnte mich im Klangkörper aus.

*

Ich fiel senkrecht – geradewegs aus einer Trommel. Was war das eben gewesen? Perplex blickte ich mich um. Wir befanden uns in einem Saal, wie er an Bord einiger größerer terranischer Raumschiffe für das Bordorchester üblich war. Befremdliche Erinnerungsfetzen trübten mein Denken. Waren wir gerade Musikstücke gewesen? Diese Welt wurde immer abenteuerlicher.

Osiris und Icho Tolot wirkten nicht minder befremdet als ich.

»Das war das Merkwürdigste, was ich jemals erlebt habe«, stellte Osiris fest.

Ich nickte. »Aber wenigstens gibt es hier genügend Fluchtmöglichkeiten und der Shruuf sollte eine Weile brauchen, die richtige Silberscheibe zu finden. Aber nun erzähle doch mal endlich, was du erlebt hast!«

»Ich hatte gesagt, dass ich Rodrom spüren kann«, sagte Osiris nachdenklich. Der Kemete wirkte, als erwache er aus einem Traum. »Ich folgte seiner Spur bis an den Rand der Schwarzen Lande, dort kam ich nicht weiter. Durch Ausprobieren kam ich schließlich auf den Trick mit den Gegenständen. Nun war es für mich einfach, der Spur zu folgen.« Er blickte mich beschwörend an. »Rodrom ist hier! Ich habe ihn gesehen. Frage mich nicht, was in NESJOR geschehen ist, aber er muss sich befreit haben. Und hier ist er praktisch allmächtig. Vergiss Prosperoh, Rodrom ist unser eigentliches Problem!«

Ich schwieg betroffen. Er hatte recht. Wenn Prosperoh für uns schon praktisch unbesiegbar war, wie sollten wir dann erst gegen Rodrom vorgehen können?

Ein lautes Scheppern kündigte unseren Verfolger an. Ich fluchte. Hatte man denn gar keine Zeit mehr zum Durchatmen?

Tatsächlich baute sich der Shruuf inmitten der Instrumente auf. Ich wollte mich gerade für eine Klarinette als neues Fluchtmittel entscheiden, da fauchte ein Thermostrahl über Osiris’ und meinen Kopf hinweg. Er fegte den Shruuf regelrecht von seinen Vogelbeinen. Das Monster blieb mit einem Loch im Körper reglos liegen.

Ich schaute irritiert in die Richtung, aus der der Strahl gekommen war. Dort stand Icho Tolot, einen Thermostrahler im Anschlag.

»Während ihr euch ungezwungen unterhalten habt, habe ich mal die Umgebung kontrolliert«, erklärte er.

Offenbar war der Haluter wieder der alte. Mich freute das ungemein.

»Wir sollten dennoch nicht länger hierbleiben«, sagte Osiris. »Lasst uns lieber in die Nähe der Schwarzen Lande zurückkehren.«

»Wie willst du denn da jetzt wieder hinkommen?«, fragte ich.

Osiris antwortete nicht, sondern gab mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich folgen sollte. Gemeinsam schritten wir die Gänge des Raumschiffs ab, wobei Osiris zwischenzeitlich immer stehen blieb und sich zu konzentrieren schien. Wieder einmal schien ihn sein Gefühl genau an den richtigen Ort zu führen.

Nach einigen Minuten hatte er sich schließlich für eine Topfpflanze in einer Kabine des Raumschiffs entschieden. Bisher waren uns keine Besatzungsmitglieder begegnet. Mich irritierte dies gewaltig, doch konnte ich diesem Mysterium momentan nicht nachgehen.

Osiris griff mit beiden Händen in die Blätter der Pflanze und war sofort verschwunden. Ich folgte ihm mit der eben bewährten Methode und fand mich in einer weiten, grünen Wiesenlandschaft wieder.

»Das sind aber nicht die Schwarzen Lande«, stellte ich fest, »viel zu farbig und freundlich.«

Osiris hob die Hände. »Das ist schon die richtige Welt, aber wir sind jenseits der Mauer. Wir müssen nur wieder den Weg zu Prosperohs Schloss finden. Er wird mit Sicherheit nicht damit rechnen, uns so schnell wiederzusehen. Außerdem haben wir ja jetzt Waffen.«

Ich nickte. Von Bord des Raumschiffs hatten wir alles mitgenommen, was wir an Schusswaffen finden konnten.

Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Ich dachte zunächst an einen Wetterumschwung, doch die Dunkelheit kam zu schnell, eher wie eine Sonnenfinsternis. Eine Welle von unbändigem Hass schwappte über meinen Geist. Ich sah in einiger Entfernung, wie einige Bauern, die unmittelbar zuvor noch völlig friedlich gewesen waren, mit ihren Werkzeugen aufeinander losgingen.

Auch die Tiere fielen einander an. Ich vernahm gellende Schreie. Sanna Breen war zu sich gekommen und tobte nach Leibeskräften. In kürzester Zeit hatte sie sich aus dem Tragegestell gekämpft und warf sich auf mich. Sie schlug, kratzte und biss, dass ich Mühe hatte, ihren Attacken auszuweichen.

Tolot zog sie von mir weg und hielt sie fest.

»Was ist das?«, rief ich entsetzt.

»Rodrom«, erklärte Osiris düster. »Er fängt an, DORGON zu übernehmen. Schau dich um. DORGON hat gerade einen Wutanfall bekommen, was sich auf alle seine Bewohner auswirkt. Ich befürchte, wir kommen zu spät.«

Doch wenige Minuten später war der Spuk vorbei. Die Feldarbeiter gingen wieder ihrer Arbeit nach, als wäre nichts geschehen, aber die Toten, die auf den Feldern lagen, straften ihr Verhalten Lügen. Auch die überlebenden Tiere waren wieder friedlich, doch überall lagen Kadaver herum.

»Atlan«, hörte ich Sanna flüstern. Sie war aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht.

Ich nahm ihre Hände. »Alles wird gut, wir werden Rodrom aufhalten.«

Doch sie schüttelte den Kopf. Ihre Stirn war schweißbedeckt und sie fröstelte. »Nichts wird gut. Der Wutanfall hat mich kontrolliert. Erinnere dich an das, was du mir versprochen hast.«

Was meinte sie damit? Doch nicht etwa …? Ich wich abwehrend zurück. »Sanna, nein!«

»Doch, Atlan!«, rief sie energisch. »Du hast es versprochen. Töte mich, sofort!«

6. Revelation

Der Engel des Abgrunds

Da gewahrte ich einen Stern, der vom Himmel auf die Erde gefallen war. Ihm wurde der Schlüssel zu dem Schacht gegeben, der in den Abgrund führt. Und er öffnete den Schacht des Abgrunds.

Da stieg Rauch aus der Tiefe wie aus einem großen Ofen, und Sonne und Luft wurden verfinstert durch die finsteren Wogen.

Aus der wogenden Finsternis kamen Heuschrecken über die Erde und ihnen wurde Kraft gegeben, wie sie Skorpione auf der Erde haben. Ihnen wurde geheißen, dem Gras auf der Erde, den grünen Pflanzen und den Bäumen keinen Schaden zuzufügen, sondern nur den Menschen, die nicht das Siegel Gottes auf der Stirn haben.

Ihnen wurde geheißen, die Menschen nicht zu töten, sondern zu quälen, fünf Monde lang. Und der Schmerz, den sie zufügen, ist so stark, wie wenn ein Skorpion einen Menschen sticht. In jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen, aber nicht finden; sie werden sterben wollen, aber der Tod wird vor ihnen fliehen.

Und die Heuschrecken sehen aus wie Rosse, die zur Schlacht gerüstet sind; auf ihren Köpfen tragen sie etwas, das gülden schimmernden Kränzen gleicht, und ihre Gesichter gleichen den Gesichtern von Menschen, ihr Haar ist wie Frauenhaar, ihre Zähne wie ein Löwengebiss, ihre Brust wie ein eiserner Panzer; und das Rauschen ihrer Flügel ist wie das Dröhnen von Wagen, von vielen Pferden, die sich in die Schlacht stürzen.

Sie haben Schwänze und Stacheln wie Skorpione, und darin ist die Kraft, mit der sie den Menschen schaden, fünf Monate lang. Sie haben als König über sich den Engel des Abgrunds; er heißt auf hebräisch Abaddon, auf griechisch Apollyon.

Aus der Offenbarung des Johannes

Atlan

Ich starrte Sanna Breen an wie ein Gespenst.

Das konnte doch nicht ihr Ernst sein? Sie konnte doch nicht wirklich von mir erwarten, dass ich mein leichtfertig gegebenes Versprechen erfüllte? Nicht ein solches Versprechen! Sie zu töten …

Doch, genau das erwartet sie von dir, du verdammter Narr. Und sie hat damit völlig recht. Wenn es Rodrom gelingt, sie zu übernehmen, wären die Folgen unabsehbar. Sie hat die einzig richtige Lösung erkannt!

Die Situation wurde langsam surreal. Ich hielt mit meinem Extrasinn Zwiesprache über die Ermordung eines Menschen – nein, verbesserte ich mich, die Ermordung eines Konzepts, das einst ein Mensch war. Aber blieb Mord denn nicht Mord?

Bevor ich mich weiter mit der Situation beschäftigen konnte, durchzuckte ein unbeschreiblicher Schmerz meine Lenden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich die wiedergeborene Terranerin an, die mir gerade mit voller Kraft in die Kronjuwelen getreten hatte. Ihr schönes Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, zu einem Zerrbild von Menschlichkeit. Auch ihr Körper begann sich zu einer grotesken Karikatur der Schönheit verändern. Es hätte nicht des nervtötenden Kommentars meines Extrasinns bedurft, um mir klarzumachen, was gerade geschah:

Rodrom übernahm DORGON, Sannas Persönlichkeit wurde bösartig.

Mir war, als ob sich mein Bewusstsein als außerkörperliche Wahrnehmung manifestierte. Ich empfand reinen Hass, ich fühlte die Lust zu quälen und zu töten, die sich innerhalb der traumartigen Umwelt aufbaute, als körperlichen Schock, der jeden Gedanken lähmte.

Um mich löste sich die Umgebung auf in ein Kaleidoskop widersprüchlicher Sinneseindrücke. Eisige Winde peitschten mir ins Gesicht, Sturzbäche von Wassermassen durchnässten mich, während ich Augenblicke später durch eine gnadenlose Sonne geröstet wurde.

Die geordnete und verlässliche Umwelt löste sich auf, das Chaos schien die Herrschaft anzutreten. Und mein Extrasinn begann zu handeln …

7. Zwischenspiel I

Beilalter, Schwertalter, wo Schilde krachen,

Windzeit, Wolfszeit, eh die Welt zerstürzt.

Yggdrasil zittert, die Esche, doch steht sie,

Es rauscht der alte Baum, da der Riese frei wird.

Aus der Völuspá, Der Seherin Gesicht

The Illusion of Faith

»Der Herr wird sehr zufrieden mit uns sein, sehr zufrieden! Jetzt müssen wir nur noch den Generator zur Explosion bringen und dann …«

»Das dürfen wir nicht, Rog. Wir würden unsere Freunde, vor allem Alaska, töten. Das ist nicht gut. Komm, wir verstecken uns einfach und warten ab.«

Das doppelköpfige Wesen hatte angehalten und die beiden Köpfe begannen ihr obligatorisches Streitgespräch. Jede Identität versuchte, die Kontrolle über den gemeinsamen Körper zu erlangen, was groteske Verrenkungen des Vorjuls zur Folge hatte.

»Wach endlich auf, du leichtgläubiger Dummkopf. Wir haben nur einen Freund, nämlich Rodrom – nur er hat uns bisher noch nie belogen. Alaska hat sich Eorthor und Atlan angeschlossen und nichts unternommen, uns zu retten. Das müssen wir selbst tun. Sobald wir diese Station vernichtet haben, kann uns Eorthor nicht folgen und wir können uns ungestört Rodrom anschließen. Er wird uns wirklich helfen und uns vor allem zu unserer Rache verhelfen.«

»Ja, aber …«

»Kein aber, Gle, glaub mir, das ist die einzige Möglichkeit für uns. Eorthor und die anderen werden uns immer misstrauen, sie werden uns nie wirklich frei sein lassen, während Rodrom schon bewiesen hat, dass er auf unserer Seite steht.«

Die beiden Köpfe beendeten ihr Streitgespräch und die beiden einander widerstrebenden Körperhälften verschmolzen wieder zu Roggle, dem dualen Wesen, das aus einem Transmitterunfall entstanden war.

Die ursprünglichen Bewusstseine der beiden Brüder verbanden sich miteinander und Roggle suchte nach einem letzten Kontakt zu seinem Herrn. In diesem Zustand der vollkommenen Vereinigung verfügte die aus beiden entstandene Wesenheit Roggle über starke telepathische Kräfte. Er rief mit aller Kraft.

Rodrom … Herr … bitte melde dich. Roggle hat das Ziel fast erreicht.

Es dauerte nur Augenblicke, bevor eine unwillige Antwort erfolgte.

Was willst du noch von mir? Ich habe zu tun, ihr stört. Vollendet das Werk und ich bin mit euch zufrieden!

Das vereinigte Bewusstsein der beiden Brüder empfing die ungefilterten Emotionen des abtrünnigen Alyskers. Eine Flut von Hass, Wollust, perverser Begierden und ungezügelter Brutalität ergoss sich wie ein Sturzbach über den letzten Vorjul. Die Reaktion der beiden war höchst unterschiedlich.

»Rog, bitte, ich will das nicht spüren. Ich will weg, mich verstecken, das ist …«

»Gle, du bist ein Schwachkopf, ein unbrauchbarer Waschlappen! Rodrom stärkt aus der mentalen Energie, aus dem Todeskampf dieser alyskischen Schlampe seinen Geist. Und er lässt uns in seiner Güte daran teilhaben, auch wir werden stärker. Spürst du nicht, wie die mentalen Energien uns umfließen? Wie uns die Lebensenergie dieser …«

»Nein, nein, ich will das nicht, das ist krank, es ist unmoralisch, es ist unser nicht würdig. Mach endlich ein Ende, Rog.«

Der gemeinsame Körper begann wieder unkontrolliert zu zucken, während beide Identitäten um die Vorherrschaft kämpften. Mit einem unartikulierten Schrei sank der Vorjul zu Boden und schlug blind um sich.

Pat & Patachon oder Die Genialität der Hofnarren

Ler Ok Poldm blickte vorsichtig hinter dem klobigen Container hervor, der mitten im Gang vor der Schleuse zur Energiestation stand. Vor wenigen Augenblicken hatte der Vorjul den Durchgang geöffnet und war darin verschwunden. Wider Erwarten wurde die Schleuse jedoch nicht wieder geschlossen. Sie wirkte auf den Somer wie ein schwarzer Tunnel, der ins Unbekannte führte.

Neben ihm ertönte ein halblauter Schmerzenslaut. Unwillig drehte er sich nach seinem Begleiter um, der neben ihm kauerte und sich den linken Arm massierte, den er anscheinend irgendwo angeschlagen hatte.

»An deiner Stelle würde ich laut schreien und dazu winken, damit wir garantiert entdeckt werden. Wie kann man nur so blöde und tollpatschig sein.«

Der Terraner richtete sich empört auf.

Er würde doch nicht? – Doch, er würde.

Wütend packte er Leopold am Kragen seiner verzierten Weste, hob den etwa ein Meter fünfundzwanzig großen Somer hoch und begann, ihn zu schütteln.

»Hör zu, du komischer sprechender Vogel. Ich hab es satt, einfach nur satt! Ich habe es satt, dich und dein eingebildetes Gezwitscher ertragen zu müssen, ich habe es satt, tagtäglich deine dummen Sprüche anzuhören. Jetzt machen wir endlich, was ich sage. Und wage es nicht zu widersprechen, sonst setzt es Ohrfeigen, hast du mich verstanden?«

Der Somer blickte den Terraner unsicher an. Was sollte er auch anderes tun, solange er einen halben Meter über dem Boden schwebte.

»Hm …, ja ich …, aber könntest du mich wieder herunterlassen, sonst werden wir womöglich noch gesehen!«

Jaques de Funés schüttelte den ehemaligen Tellerwäscher noch mal ordentlich durch, bevor er ihn wieder absetzte. Leopold sträubte kurz sein Gefieder, bevor er sich hinter den Container duckte. Der terranische Geschäftsmann hatte sich an ihm vorbeigeschoben und blickte nun seinerseits dem verschwundenen Vorjul nach.

»Komm schon, du lahme Ente, sonst entkommt uns dieser zweiköpfige Unhold noch. Ich hoffe, dass du nun endlich erkannt hast, welche Verantwortung ich für das Gelingen der Operation trage.«

Mit diesen Worten folgten die beiden ungleichen Gefährten dem Vorjul hinter die Schleuse in den Kraftwerkbereich der Kosmokraten-Station.

*

Der Weg führte die beiden immer weiter in das Labyrinth tief im unbekannten Untergrund der uralten Station. Hier schlug das Herz der Festung, hier erzeugten endlose Reihen von gleichförmigen Kraftwerksblöcken die Lebensenergie der Station – ein Bereich, über den ihnen sämtliche Informationen fehlten. NESJOR, die alte Operationsbasis der Nesjorflotte, stammte aus einer Zeit, die längst vergangen und vergessen war und stellte, genau wie ihre einstige Besatzung, ein Relikt der Vergangenheit dar.

Die ganze Situation war für den flüchtigen Vorjul und seinen Auftraggeber optimal, denn die Alysker waren, obwohl technologisch hochstehend, noch weit davon entfernt, die Station zu beherrschen. Das Gleiche galt natürlich für Alaska Saedelaere und seine Begleiter. Dass es Rodrom gelungen war, sich mit Hilfe von Roggle aus seinem Kryostase-Gefängnis zu befreien, zeigte dies nur zu deutlich.

*

Die beiden unfreiwilligen Helfer der Unsterblichen drangen immer tiefer in die endlosen Hallen ein, immer bemüht, den flüchtigen Vorjul nicht aus den Augen zu verlieren, ohne selbst entdeckt zu werden.

»Wie lange soll das eigentlich noch so weitergehen, du großer Anführer?«

Der Somer watschelte keuchend hinter dem Terraner her, der die Führung des Duos an sich gerissen hatte. Doch Jaques de Funés ergriff den flügelartigen Arm des vogelähnlichen Lebewesens und zog dieses einfach hinter sich her.

»Nur keine Müdigkeit vortäuschen, wir dürfen den Zweikopf nicht aus den Augen verlieren.«

Wenig später kauerten sie sich hinter einen Maschinenblock, dessen Funktion unbekannt war. Roggle hatte anscheinend sein Ziel erreicht und stand unschlüssig vor einem Schaltpult. Er schien zu überlegen, was er als nächstes tun wollte. Langsam schlich sich das ungleiche Gespann immer näher.

*

»Nun sind wir endlich am Ziel, trotz deiner komischen Bedenken, Gle! Der Herr wird stolz auf uns sein!«

»Rog …, bitte nicht. Alaska wird sterben, wir werden sterben.«

»Hör endlich auf, du sentimentaler Dummkopf. Wann hast du es endlich gelernt, dass weder Alaska noch die anderen unsere Freunde sind? Sie sind schuld daran, dass wir die Letzten unseres Volkes sind. Sie und dieser verfluchte Alysker haben unsere Schwestern und Brüder getötet und sogar VORJUL, unser aller Mutter, ermordet. Es ist unsere Pflicht dem Andenken unseres Volkes gegenüber, für dieses Verbrechen Rache zu üben.

Auch deshalb ist Rodrom unser Freund. Er hat uns nicht nur gerettet und ein langes Leben ermöglicht, sondern gibt uns sogar die Mittel in die Hand, Eorthor und seine Sippschaft zu vernichten. Der verbrecherische Alysker hat unser Volk ermordet, jetzt rotten wir im Gegenzug sein Volk aus!«

Gle schien seinen Zwillingsbruder nicht überzeugt zu haben. Der gemeinsame Körper verfiel wieder in unkontrollierte Zuckungen, was den Kampf der beiden Brüder um Kontrolle widerspiegelte.

*

»Jetzt oder nie«, flüsterte Jaques de Funés und sprang auf, um auf den Doppelköpfigen zuzustürmen. Der war durch die Auseinandersetzung zwischen den beiden Brüdern völlig abgelenkt, sodass er den terranischen Geschäftsmann nicht bemerkte. Leopold dagegen blieb hinter dem Maschinenblock geduckt und murmelte nur vor sich hin: »Wahnsinn, reiner Wahnsinn!«

De Funés begann, laut zu brüllen, und fuchtelte mit den Armen. Durch das Gebrüll aufgeschreckt, wandten sich beide Köpfe des Vorjul dem heranstürmenden Terraner zu.

»Wir sind entdeckt, Rog! Alles ist zu spät … wir müssen fliehen.«

Mit diesen Worten rannte Roggle davon und wurde durch das ungleiche Duo weiter verfolgt.

*

Jaques de Funés und Ler Ok Poldm verfolgten den letzten Vorjul weiter. Sie jagten den Helfer Rodroms immer weiter aus der unmittelbaren Umgebung des gefährdeten Kraftwerksbereiches.

Jaques hatte eine Methode entwickelt, ihren Gegner vor sich herzutreiben, ohne sich selbst unmittelbar gefährden zu müssen. Da sie, genau wie der Vorjul, über keine Waffen verfügten, sammelte der terranische Geschäftsmann handlichen Abfall auf, der sich in der alten Nesjor-Station im Laufe der Jahrmillionen reichlich in den Gängen angesammelt hatte. Einzelne Abfallstücke wurden nach dem laut mit sich selbst Streitenden geworfen. Sie trieben ihn immer weiter in die Außenbezirke.

Die Liebe in den Zeiten der Cholera oder Der falsche Zeitpunkt

Denise Joorn wälzte sich auf die Seite und beobachtete den Unsterblichen, der sich gerade von der Strukturliege erhoben hatte. Die vergangenen Stunden hatten sie alle negativen Erfahrungen mit ihrem früheren Mentor Johannes van Kehm vergessen lassen, Alaska hatte alles beiseite gewischt.

Nicht dass er als Liebhaber so überzeugend gewesen war, im Gegenteil – sie war davon überzeugt, dass sie mit ihren knapp vierzig Jahren bereits mehr sexuelle Erfahrungen gesammelt hatte als der Unsterbliche in seinem nach Jahrhunderten zählenden Leben.

Doch Alaska hatte sich fallen lassen, hatte ihr völlig vertraut. Gemeinsam hatten sie ihre Körper erforscht, hatten sich ineinander verloren und die Liebe neu entdeckt. Denise richtete sich etwas auf und betrachtete den Körper ihres Geliebten, der wieder ihre Nähe suchte.

Doch dann erfasste sie instinktiv, dass irgendetwas mit ihm nicht mehr stimmte. Alaska war dabei, sich wieder in sich selbst zurückzuziehen, sich gegenüber der Umwelt abzukapseln. Der Moment des Zaubers, als die gesamte Wirklichkeit nur aus den Gefühlen füreinander bestand, der Punkt des grenzenlosen Glücks war vorbei. Das Heute, die schnöde Wirklichkeit hatte sie wieder.

»Alaska, was ist los? Was hast du?«

Der hagere Terraner drehte sich um. Die auf Olymp geborene Archäologin bemerkte, dass sich der mit ihm verbundene Parasit, die Haut Kummerogs, entfaltete und über den nackten Körper des Unsterblichen ausbreitete. Mit einer Mischung aus Ekel und morbider Faszination beobachtete sie, wie der Parasit lange Ausläufer bildete, die sich in Alaskas Körperöffnungen schoben.

Er hatte ihr erklärt, dass die abgeworfene Haut des Cantrells nur kurze Zeit von ihm getrennt sein durfte, dass sie auf eine dauerhafte Verbindung mit seinem Blutkreislauf angewiesen war. Während ihres Liebesspiels war sie mehrmals mit dem gallertartigen Wesen, das die abgeworfene Haut Kummerogs letztlich war, in Verbindung gekommen. Zuerst hatte sie die Berührungen als schleimig und ekelhaft empfunden, hatte aber nach und nach den Widerwillen abgelegt und die zusätzlichen Stimulationen sogar genossen.

»Denise, Liebling, es war falsch, ganz falsch, was wir getan haben. Ich kann nicht mit einem anderen Menschen zusammenleben. Ich bin eine Monstrosität, ein Freak, ein Monster, niemals hätte ich schwach werden dürfen, niemals …«

Die Archäologin unterbrach die Selbstanklage Alaskas, indem sie aufsprang.

»Tickst du eigentlich noch richtig? Was soll daran falsch sein, wenn wir zusammen sind? Du wolltest es und ich wollte es! Dir hat es Spaß gemacht und mir hat es Spaß gemacht – und das ist alles, worauf es ankommt. Komm mal bitte von deinem Selbstkasteiungstrip herunter! Du bist ein Mensch und hast genau wie jeder Mensch das Bedürfnis nach Liebe und Geborgenheit.«

In diesem Moment meldete sich der Kommunikator, den Alaska auf eine Ecke des Tisches gesetzt hatte. Schrill stand das Signal im Raum. Denise wusste in diesem Moment, dass sie verloren hatte.

Nein, verbesserte sie sich selbst, nur für den Moment habe ich verloren!

Alaska hatte inzwischen den Kommunikator aktiviert und nahm den Anruf entgegen. Dabei wurde sein Gesicht immer blasser, während die Haut, die seinen Körper inzwischen vom Hals abwärts nahezu komplett umhüllte, immer mehr den Charakter einer transparenten Gallerthülle verlor und die natürliche Hautfarbe des Terraners annahm.

»Alaska, wir haben uns den ganzen Tag freigenommen. Du bist nicht für jeden Mist, der irgendwo passiert, verantwortlich. Komm wieder ins Bett und entspann dich.«

Mit diesen Worten ergriff Denise den Arm des Hautträgers und versuchte, ihn wieder ins Bett zu ziehen.

»Nein Denise, unsere Freizeit ist vorbei, um uns herrscht das Chaos. Ein Alysker, ich glaube sein Name ist Orthir, gibt an, dass es Rodrom mit Hilfe von Roggle gelungen ist zu fliehen. Dabei hat er alle Wachen getötet und Nora als Gefangene auf sein Raumschiff mitgenommen.«

»Und? Glaubst du, dass du mehr Chancen hast als die Alysker? Du, ich … wir sind nicht verantwortlich, es ist nicht unsere Schuld!«

Doch der Unsterbliche antwortete nicht, sondern rief die gespeicherten Nachrichten ab.

»Roggle«, schrie er dann auf und schlug mit den Fäusten auf den Tisch, »wie konntest du mich nur so hintergehen?«

»Ich muss meinen Fehler wieder gutmachen«, murmelte er dann und begann, sich anzuziehen.

»Was ist geschehen, Alaska? Was ist mit Roggle?«

»Roggle? Der Vorjul hat mich hereingelegt, hat mich getäuscht, uns getäuscht, uns verraten! Er hat Rodrom befreit und will NESJOR zerstören. Leo und Jaques haben schon vor Stunden versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen. Es waren die Anrufe, die ich nicht entgegennahm. Es ist alles meine Schuld, ich …«

»Jetzt reicht es, Alaska. Schuld? Niemand hat hier Schuld! Am wenigsten du! Roggle hat uns alle getäuscht, nicht nur dich! Und fang gleich gar nicht an, dich mit Selbstvorwürfen zu …«

»Aber genau das ist es. Ich habe Roggle immer in Schutz genommen, ich habe verhindert, dass die anderen ihn schärfer kontrollierten, es ist alles meine Schuld, wäre ich nicht so vertrauensselig gewesen …«

Denise schüttelte nur den Kopf. Alaska war wie ein kleines Kind, er fiel von einem Extrem ins andere. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und versuchte es noch einmal.

»Alaska, denk mal darüber nach. Niemand, auch nicht du, konnte wissen, dass der Vorjul ein falsches Spiel mit uns treiben würde. Für uns alle war er ein bedauernswertes Geschöpf und auch Tolot und Atlan haben in Wirklichkeit keinen Verdacht geschöpft, ihnen ging Roggle nur manchmal auf die Nerven. Wenn sie wirklich misstrauisch geworden wären, glaubst du, dass beispielsweise Atlan den Vorjul noch hätte frei herumlaufen lassen?«

»Das ist ganz egal, ich hätte es bemerken müssen, ich war die ganze Zeit mit ihm zusammen, mir hat er seine Geschichte erzählt, ich habe ihn immer in Schutz genommen …«

Denise hatte endgültig genug.

»Wenn du meinst, dass du an allem Übel des Universums schuldig bist, dann bitte, ich halte dich nicht auf. Aber würdest du es nicht für sinnvoller halten, wenn wir jetzt Leo und Jaques folgen und versuchen würden, den Vorjul unschädlich zu machen?«

Der Unsterbliche erstarrte und blickte die Archäologin an, als ob er sie zum ersten Mal sehen würde.

»Leo und Jaques folgen? Roggle unschädlich machen? Ja, genau das müssen wir tun!«

Mit diesen Worten begann er sich hastig anzukleiden, ohne ein weiteres Wort mit der Olymperin zu wechseln. Kopfschüttelnd folgte die Frau seinem Beispiel.

Das Ende der Zweifel ist der Beginn der Entschlossenheit

Der Somer und der terranische Geschäftsmann kauerten gemeinsam hinter einem Vorsprung und beobachteten den Vorjul. Bei der Verfolgung von Rodroms Fluchthelfer waren sie immer weiter in die Außenbereiche der alten Nesjor-Station geraten. Sie wussten inzwischen nicht mehr, wo genau sie sich befanden, zu verwirrend war der Weg gewesen, den Roggle eingeschlagen hatte. Manchmal hatten sie den Eindruck gehabt, dass der Vorjul selbst nicht wusste, wohin er wollte.

In diesem Moment aktivierte sich das Interkom, das Jaques noch immer bei sich trug, und signalisierte einen eingehenden Anruf. Gespannt gab der Terraner die Verbindung frei – auf dem kleinen Bildschirm des Kommunikators erschien das Gesicht Alaskas.

»Jaques, endlich! Wo seid ihr? Was macht Roggle? Konntet ihr die Vernichtung der Reaktoren verhindern?«

Die beiden Gefährten wechselten einen überraschten Blick. Was war mit Alaska los? Der Hautträger wirkte überdreht und fahrig, ein Eindruck, der so gar nicht zu dem sonst so zurückhaltenden und bedächtigen Unsterblichen passte. Er sah geradezu gehetzt und getrieben aus.

»Hallo Alaska! Endlich meldest du dich. Ja, wir konnten verhindern, dass der mörderische Zweikopf die Reaktoren in die Luft jagt und uns alle vernichtet. Ja, du hast richtig gehört, Leo und ich konnten den Amoklauf des teuflischen Monsters stoppen und nicht du oder die überheblichen Alysker, die uns übrigens die ganze Zeit für verrückt gehalten haben. Wir haben, nur mit unseren Händen, uns alle gerettet, was sagst du nun, du großer Unsterblicher?«

In diesem Moment verzerrte sich sekundenlang das Bild. Denise wurde sichtbar.

»Jetzt reicht es, Jaques. Könntest du mal die Güte haben, uns kurz zu erklären, was genau geschehen ist? Und wenn es geht, bitte ohne irgendwelche Ausschmückungen!«

Dem kleinen Terraner verschlug es einen Moment die Sprache. Er starrte die Archäologin überrascht an. Man konnte geradezu sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.

Alaska … Denise … Alaska?

In diesem Falle war es der Somer, der schneller schaltete. Mit einem für ein ornithoides Lebewesen geradezu dreckigen Grinsen nahm er dem wie gelähmt dastehenden Jaques das Interkom aus der Hand.

»Sieh an, Alaska und die kleine Denise, hat er es endlich geschafft? Na, wie war er? Hat er es dir ordentlich be…«

Weiter kam er nicht, denn der kleine Geschäftsmann aus der ehemaligen zentraleuropäischen Region Frankreich hatte ihm wieder das Interkom entrissen.

»Entschuldige Denise, das kommt von der schlechten Lektüre dieses aufgeblasenen Vogels. Wenn man sich nur anhand von Playkonide, Schlüsselloch oder ähnlichen Machwerken weiterbildet, dann verengt sich die Wahrnehmung zwangsweise auf eine rein horizontale Sichtweise.«

Denise blickte den Terraner konsterniert an. Dann begann sie zu lachen. Immer wieder von Lachanfällen unterbrochen, fragte sie Jaques:

»Du meinst, dass der Somer … dass der Somer tatsächlich … tatsächlich irgendwelche Sexzeitschriften liest und …«

Weiter kam sie nicht, denn ein weiterer Lachanfall ermöglichte es Alaska, den Kommunikator wieder an sich zu nehmen. Der terranische Geschäftsmann hatte nun endlich die Gelegenheit, seine Sicht der Geschehnisse zu schildern.

*

Denise und Alaska hatten Leopold und Jaques eingeholt. Roggle hatte einen Hangar geöffnet und schien zu versuchen, mit einem Schiff der Nesjorianer zu fliehen.

Alle schauten erwartungsvoll auf den Unsterblichen, als erwarteten sie von ihm Klarheit über ihr weiteres Vorgehen.

»Nun gut, versuchen wir dem Vorjul zu folgen. Vielleicht können wir weiteres Unheil verhindern, indem wir ihn wieder dingfest machen.«

Alaska aktivierte sein Interkom und rief die Zentrale. Der ihnen bereits bekannte Alysker Orthir meldete sich. Alaska bat den hageren Greis, der eine düstere Ausstrahlung verbreitete, um die Freigabe eines Beibootes, damit er den fliehenden Vorjul verfolgen konnte. Orthir betrachtete den Terraner abschätzend, bevor er zustimmend nickte.

»Ich habe eure Position registriert. Bleibt wo ihr seid, ich schicke euch einen Spezialisten meines Volkes.«

Alaska sah den Alysker alarmiert an.

»Das wird nicht nötig sein. Uns genügt ein Schiff, um den Vorjul zu verfolgen.«

Doch der Alysker widersprach.

»Kamtair ist bereits auf dem Weg. Er kann das Schiff fliegen, und er wird das Urteil am Mörder unseres Volkes vollstrecken.«

»Urteil … Mörder? Was für ein Urteil?«

»Kamtair ist einer der Vollstrecker. Er wird den verfluchten Vorjul töten, wie es das Urteil meines Volkes verlangt.«

In diesem Moment landete ein Gleiter, dem ein hochgewachsener, muskulöser Alysker entstieg. Er trug eine schwarze Einsatzkombination.

Alaska wollte noch Einwände geltend machen, wurde jedoch von Denise daran gehindert, die ihn einfach hinter sich herzog.

8. Fimbulvetr: Der Kampf beginnt …

Hrym fährt von Osten und hebt den Schild,

Jörmungand wälzt sich im Jötunmute.

Der Wurm schlägt die Flut, der Adler facht,

Leichen zerreißt er; los wird Naglfar.

Aus der Völuspá, Der Seherin Gesicht

*

Ein Blick genügte, um mir zu zeigen, dass im Augenblick von den Kosmokratenknechten keinerlei Gefahr mehr drohte. Jeder von ihnen war in seiner eigenen Hölle gefangen, unfähig mir, dem Prinzen Prosperoh, auch nur den geringsten Widerstand zu leisten. Für einen Moment war ich versucht, sie mir für alle Zeiten vom Halse zu schaffen, doch die Weisung meines Herrn MODROR war eindeutig:

Du sollst sie nicht töten, Prosperoh, sondern brechen, du sollst ihren Willen, ihre Loyalität und ihren Glauben an eine positive Zukunft des Universums pervertieren. Sie sollen zu Wachs werden, geformt nach meinem Willen.

Die kurze Auseinandersetzung in der Arena meines Schlosses war nur der Auftakt gewesen, ich hatte ein wenig mit ihrer Psyche gespielt. Jetzt würde die wirkliche Hölle beginnen!

Der Gott des Todes: Osiris

Osiris machte einen Schritt auf Atlan zu, um dem Arkoniden aufzuhelfen. Sanna Breen hatte sich in eine Furie verwandelt. Ihre verzerrten Züge, die gefletschten Zähne und zu Klauen verdrehte Hände zeigten deutlich, dass der Kosmotarch mehr und mehr dem negativen Einfluss der Diener MODRORS unterlag.

Entsetzen kroch in ihm hoch, als ihm das Ausmaß des Konflikts bewusst wurde: Was sie als Einzelne hier ausfochten, entschied das Schicksal aller Bewohner der Galaxie Manjardon und darüber hinaus. Würde Rodrom gewinnen, stand ihnen das Schicksal bevor, dass sich im vor Raserei entstellten Gesicht der sonst so schönen Frau zeigte.

Sanna machte Anstalten, die Männer anzugreifen. Der Kemete hob abwehrend die Arme. Doch gleich darauf verblasste die Präsenz DORGONS und wieder befand er sich in der parkähnlichen Landschaft. Vor sich erblickte er die Amun-Ré Pyramide und seinen tierköpfigen Bruder Seth.

Auch Seth hatte auf Terra gelebt, zwangsläufig, doch immerhin als Gott der Unfruchtbarkeit und der Wüste.

Die Kemeten hatten seit 8000 vor Christus im Exil auf der Erde gelebt. Osiris war von Seth einst überrumpelt worden und in einer Stasiskammer mit einem unüberwindbaren Zeitschloss gefangen gehalten worden. Die restlichen Kemeten waren bei ihm geblieben und hatten neben Atlan den größten Einfluss auf die altägyptische Zivilisation gehabt.

Osiris hatte Jahrtausende als Seelenspeicher gedient und war seinem Mythos als Gott der Unterwelt tatsächlich gerecht geworden. Doch im Jahre 1298 NGZ war er frei gekommen und erneut von seinem Bruder verraten worden, der mit Rodrom paktiert hatte.

Seth … nun, er war sein Mörder. Und sein Bruder. Was sollten die alten Geschichten zwischen ihnen stehen!

Osiris rief: »Ich vergebe dir, Bruder.«

Seth stieß ein Jaulen aus. Osiris konnte nicht anders, als ihn in die Arme zu nehmen und fest an sich zu drücken. Nie in seinem Leben hatte er sich so glückselig gefühlt.

Dann plötzlich begann die Szenerie zu wachsen – anders konnte der Unsterbliche es nicht ausdrücken. Der Raum dehnte sich aus, und damit erweiterte sich auch sein Geist. Osiris spürte die Gegenwart einer undefinierbaren Macht, die seinen Geist durchdrang.

Seth hatte sich von ihm gelöst. Er blickte ihn triumphierend an. Seine Worte klangen spöttisch.

»Osiris, geliebter Bruder, bist du wirklich bereit, mir zuzuhören?«

Völlig verunsichert versuchte Osiris, das Mischlingswesen aus einem Kemeten und einem tierhaften Shak’Arit einzuschätzen. Was beabsichtigte er mit seiner Bemerkung? Das Gesicht seines Bruders, das am ehesten an eine Mischung aus einem Schakal und einem Esel erinnerte, verzog sich zu einem dreckigen Grinsen.

»Interessiert es dich wirklich, was hinter deinem Rücken geschieht? Bist du tatsächlich bereit, deine Vorurteile abzulegen und der Wahrheit ins Gesicht zu sehen?«

Osiris bemühte sich, seine Autorität zu bewahren.

»Seth, entweder rückst du jetzt damit heraus, worüber du sprichst, oder du verschonst mich in Zukunft mit solchen Andeutungen!«

Das Grinsen auf Seths Tiergesicht wurde breiter, bevor er sich umdrehte und auf das geöffnete Portal zuschritt.

»Komm Osiris, schau der Wahrheit ins Gesicht!«

*

Widerstrebend folgte der im alten Ägypten als Gott des Todes verehrte Kemete seinem Bruder in das Innere der Pyramide. Seth benutzte Rollkorridore und Antigravschächte, die Osiris völlig unbekannt waren.

Mehrmals begegneten sie Shak’Arit-Androiden, die jedoch keinerlei Notiz von ihnen nahmen. Es schien, als ob sie für die künstlichen Geschöpfe unsichtbar waren. Seth führte seinen Bruder immer tiefer in das Zentrum Kemets, und schließlich wusste Osiris, wo sie sich befanden: Vor ihnen lagen seine privaten Gemächer, die er mit Isis teilte, sofern er seinen Körper benutzte.

Der tierköpfige Kemete wartete, bis er an ihn herangetreten war. Nun umarmte er ihn, kurz und heftig. Dann fragte er nochmals:

»Willst du dir das wirklich antun, Bruder?«

Osiris fühlte sich gereizt. Wortlos stieß er seinen Bruder zur Seite und öffnete das kleine Energieschott, das einen Nebenzugang zu seinen Räumen bot. Auf den Anblick, der sich ihm bot, hätte nichts ihn vorbereiten können.

*

Isis war zuhause. Und auf eine unerklärbare Weise war die Wand, die sich zwischen ihnen befand, transparent. Ob sie ihn auch sehen könnte, würde sie aufblicken? Osiris konnte jede Einzelheit erkennen und das, was er sah, brachte sein Blut zum Kochen.

Seine Gefährtin, die Göttin der Liebe und der Wiedergeburt, schien ihre Funktionen wortwörtlich zu nehmen. Auf einer Ottomane lag sie in den Armen von Apophis, in der vollen Blüte ihrer Schönheit, was der Mann zu genießen wusste.

Sie erniedrigte sich und den Kampf für das Licht! Osiris hob die Hand und wollte gerade in den Raum stürzen. Er fühlte, dass die transparente Wand kein Hindernis für ihn sein würde. Seth hielt ihn zurück. Er deutete ohne ein weiteres Wort auf den Schatten, der aus dem Hintergrund trat: AMUN, der verräterische Kosmokrat, dem die Kemeten als ihrem höchsten Gott gefolgt waren. Er war der Auftraggeber und Mentor der Kemeten gewesen und er war es auch, der sie auf die Strafbank in der Milchstraße gesetzt hatte.

Denn AMUN hatte die Kemeten aus dem kosmischen Spiel genommen und ins Exil in die Milchstraße geschickt. Sportlich gesprochen war das eine Auszeit, die Strafbank. Sie waren ins Abseits gesetzt oder auf die Ersatzbank verdonnert worden, wenn man den Sachverhalt in Begriffen des terranischen Fußballs beschreiben wollte. Fußball war nicht schlecht, fand Osiris.

Aber woher kam der höchst materielle Gegenstand in Osiris’ Hand? Er schickte einen Schauer blinder Wut durch seinen Körper.

Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass Seth einige Schritte zurückgetreten war und ihn lauernd beobachtete. Dann galt seine Aufmerksamkeit der schweren Kriegsaxt aus einem fremden, goldglänzenden Metall, die er in der Hand hielt. Es war, als ob ihn die schwere Waffe durch die Wand ziehen wollte, einem Blutbad entgegen.

Wieder glitt sein Blick zu Seth, der die Lefzen hochzog. Die ganze Szene schien ins Surreale abzugleiten. Hier passte nichts zusammen!

Seth … Isis … AMUN … Apophis?

Plötzlich wurde sein Geist klar, die Illusion zerriss. Entsetzt registrierte er die Umgebung, in der sich Landarbeiter gegenseitig massakrierten, dann umfing ihn gnädige Ohnmacht.

Die Auferstehung der Bestien: Icho Tolot

»Mein Kleines, warte, ich helfe dir!«

Mit diesen Worten wollte der halutische Gigant den sich krümmenden Arkoniden mit seinen Handlungsarmen aufnehmen, um ihn vor weiteren Attacken des rasend aggressiven Konzepts zu schützen. Doch da war kein Atlan mehr. Genaugenommen war da niemand mehr. Der Haluter befand sich im Nichts, genauer gesagt fiel in dieses Nichts hinein.

Plötzlich war er nicht mehr allein. An seiner Seite fiel ein humanoides Wesen ins Nichtsein, wandte sich ihm zu – es war die zur Unkenntlichkeit verzerrte Karikatur von Sanna Breen.

Willst du deine wahre Natur kennenlernen und dein Kind retten?

Der Haluter starrte das Konzept ungläubig an.

Kind … Kind? Wieso Kind? Ich habe kein Kind!

Die unwirkliche Erscheinung Sanna Breens schwieg, doch dann änderte sich die Umgebung. Vor ihm bildete sich ein Planet aus dem Schwarz des Nichts, der zunehmend sein Gesichtsfeld ausfüllte.

Innerhalb seines Planhirns verbanden sich vergessene Synapsen, wurden längst vergrabene Informationen an die Oberfläche geholt. Die Oberfläche des Planeten schien nun förmlich auf ihn zuzuspringen und füllte das gesamte Umfeld aus.

Jetzt fügten sich die Informationen zusammen und er erkannte, um welche Welt es sich handelte: Volterhagen, den zweiten Planeten des Temonth-Systems in der Heimatgalaxie der Laren. Nun wurde ihm klar, dass er sich in der Vergangenheit des Jahres 3581 alter Zeitrechnung befand. Vor sich sah er einen Haluter, der sein Baby auf den Handlungsarmen trug und mit seinem Körper schützte.

Wieder machte Tolot einen virtuellen Sprung und befand sich plötzlich direkt vor dem Artgenossen. An der fleckigen, grünen Hautfarbe war erkennbar, dass es sich um den Elter des Babys handeln musste. Je länger er den anderen beobachtete, umso mehr hatte er den Eindruck, dass er ihn kennen müsste. Endlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen:

Der Elter war er selbst, demzufolge handelte es sich auch um sein Kind.

Die ganze Szenerie war ihm nun wieder gegenwärtig, er hatte sie bereits mehrmals erlebt. Um ihn herum röhrten die ionisierten Entladungstrichter hochenergetischer Thermowaffen. Das fahlgrüne Leuchten von Desintegratorstrahlern umgab ihn.

Icho Tolot wurde eins mit seinem Zeitzwilling. Er spürte in sich die Liebe, den unbändigen Willen, sein Kind notfalls mit seinem Leben zu beschützen. Doch gleichzeitig wusste er, dass alles vergebens war. Das Universum hatte sich gegen ihn verschworen. Er war zwar unsterblich, doch sein Kind, seine Zukunft war bereits zum Tode verurteilt, nie wieder würde er neues Leben aus sich gebären können.

Sein Planhirn trennte die Verbindung zum Ordinärhirn, nur um wenig später seine Schlussfolgerungen wie Dolche in sein Denken zu stoßen:

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass durch ein schwarzes Loch die Geburt deines Kindes ausgelöst wird?

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass du exakt in der Geburtsstunde, in der das Kind absolut hilflos ist, mit überlegenen Waffen angegriffen wirst?

Wie wahrscheinlich ist es, dass bei der Flucht durch einen Transmitter ausgerechnet das Kind tödlich getroffen wird, obwohl du es mit deinem Körper schützt, während schwächliche Lebewesen wie Saedelaere dem Feuersturm unversehrt entkommen?

Das Planhirn machte eine kurze Pause, die Tolots Ordinärhirn zur Antwort nutzte:

NULL, nahezu NULL!

Das letzte Wort hatte er hinausgebrüllt. In dieses Wort legte er all seinen Schmerz, seine Trauer und die Wut, die unter seiner friedlichen Oberfläche zu keimen begann. Er fühlte, wie er sich wieder von seinem Zeitzwilling trennte. Dann bemerkte er, dass ein anderer Geist ihn berührte.

Ja, Tolotos, du bist Elter gewesen, doch dein Kind durfte nur wenige Zeiteinheiten leben. Selbst die Erinnerung, die Möglichkeit zu trauern, wurde dir genommen.

Tolotos, sage mir, hat sich dein Leben gelohnt? Dein Kind ist tot, niemals mehr wirst du die Gelegenheit haben, deinem Erbe die Schönheiten und die Geheimnisse des Universums zu zeigen, nie wirst du stolz darauf sein können, wenn dein Kind zum ersten Mal die Verbindung zwischen Planhirn und Ordinärhirn herstellen kann.

Nie wirst du die Freude spüren, deinem Kind bei der ersten Strukturumwandlung beizustehen. Niemals, Tolotos! Welchen Sinn hat dein Leben eigentlich?

*

Der schwarze Gigant fiel in sich zusammen. Die Umwelt von Volterhagen, sein jüngerer Zwilling in der Zeit, das tote Baby, Gucky, Alaska – alle verschwanden wieder in der Unendlichkeit, im Nichts.

Er war wieder allein, allein mit sich und seiner Trauer, mit der Erinnerung an ein Kind, dem er nicht einmal einen Namen geben konnte – und mit der sich immer weiter ausbreitenden Wut. Um ihn war wieder das Nichts. Schwärze umgab ihn und mit jedem Atemzug im Nichts atmete er Wut, unbändige, alles verschlingende Wut.

Dann war da wieder die Stimme.

Ich kann dir helfen, Tolotos. Du kannst die Vergangenheit ändern, du musst nur wollen! Komm mit, folge mir. Ich führe dich in die Tiefen deiner Seele.

Wieder hatte Tolot das Gefühl, in einen endlosen Schacht zu fallen, während sich um ihn die Sterne und Galaxien mit rasender Geschwindigkeit drehten.

Tiefer, tiefer, zurück in die Vergangenheit!

Seine Wahrnehmung konzentrierte sich auf eine Kugel, die inmitten unzähliger anderer Kugeln in der Unendlichkeit schwebte. Für seinen Geist schienen keine Grenzen zu existieren, er wusste plötzlich, wo er sich befand.

Vor ihm stand die 7. Flotte der Zeitgerechten regungslos im Raum. Sie war es, die den Kern der endgültigen Besiedlung Haluts bilden sollte. Wieder durchdrang sein Geist physikalische Barrieren und wurde magisch von einem Koloss angezogen, der mitten in der Zentrale des tausendsiebenhundert Meter durchmessenden Superschlachtschiffes stand.

Auch ohne eine Bemerkung der geheimnisvollen Stimme wusste Tolot, wer ihm gegenüberstand – einer der Alten, der ganz am Anfang der Reihe seiner Elter-Vorfahren stand.

Tolotos, willst du dein Kind wiedersehen? Opfere die Nachfahren der Zeitverbrecher der Zukunft deines Kindes. Übermittle Somtor Volur die Koordinaten von Scrimor, du brauchst nur daran denken, und dein Kind wird leben. Tu es, Tolotos, was hast du zu verlieren?

In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Ordinär- und Planhirn kämpften um die Vorherrschaft, doch die kalte Logik des Planhirns brachte schließlich die Entscheidung.

Ich werde um mein Kind trauern, doch niemals, niemals werden die Bestien auferstehen!

In dem gleichen Moment, als Tolot diesen Entschluss fasste, fiel die Illusion in sich zusammen und die physische Gestalt des schwarzhäutigen Giganten stürzte auf den Boden einer Welt, die in den Gedanken einer Entität Wirklichkeit geworden war.

Gnädige Schwärze umfing einen Geist, der zutiefst verletzt war … und er träumte, träumte vom ersten Ausflug ins All, träumte vom gemeinsamen Bad in den Ammoniakozeanen eines Mondes, träumte davon, sich Hand in Hand, nur vom Sonnenwind getrieben, in die Tiefen des Alls treiben zu lassen … und die Seele des verletzten Riesen heilte.

Die Herrin der Sterne: Atlan

Der Dagor-Fußstoß, der Sanna Breen galt, hätte ihre Halswirbelsäule zertrümmert – wenn er getroffen hätte! Doch gab es keine Sanna Breen mehr, und diesem Umstand war ich unsäglich dankbar.

Um mich verschwand die Umgebung – was ich bereits kannte – und mein Geist schien körperlos geworden zu sein. War ich gestorben?

Nein, das konnte nicht sein! Ich konnte denken, nahm meine Umwelt wahr, und auch mein Extrasinn war vorhanden, wie mich seine sarkastische Bemerkung lehrte:

Dieser Kosmotarch und sein Konzept drehen durch, und du gehst ihnen auf den Leim, du Narr!

Ach was. Ich ging ihnen nicht auf den Leim. Ich sah in meine eigene Erinnerung. Vor mir öffnete sich ein Fenster im Nichts, einem Kugelsektor gleich, das mich umhüllte und ausspie, mich zu einem Planeten hinzog. Als sei keine Minute vergangen seit der Zeit, als das Tamanium brannte.

Ich saß in einem kleinen Jäger, während ich mich gleichzeitig von außen über meine körperlose Form beobachtete, als ob ich ein Dritter wäre.

Die Bildschirme und Oszillografen zeigten eine Vielzahl von Raumschiffen in unmittelbarer Nähe unseres Moskito-Jägers. Noch wurde die Intensität der Ausstrahlungen fast vollständig von den Impulsen meines Flaggschiffs, der IMPERATOR, überlagert. Ich korrigierte den Kurs des kleinen Schiffes.

»Jetzt brauchen wir nur noch darauf zu warten, dass das Schlachtschiff losfliegt.«

Ich spürte Mironas Blick in meinem Nacken. Der seltsam heiteren Stimmung, die mich im Griff hatte seit ihrem Eintreffen, ließ ich freie Bahn. Sie hatte mich sprechen wollen, nicht Perry, und zu mir war sie gekommen, damit ich sie nach Tamanium brachte. Die Geheimpositronik war wichtig, oh ja! Doch wenn ich ehrlich war, so spielte nur eine Rolle, dass Mirona bei mir sein wollte.

Für sie ließ ich einen Ausschnitt des Bildschirms aufleuchten. Die Wiedergabe zeigte den freien Raum zwischen zwei Maahk-Verbänden.

»Hier werden wir durchstoßen. Alurin wird sein Schiff an dieser Stelle durch den Sperrgürtel steuern. Die Maahks werden an eine Landung glauben, aber Alurin wird ihren Protesten zuvorkommen und dorthin zurückkehren, wo die Methanatmer ihn schnell erreichen können. Das wird sie beruhigen. Es sind schwierige Verbündete, aber sie halten sich an Regeln.«

»Sie denken wohl an alles?«

»Ich gebe mir Mühe. Die Landung auf Tamanium war Ihr Vorschlag, Mirona! So einfach ist das nicht. Um Ihre Wünsche zu erfüllen, muss man Vorkehrungen treffen.«

Sie antwortete nicht, während ich mich nach vorn beugte und die Steuerung umklammerte. Der große helle Fleck auf dem Bildschirm, der die IMPERATOR darstellte, wanderte mit großer Geschwindigkeit nach links.

»Ich beschleunige jetzt. Es wird am besten sein, wenn wir uns um die anderen Schiffe nicht mehr kümmern. Jetzt interessiert uns nur noch Tamanium!«

Ich nahm einige Schaltungen vor. Der Moskito-Jäger schwenkte um. Der Zentralplanet der Meister der Insel füllte den Bildschirm aus.

»Sobald wir gelandet sind, schalten wir unsere Schutzschirme ein. Vergessen Sie nicht, dass viele der erwachten Ungeheuer aus dem Museum der Meister der Insel noch am Leben sind!«

Die Tefroderin, die so heldenhaft gegen die verbrecherische Clique stand, die Andromeda beherrschte, hatte mir die Stelle beschrieben, an der ich landen musste. Sie lag nur wenige Kilometer von dem unterirdischen Museum entfernt. Hier befand sich ein großer Teil der wichtigen Anlagen. Deshalb erschien es mir nur logisch, dass auch die gesuchte Geheimpositronik in diesem Gebiet errichtet worden war. Außerdem hatte Mirona die Unterlagen gefunden.

*

Was war der Handelnde? War ich er, war er ich? Ich wusste, wo ich war und was gerade ablief. Gleichzeitig beobachtete ich mein anderes Ich wie ein völlig Fremder. Ich hatte zwei Körper. Wurde ich schizophren? Wer war ich?

Erneut dehnte sich mein Bewusstsein aus, und wieder war ich er und gleichzeitig ich. Was sollte das alles? Ich hatte es schon unzählige Male erlebt, war immer und immer wieder durch die gleiche Hölle gegangen

Unser Jäger landete auf einer Lichtung. Hier merkte man nichts davon, dass das Tamanium brannte, dass seine metallenen Eingeweide von Explosionen zerrissen und von Hitze verbrannt wurden.

»Wir können aussteigen«, merkte ich an. Wie schön es hier war.

Als ich keine Antwort erhielt, schaute ich hinter mich. Die schöne Tefroderin kauerte auf ihrem Sitz und blickte zum Waldrand hinüber.

»Warum so nachdenklich?«, erkundigte ich mich. »Niemand hat unsere Landung bemerkt. Wir können uns ungestört auf die Suche machen.«

Sie streifte mich mit beiden Armen, als sie den Moskito-Jäger verließ. Ihre Nähe verwirrte mich. Ich musste mich gewaltsam dazu zwingen, sie nicht an mich zu reißen, um ihr braunes Gesicht, ihre schwarzen Haare zu liebkosen und die Form ihrer Brüste zu ertasten. Nichts gab es für mich außer dieser Frau.

Benommen beobachtete ich, wie sie mit graziösen Bewegungen ins Freie kletterte, und folgte ihr. Ihr Haar schimmerte metallisch im Licht der tief stehenden Sonne. Sie beschattete ihr Gesicht mit einer Hand, um besser sehen zu können. Wie wunderschön ihre Augen waren. Sie blickte mich an.

»Diese Stille macht mich nervös«, sagte sie. »Außerdem ist es ein komisches Gefühl, allein mit Ihnen auf diesem Planeten zu sein, Admiral.«

Auf Tamanium war es tatsächlich ungewöhnlich still. Ich konnte das Rascheln der Blätter im leichten Wind hören. Irgendwo knackte es im Unterholz. Ein Schwarm goldgelber Insekten schwirrte vorüber. Der Boden war von einem moosartigen Pflanzenteppich bedeckt. Ich hörte, wie die Tefroderin tief die warme Luft einatmete.

Ach was. Tefroderin. Das dachte ich damals. Tefroderin! Eine Lemurerin war sie, eine Einsame der Zeit aus dem Urvolk der Menschheit. Es gab keine, die ihr glich.

Mirona klang gedankenverloren. »Das ist eine Welt, nach der man sich sehnen könnte, wenn man jahrelang auf einem industrialisierten Planeten gelebt hat, zwischen Fabriken, Häuserschluchten und dem Verkehrsgewühl der Großstädte«, sagte sie. »Ich hätte nicht geglaubt, dass die Meister der Insel so viel Schönheitsempfinden besitzen, um eine solche Welt auszuwählen.«

Wie gut sie sich verbarg!

»Man lernt seine Gegner nie richtig kennen«, antwortete ich.

Mirona! Sie machte ein paar übermütige Sprünge und winkte mir zu. Ihr Haar flog, als sie den Kopf zurückwarf. Meine Leidenschaft für diese Frau umnebelte meine Gedanken. Ich rannte ihr nach. Sie schlug einen Haken und entkam meinen Händen. Kein Gedanke, als sie einzuholen, sie in meinen Händen zu fühlen und unter meinem Körper, ihr Stöhnen zu hören, wenn … Ich errötete, als ich daran dachte, wie kindisch ich mich benahm.

Eine Hohe Tamrätin war sie! Mirona Thetin blieb ein paar Schritte von mir entfernt stehen und atmete schwer.

»Nun los, Admiral«, lachte sie herausfordernd. »Bringen Sie Ihre langen Beine in Schwung.«

*

Wieder wurde mir bewusst, dass ich mich selbst beobachtete. Mein Bewusstsein trennte sich wieder und verfolgte den weiteren Ablauf. Es war alles wie immer. Zuerst die Hoffnung, das Hochgefühl …

Und wieder war ich er. Oder war er ich?

Ich ging langsam auf sie zu. Sie blieb stehen und beobachtete mich mit zur Seite gelegtem Kopf. Als ich sie umarmte, wehrte sie sich nicht, aber sie schaute mich mit einem Blick an, der mich veranlasste, sie wieder freizugeben.

»Ich habe ein komisches Gefühl«, sagte sie. »Es ist, als würde uns jemand beobachten.«

»Unsinn«, entgegnete ich barsch. »Niemand ist hier.«

*

Wieder wurde mein Bewusstsein von meinem früheren Ich getrennt. Nie zuvor war mir die Doppeldeutigkeit der Aussage meiner toten Geliebten aufgefallen. Jetzt brannte sie sich quälend in meinen Geist.

Hatte ich mich schon immer in meiner schwärzesten Stunde beobachtet?

Ich wusste es nicht. Erneut ging das vorbestimmte Schauspiel weiter, mit mir in der Hauptrolle. Nichts konnte ich anders machen.

»Woran denken Sie, Admiral?«, unterbrach ihre Stimme meine Gedanken.

»An Sie«, erwiderte ich.

Ihr Gesicht wurde verschlossen. Sie faltete den Plan zusammen und schob ihn in die Gürteltasche zurück.

»Ich habe mich soeben entschlossen, die Suche nach der Geheimpositronik aufzuschieben«, sagte sie.

Ich starrte sie an. Die großen Scheinwerfer über der Plattform verliehen ihren samtbraunen Zügen einen eigenartigen Reiz. Ich sah, dass ihre Lippen bebten, und machte einen Schritt auf sie zu.

»Warten Sie, Admiral!«, stieß sie hervor. »Hier gibt es bestimmt einen behaglichen Wohnraum. In dieser technisch perfekten Umgebung könnte ich Sie nicht küssen.«

Sie lief vor mir her. Ihr Hintern war wunderschön. Ich folgte ihr von der Plattform in einen beleuchteten Gang. Natürlich, dies war die Hauptwelt der Meister der Insel, wer konnte das vergessen. Überall standen Transportwagen und Roboter. Ausgedehnte Rohrleitungssysteme führten unter der Decke entlang. Das Summen unsichtbarer Maschinen vermischte sich mit dem Rauschen des Blutes in meinen Ohren.

Ich war ihr völlig verfallen! Keine Bestürzung empfand ich bei diesem Gedanken, sondern Befriedigung. Es war ein Gefühl, das mich gleichzeitig beschwingte und demütigte, und ich genoss es. Ich nahm die Umgebung kaum wahr, denn meine Augen blieben auf Mirona gerichtet, als hätte ich geahnt, wie wenig Zeit uns noch blieb. Sie blieb stehen und stieß eine Tür auf.

»Ein Maschinenraum!«, sagte sie enttäuscht. »Wir suchen weiter.«

Wir bogen in einen kleineren Seitengang ein. Beim nächsten Versuch hatten wir mehr Glück und betraten einen quadratischen Raum, dessen eine Wand aus einer simulierten Aussicht auf ein lang gestrecktes Tal bestand. An einer anderen Wand stand ein gläserner Schrank mit eigenartig geformten Holzfiguren.

»Epoche des Kalgar-Evon«, murmelte sie, als sie eine der Figuren vorsichtig berührte. »Wer immer das gesammelt hat, war ein Mensch mit Verständnis für die Kunst.«

Ich stand inmitten des Raumes und sah zu, wie sie die Figuren bewunderte.

»Wir können sogar Musik machen«, sagte sie erfreut und deutete auf zwei spulenförmige Behälter an den Wänden.

»Ich glaube jedoch kaum, dass diese Art Musik Ihrem Geschmack entspricht, Admiral.«

Wie so oft stand ihr Tun im Gegensatz zu ihren Worten. Noch während ihrer Bemerkung schaltete sie das Abspielgerät ein. Eine schwermütige Melodie, gespielt von unbekannten Instrumenten, erklang und zog mich in ihren Bann.

Musik! Als ob mich Musik interessieren würde, wenn es sie gab. Mirona! Und sie sah mich an, so voller Sehnsucht, dass ich erkannte, wie wichtig sie war.

»Ich bin nicht wegen dieser Geheimpositronik gekommen«, sagte sie und kam auf mich zu.

»Ich auch nicht«, entgegnete ich.

Die Musik verschwamm in den Hintergrund, als ich sie in meinen Armen fühlte, der Raum versank im Nichts. Alles war nichts gegen sie. Mirona Thetin, die Tefroderin. Die Lemurerin.

*

Ich beobachtete mein früheres Ich, das der Frau in die Falle ging, ihr auf den Leim gehen wollte. Mirona? Faktor I, verbesserte ich mich selbst. Dann begann ich wieder zu denken.

Was geschah hier mit mir? Irgendetwas war anders, völlig anders als in meinen Erinnerungen. Ich hatte diese Szene unzählige Male erlebt, immer und immer wieder in meinen Gedanken, meiner Erinnerung. Ich war unfähig, auch nur die geringste Einzelheit zu vergessen.

Nun, jetzt war es anders als in meinen Erinnerungen. Eher nebenbei registrierte ich, dass ich wieder eine Einheit mit meinem früheren Ich bildete.

War ich er, war er ich? Es konnte keine Erinnerung, kein Traum sein. Meine Hand spürte durch das Material ihrer Kombination die feste Wölbung ihres Busens, spürte, wie sich die Brustwarzen versteiften, während sich gleichzeitig ihre Zunge Eingang in meinen Mund verschaffte. Unwillkürlich verkrampften sich meine Finger, was ihr einen unwilligen Ausruf entlockte. Sie schob mich zurück. Ich war Wachs in ihren Händen.

»Du tust mir weh, Admiral!«, hauchte sie mir ins Ohr, bevor sich ihre Hände mit den Magnetverschlüssen meiner Kombi beschäftigten.

Dann existierte nur noch sie für mich.

Mirona Thetin, die Tefroderin.

*

Die Erinnerung wurde zur Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit hatte sich verändert.

Das Glücksgefühl, das ich beim Erwachen empfand, wich der Bestürzung, als ich feststellte, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Mein Körper war wie paralysiert.

»Wieder wach, Admiral?«

Ihre Stimme klang so vertraut, als würden wir uns seit Jahrtausenden kennen. Aber ich konnte nicht reden. Da beugte sich ihr Gesicht über mich.

Mirona!

Obgleich ich rufen wollte, blieb es beim Aufschrei meiner Gedanken.

»Ich liebe dich, Admiral!«

Ich konnte spüren, wie sie im Raum auf und ab ging. Als sie wieder vor mir stand, hatte sie ihren Schutzanzug halb geschlossen.

»Und ich bin dir unendlich dankbar, Admiral!«

Täuschte ich mich oder schwang Trauer in ihrer Stimme mit?

»Ohne deine Hilfe wäre alles verloren gewesen.«

Ich begriff ihre Worte nicht. Meine Blicke waren eine stumme Frage. Sie schüttelte den Kopf.

»Du musst mich wirklich lieben, dass du noch immer nicht verstehst!«

Ihr Gesicht kam dem meinen sehr nah und ich roch ihr herbes Parfum.

*

Wieder wurden unsere Geister auseinandergerissen. Nun, ich wusste Bescheid. Warum dieses ganze Theater? Warum quälte man mich mit der Erinnerung an mein Schicksal, an meine verlorene Liebe?

Wenn diese nicht verloren ist, was dann, du Narr?

Plötzlich ergab das Ganze einen Sinn für mich. Mein Extrasinn hatte die einzig mögliche Erklärung gefunden.

Gleich darauf war mein Geist wieder mit meinem früheren Ich verbunden. Ich durchlebte den weiteren Ablauf wie im Zeitraffer. Es schien, als ob alles in verbeirasenden Bildern auf die Katastase der Tragöde zulaufen würde: dem Speerwurf!

»Während du schliefst, habe ich mich umgesehen. Der Zeittransmitter ist beschädigt, aber ich kann ihn reparieren. Das ist das Einzige, was zählt.«

Mirona war zurückgekehrt und erläuterte ihr weiteres Vorgehen: »Ich gehe zurück in die Vergangenheit. Genauer gesagt, in das Jahr 1971. Ich werde auf dem Mond des dritten Planeten des Solsystems landen und dort einen arkonidischen Forschungskreuzer vernichten.«

… Crest und Thora vernichten? Dann würde es kein Solares Imperium, keine Entwicklung der Menschheit geben.

Mirona lachte mich aus. »Was bietest du mir? Einen Planeten für zwei Galaxien! Ein armseliges Einsiedlerleben gegen die Macht über zwei Imperien!«

Mirona stellte mich in Frage.

»Prinzipien? Was hast du von deinen Prinzipien? Kannst du mit ihnen leben? Ernähren sie dich? Geben sie dir Macht? Küssen und umarmen sie dich?«

Mirona gab ihren Beschluss bekannt.

»Ich gehe jetzt zum Zeittransmitter und beginne mit der Reparatur. Willst du mich in die Vergangenheit begleiten?«

*

Mirona erzählte. Ich hörte ihre Schilderung, wie sie die Macht in Andromeda an sich gerissen, wie sie die sechs Rebellen getötet hatte:

»Vor zwanzigtausend Jahren rissen dreizehn reinrassige Lemurer die Macht an sich. Von Anfang an gelang es mir, meine wahre Identität zu verbergen. Schließlich erfuhren sechs MdI, wer ihr Anführer war. Ich habe sie alle sechs ermordet. Seit dieser Zeit beherrschten meine sechs verbliebenen Untergebenen und ich ganz Andromeda. Wir sind unsterblich. Ein unbekannter Wissenschaftler der Alt-Lemurer hatte Zellaktivatoren angefertigt, die sich beim Anlegen auf die Körperfrequenz des Trägers einstellten.«

Das klang logisch. Aber nichts, absolut nichts passte zusammen, denn ich verglich ihre Version der Geschichte mit dem, was ich viel, viel später von ihrer Halbschwester Ermigoa und ihrem Vater Selaron Merota erfahren hatte.

Mironas Geschichte darüber, wie die dreizehn Renegaten angeblich die Macht an sich gerissen haben sollten. Von ihrer Mutter, die ursprünglich diese Rebellion angeführt haben sollte, war keine Rede. Kein Wort von ihrem Vater und ihrer Schwester Ermigoa, die auch in meinen Armen gelegen hatte, deren Wärme ich ebenfalls vermeinte noch zu spüren. All das stimmte nicht!

Nochmals rief ich mir die wichtigsten Aussagen der Selaron-Fragmente aus meinem fotografischen Gedächtnis. Sie waren aus einem Speicherkristall entschlüsselt worden, der sich in Ermigoas Besitz befand.

Die Lemurerin Agaia Thetin entdeckte gemeinsam mit dem Wissenschaftler Selaron Merota mehr als 20.000 Jahre nach dem Rückzug der Lemurer aus der Milchstraße auf einem Planeten der Sonne Luum in der südlichen Randzone von Andromeda in einem von Einheimischen als Tempel benutzten Bauwerk den sogenannten Atem der Schöpfung: ein heilendes Strahlungsfeld, das bei Verletzungen eine Zellregeneration bewirkte und ganz allgemein eine lebensverlängernde Wirkung hatte.

Selaron zeugte mit Agaia die Tochter Mirona und mit der Eingeborenen Ermia die Tochter Ermigoa. Er wurde zum Schmied der Unsterblichkeit: In jahrzehntelanger Arbeit gelang es ihm, das Strahlungsfeld in Zellaktivatoren zu bündeln. Er machte seine geliebte Frau unsterblich – und mächtig. Agaia wurde als Faktor I zum Kopf einer Rebellion gegen das Tamanium in Andromeda.

Später tötete Mirona ihre Mutter, indem sie deren Zellaktivator zu einem Experiment missbrauchte, und übernahm ihre Rolle als Faktor I der Meister der Insel. Während Ermigoa und Selaron fliehen und sich verbergen konnten, riss sie die Macht in Andromeda an sich.

Nach den Selaron-Fragmenten hätte es insgesamt sechzehn Zellaktivatoren gegeben, während Mirona mir von dreizehn erzählt hatte.

Und Mirona hatte keinerlei Grund gehabt zu lügen. Sie befand sich in der Situation der absoluten Überlegenheit, sie hatte mich paralysiert und war auf dem Weg zu ihrem endgültigen Triumph.

Ich hatte nicht darüber nachgedacht. Ich hatte Mirona geliebt, und ich hatte Mirona vergessen. Nach ihrem Tod kamen die Zeitpolizei, die Larenherrschaft, die Provcon-Faust, der Aufbruch mit der SOL. Während in der Milchstraße nach der Rückkehr von Terra und Luna das Unternehmen Pilgervater für eine Neubesiedlung der Erde sorgte, verschlug es mich »jenseits der Materiequellen« zu den Kosmokraten, später erneut auf die SOL und schließlich in die Rolle des Orakels von Krandhor.

Nie hatte ich Zeit und Muße besessen, die überlieferte Geschichte der Meister der Insel zu reflektieren. Ich schreckte auch davor zurück. Jeder Gedanke daran barg auch die Erinnerung an meine verlorene Liebe.

Und es gibt noch eine dritte Version, meldete sich mein Extrasinn. Das macht die ganze Geschichte noch verrückter.

Das war die Version, die uns ES, die damals angeblich »geistig verwirrte« Superintelligenz, im Jahre 1173 NGZ anlässlich der sogenannten »Zeitschau« auf dem Planeten History aufgetischt hatte.

Nach dieser Version berief ES die nach Andromeda ausgewanderten Lemurer zu seinen Helfern und zum beherrschenden Volk der Lokalen Gruppe. Er setzte ihnen eine Frist von zwanzigtausend Jahren, bis in der Milchstraße aus den Nachkommen der Lemurer ein neues Hilfsvolk herangereift sei.

Ernst Ellert soll als Bote von ES dem lemurischen Wissenschaftler Nermo Dhelim vierzehn zylindrische Zellaktivatoren übergeben haben, die sich innerhalb einiger Tage irreversibel auf ihre Träger einstellten.

Nermo Dhelim trug eines der Geräte selbst und übergab ein weiteres seiner Tochter Ermigoa. Seine Geliebte, die Tamrätin Mirona Thetin, erfuhr von den Zellaktivatoren und raubte die zwölf freien Geräte. Danach tötete sie Dhelim, indem sie ihm seinen Aktivator abnahm. Dieser explodierte. Während sich Ermigoa verbergen konnte, fand Mirona Thetin in den folgenden Jahren elf Verbündete, denen sie die verbliebenen Aktivatoren übergab: die Meister der Insel.

Welche Version entsprach denn nun der Wahrheit? Gab es die Wahrheit überhaupt? Bevor ich mich weiter mit diesem Widersinn beschäftigen konnte, verblasste meine Wahrnehmung, ich wurde wieder eins mit der jüngeren Version meines Selbst, schlaglichtartig schienen Bilder in meinem Geist auf.

… Krantar, der Barbar …

… das Angebot sie zu verstecken …

… der Kampf vor dem Transmitter …

… das Rohr, das ihn mit anderen Trümmern unter sich begrub …

… Mirona, die auf den Transmitter zu ging …

… sein vergeblicher Versuch, sie mit dem Kombistrahler zu stoppen …

… dann Krantar, der ihn von den Trümmern befreite …

… der Mord an Krantar …

… der Wille zur Macht …

… die Macht der Liebe …

… der Schutzschirm …

… der Speer …

… Die Liebe …

Mirona! Ich nahm ihr Bild in mich auf. Wir hatten uns geliebt, zum ersten Mal, und danach hatte sie mich paralysiert. Sie hatte mir eröffnet, wer sie war. Sie wollte in die Vergangenheit reisen, um den Aufbruch der Menschheit zu den Sternen an der Wurzel zu unterbinden. Niemand mehr hätte sie aufhalten können.

Sie schritt auf den Zeittransmitter zu, der das Verderben für das gesamte Solare Imperium und all seine Menschen bedeutete. Gegen den dunklen Hintergrund der Transmitteröffnung wirkte sie wie eine ausgestanzte Silhouette. Ich fühlte einen Druck auf meinem Körper, als legten sich unsichtbare Hände auf mich. Rote Schleier tanzten vor meinen Augen. Ich merkte, dass ich mich bewegte, als habe ein Unsichtbarer die Kontrolle über meine Muskeln übernommen.

Nach ihrem Schuss waren Teile der Decke über mir zusammengebrochen. Sie hatte mich tot geglaubt, war zu mir gekommen. Nur um mich liegenzulassen, eingeklemmt und dem Tode geweiht, sobald sie bemerkte, dass ich immer noch am Leben war.

Mit dem Speer des Primitiven hatte ich meinen weggerutschten Strahler geangelt. Jetzt war er die einzige Waffe, die ich noch hatte. Und sie hatte keine Ahnung, dass ich damit umgehen konnte.

Ich holte mit dem rechten Arm weit aus. Ich fühlte, wie er sich anspannte, wie alle Kraft, die noch in mir war, in den rechten Arm strömte. Diese Konzentration war fast unheimlich, denn ich hatte sie niemals zuvor an mir beobachtet.

Irgendwann einmal in der Vergangenheit hatte ich als Gladiator in einer römischen Arena gestanden. Das Bild in meiner Erinnerung belebte sich, und ich erinnerte mich an den riesenhaften Nubier, der mir als Gegner entgegengetreten war. Ich vermeinte sogar den Staub zu riechen, einen Staub, der von Blut und Schweiß getränkt war und in den Augen brannte. Da war der Lärm der Zuschauer, das Auf- und Abschwellen ihres Gebrülls und die Rufe der Wächter an den Ausgängen. Ich vermeinte, die riesigen Füße meines Gegners über den Boden schleifen zu hören, während das Netz in seiner Hand raschelte.

Und dann, von einem Moment auf den nächsten, verblasste das Bild. Ich war im Jetzt, und vor mir stand sie.

*

Mirona … der Speer … Mirona …

Die Zeit schien stillzustehen. Meine Hand fühlte das Holz des Speeres. Mir war, als ob sich mein Tastsinn bis in die molekulare Ebene erstreckte. Hier eine Scharte … da ein Rest Rinde … noch eine Unebenheit … ein Spleiß, der sich in meinen Handballen bohrte …

Die Zeit, das ganze Universum schien stillzustehen, abzuwarten!

Der Speer … Mirona … Der Speer

Mein Geist versank in einem Kaleidoskop von aufeinanderfolgenden Bildern, während nach wie vor meine gesamte Kraft in die Einheit aus rechtem Arm und dem durch meine Hand umklammerten Speerschaft strömte.

Blackout!

»Willst du mich in die Vergangenheit begleiten?«, fragte die Lemurerin.

»Nein«, antwortete der Arkonide.

Sie beugte sich über ihn und küsste ihn.

»Leb wohl, Admiral!«, sagte sie sanft.

Er konnte nicht sehen, wie sie hinausging, weil er den Kopf nicht wenden konnte. Aber er hörte ihre Schritte. Es waren die festen Schritte einer zu allem entschlossenen Frau.

Sie hatte keine Wahl, wenn sie nicht alles aufgeben wollte, für das ihr bisheriges Leben stand. Sie konnte kapitulieren, um zu leben, aber was für ein Leben würde sie erwarten?

Nein, zur Kapitulation war sie nicht geschaffen, auch nicht dazu, sich in die Abhängigkeit von einem Mann zu begeben, auch wenn dieser Atlan hieß.

Wenig später aktivierte sie einen ihrer besonderen Doppelgänger, die genau für diesen Zweck an ausgewählten Orten über ganz Andromeda verteilt waren. Mirona Thetin. Sie würde leben …

Blackout!

Vor dem kleinen Schiff tefrodischer Bauart lag ein blauer Planet, um den ein großer, atmosphärenloser Mond kreiste. Das Fahrzeug ging im Schutz seines Deflektorfeldes in einen engen Orbit um den Trabanten.

Blackout!

Aus den Tiefen des interplanetaren Raumes nahm ein fünfhundert Meter durchmessender Kugelgigant, der auf der Höhe des fünften Planeten aus dem Nichts gefallen war, Kurs auf den dritten Planeten. An Bord befanden sich groß gewachsene Humanoide mit weißen Haaren und roten Augen. Bis auf zwei Ausnahmen interessierten sie sich ausschließlich für die Simultanprojektoren der Fiktiv-Spiele.

Blackout!

Der Kugelgigant schwenkte in eine Landeparabel ein, die am Boden eines Meteoritenkraters am Südpol des Mondes enden sollte. Doch während das Landemanöver eingeleitet wurde, schlug aus dem Nichts ein Impulsstrahl in den Ringwulst.

Er machte das Schiff manövrierunfähig. Der Raumer stürzte unkontrolliert auf den Mond und rasierte dabei das Ringgebirge des Kraters ab. Umfangreiche Schäden waren die Folge.

Blackout!

Die schwarzhaarige Frau mit der samtfarbenen Haut starrte wie paralysiert auf die Bildübertragung, die den abgestürzten Kugelraumer zeigte. Von ihrer engen, figurbetonten Kombination mit dem goldenen Symbol der verbundenen Galaxien perlte die Flüssigkeit ab.

Die rann aus dem zersplitterten Glas, das sie in der linken Hand hielt. Der helle Wein mischte sich mit dem Blut, das aus zahlreichen Schnittwunden tropfte und Streifen auf dem silbernen Material der Kombination hinterließ.

Minuten um Minuten vergingen, während die ehemalige Herrin der Sterne auf das havarierte Schiff starrte. Ihre rechte Hand ruhte auf den Kontrollen des Gegenpolwaffensystems, welches das Verderben für den angeschlagenen Kugelraumer bringen würde.

Nur ein Knopfdruck, nur eine minimale Bewegung der rechten Hand, und die derzeit bekannte Geschichte der Menschheit wäre ungeschehen für alle Zeiten.

Doch nichts geschah. Mironas Hand bewegte sich nicht. Tage später, nachdem die Lemurerin den Start und die anschließende Landung eines kernchemisch angetriebenen, dreistufigen Raumschiffes beobachtet hatte, beschleunigte ihr Schiff und verschwand zwischen den Sternen.

Der Kreis hatte sich geschlossen. Oder war es bereits der Beginn eines anderen Kreises?

*

Mein Speer bohrte sich in die Brust der Lemurerin. Ich sah, wie die Hände meiner Gegnerin hoch zuckten und den Speerschaft umklammerten. Dann brach sie zusammen.

Ich sank vor ihr nieder und sah, dass sie noch lebte. Blut drang aus ihrem Mund. Ihr Gesicht war blass, es bildete einen eigenartigen Kontrast zu den dunklen Haaren.

Sie versuchte mir zuzulächeln, aber der Schmerz machte eine Grimasse daraus.

»Ich hätte dich töten können, Admiral!«

Kaum konnte ich sie verstehen.

Sie zeigte mir ein Gerät, drückte den roten Knopf, und der Abwehrschirm legte sich um den Transmitter. Der Platz, von dem ich den Speer geworfen hatte, lag unmittelbar unter der Energieglocke. Ein unmittelbarer Aufprall der Energie hätte mich getötet. Mirona hatte die Gelegenheit, mich zu vernichten, ungenutzt verstreichen lassen.

Sie lächelte verzerrt. Wie schön sie auch dabei war!

»Ich habe oft gelesen, dass der Tod Frieden bringt, Arkonide. Für mich bedeutet er nur das Ende von allem, was mir wichtig erschien.«

Oder der Anfang von etwas völlig Neuem, ergänzte mein Extrasinn lautlos. Ich setzte mich neben sie auf den Boden. Dann wurde mir klar, dass ich sie an die Oberfläche des explodierenden Planeten bringen musste, damit sie ihr Grab zwischen den Sternen bekam.

*

Wieder wurde mein Geist getrennt, doch diesmal stürzte ich zurück ins Nichts und fand mich in meinem Körper wieder. In meiner Nähe lagen Tolotos und Osiris, die beide bewusstlos waren.

Langsam richtete mich auf, nur um statt in Mironas wunderschönes Antlitz in ein grinsendes, rotes Albtraumgesicht zu blicken.

Pest und Cholera: Prosperoh

Auf den ersten Blick wirkte der Prinz der Zechonen wie eine Witzfigur, doch ein Blick in die stechenden Augen, die den roten, kahl geschorenen Schädel beherrschten, belehrte mich eines Besseren. Prosperoh war alles andere als die perverse Witzfigur, als die er sich gern präsentierte.

»Na, Arkonide, schöne Träume gehabt? Wie wäre es mit einer weiteren Version deiner heimlichen Leidenschaften?«

Bevor Atlan antworten konnte, begann erneut der Sturz in die Unendlichkeit. Doch dieses Mal ging es schneller, und es beschränkte sich auf die bekannten kaleidoskopartigen Bilder.

Auch in dieser Version ging Mirona durch den Zeittransmitter. Wenig später fand ich mich auf der Erde wieder, in meiner Tiefseekuppel. Rico zeigte mir die Bilder einer durch einen Atomkrieg zerstörten Erde, wo die wenigen Überlebenden in einer durch den atomaren Winter geprägten Umwelt dahinvegetierten.

Wenig später erschien Mirona und holte mich auf ein tefrodisches Schiff, das in den Erdorbit gegangen war. Tefrodische Einsatzkommandos landeten auf der Erde und beseitigten die schlimmsten Schäden. Terra wurde offiziell dem Tamanium eingegliedert und wieder in Lemur umbenannt. Mirona selbst übernahm die Koordination der Hilfsmaßnahmen und die Leitung des Wiederaufbaus.

Und ich? Ich war zu diesem Zeitpunkt bereits als Gonozal VIII. der Imperator des Großen Imperiums und der engste Verbündete Mirona Thetins. Zusammen waren wir dabei, unsere Macht über zwei Galaxien zu festigen. Irgendwann wurde ich von Mirona auf die Erde eingeladen, wo die öffentliche Hinrichtung eines Rebellen namens Reginald Bull bevorstehen sollte. Ich verstand zwar nicht, was ich dabei sollte, aber das ist noch eine ganz andere Geschichte …

Schließlich wurde ich wieder ins Nichts gerissen und sah erneut in die grinsende Albtraumfratze Prosperohs.

Sollte das so weitergehen? Plötzlich meldete sich mein Extrasinn. Denk an die Pseudorealität der Abruse, du Narr. Wenn Prosperoh mit dir ein ähnliches Spiel vorhat, wird er deine Persönlichkeit brechen. Du musst etwas dagegen tun.

Und schon meldete sich der grinsende Prinz wieder zu Wort.

»Wie hat dir diese Version gefallen? Wir können das noch viel …«

»Nein, Prinz Prosperoh, bitte hören Sie zu. Es gibt da etwas, das sie unbedingt wissen müssen.«

Der Zechone kniff die Augen zusammen.

»Was willst du, Arkonide?«

»Prinz, Sie haben sich als persönlicher Bote des Teufels MODROR bezeichnet, aber nun scheint es, dass Ihr Teufel Ihnen nicht mehr traut.«

Prosperoh blickte mich nun fragend an.

»Sie sind doch mit DORGON verbunden und spüren alles, was innerhalb des Kosmotarchen vorgeht?«

»Natürlich. Ich bin allmächtig und unbesiegbar.«

»Das habe ich inzwischen auch erkannt. Deshalb mein Prinz, sollten Sie wissen, dass inzwischen Rodrom eingetroffen ist, der ebenfalls DORGON übernehmen möchte.«

»Rodrom? Das kann nicht sein! Der Rote Tod hat andere Aufgaben!«

»Prinz, prüfen Sie es selbst, ob ich die Wahrheit spreche.«

Es vergingen einige Minuten, in denen Prosperoh reglos vor sich hin starrte. Dann hob er seinen fratzenhaften Kopf.

»Du hast die Wahrheit gesagt, Arkonide. Der Rote Tod will meinen Platz einnehmen. Das werde ich nicht zulassen!«

9. Zwischenspiel II

Surtur fährt von Süden mit flammendem Schwert,

Von seiner Klinge scheint die Sonne der Götter.

Steinberge stürzen, Riesinnen straucheln,

Zu Hel fahren Helden, der Himmel klafft.

Aus der Völuspá, Der Seherin Gesicht

*

Das kleine Schiff mit dem Vorjul an Bord fiel in der Nähe einer unscheinbaren Sonne vom Typ G aus dem Hyperraum. Das System befand sich in unmittelbarer Nähe des Zentrums-Black-Hole der Galaxie Manjardon und bot astrophysisch eine grandiose Aussicht.

Doch der zweiköpfige Flüchtling interessierte sich nicht im Geringsten dafür. Das kleine Schiff ging in eine Parkbahn um den vierten Planeten, der von einer üppigen Vegetation bedeckt war.

»Wir müssen Rodrom finden und ihn vom Scheitern unserer Mission unterrichten.«

»Nein, nein … er wird böse sein und uns bestrafen. Wir sind doch endlich frei, warum fliehen wir nicht einfach und verstecken uns irgendwo?«

»Du bist und bleibst ein Waschlappen. Der Herr ist gütig, warum sollen wir uns verstecken? Wir werden ihm helfen … und dann, dann wird er uns belohnen!«

Der zweiköpfige Vorjul entspannte sich und Rog schloss die Augen. Gle tat es ihm wenig später gleich. Die beiden Bewusstseinsteile verschmolzen in Trance und bildeten das gemeinsame Wesen Roggle. In diesem Zustand war der Vorjul körperlich zwar handlungsunfähig, besaß jedoch starke telepathische Fähigkeiten. Der gemeinsame Geist griff nach dem nahen Planeten, und Roggle suchte nach dem vertrauten mentalen Muster des Roten Todes.

Rodrom, Herr … Roggle ist gekommen, wie kann Roggle dem Herrn helfen?

Es dauerte einen Moment, doch dann erhielt der vereinigte Geist der zwei Vorjuls Antwort.

Lande auf dem Planeten und warte auf weitere Anweisungen. Ich melde mich wieder bei dir!

Das Mischwesen erwachte aus seiner Trance und landete das kleine Schiff am Ufer eines Sees.

Die Ankunft

Rodrom

Ich schaute mit einem Gefühl grenzenloser Befriedigung auf Noras Überreste. Ich hatte die Körperteile der schönen Alyskerin persönlich aus dem kleinen Fluchtschiff geschafft, mit dem ich von NESJOR geflohen war. Dabei hatte ich auf jede technische Hilfe verzichtet und den geschändeten Körper selbst nach draußen getragen, Stück für Stück.

Nachdem ich den Passage-Planeten betreten hatte, war mein Geist beiläufig in Kontakt mit DORGON getreten. Schon dies hatte genügt, um den lebensuntüchtigen Zwillingsbruder meines Lehrmeisters MODROR bis ins Mark zu erschüttern. Welch ein kläglicher Gegner! Nachdem ich ein wenig mit seinen Ängsten gespielt und seinen Lebenshort in ein Chaos aus Gewalt und Hass verwandelt hatte, zog ich mich wieder zurück.

Die augenscheinliche Schwäche des Kosmotarchen bestärkte meinen Entschluss, den Plan MODRORS zu modifizieren. Mein Ziel war nicht mehr, DORGON durch die eingeschleusten Zechonen unter ihrem Prinzen Prosperoh in den Wahnsinn zu treiben. Nein, ich beabsichtigte, DORGON selbst zu übernehmen.

Inzwischen war ich durch die Hilfe meines Meisters stark genug, um die positive Persönlichkeit von MODRORS Bruder, die sich um den ehemaligen Kosmokraten SOLMATH kristallisiert hatte, zu destabilisieren und aus den Resten DORGONS eine neue Entität zu formen.

MODROR würde einen würdigen Bruder im Geiste bekommen, gemeinsam würden wir die Herrschaft der Kosmokraten und Chaotarchen beenden und eine neue Ordnung schaffen. Unsere Ordnung!

Laut begann ich zu lachen. Ja, es war Zeit, auf eine höhere Ebene zu wechseln. Aber vorher würde ich noch reichlich Spaß haben!

Mein Blick fiel auf den weiblichen Torso, die blutverschmierten Brüste, den von parallel gezogenen Schnitten durchzogenen Bauch. Er würde meine Wirkung auf DORGON verstärken. Sollte ich die Arme, die Finger und Beine und das Gesicht doch mitnehmen? Sie würden DORGON erschrecken.

Nachdem ich alles fein säuberlich in einer Plane zusammengepackt hatte, verschnürte ich sie mit einem Strick, den ich vorsorglich immer bei mir hatte, zu einem handlichen Paket. Der weitere Weg würde für die ehemalige Ortungsleiterin der Raumstation NESJOR etwas unbequem werden. Ich gedachte, sie einfach hinter mir herzuziehen. Ihr Glück, dass sie tot war. Vielleicht hätte mich der zusätzliche Spaß auch abgelenkt.

Bevor ich mich auf die Wanderschaft machte, erreichte mich der Ruf des doppelköpfigen Vorjuls, der zu einem hilfreichen Diener geworden war. Dieser Dummkopf hatte es natürlich nicht geschafft, die Reste meines elendigen Volkes dahin zu schicken, wo sie hingehörten.

Nun gut, man kann nicht alles auf einmal haben, ich würde mich irgendwann später gebührend um meine Brüder und vor allem meine Schwestern kümmern müssen. So gesehen war sein Versagen keine größere Störung meiner Pläne. Aber der doppelköpfige Roggle würde etwas leiden müssen, denn es ging nicht an, dass meine Befehle nicht ausgeführt wurden. Doch im Augenblick war es sinnvoller, den Vorjul zum Passage-Tor zu bestellen.

*

Meine mentalen Fühler zeigten mir zuverlässig den Weg zu dem Passage-Tor DORGONS. Ich erkannte auch, dass ich nicht der erste Besucher war. Mehrere Kosmokratendiener waren bereits angekommen, um DORGON zu retten. Nun, auch die konnten warten. Sobald ich DORGON übernommen haben würde, versprachen sie mir weiterhin viel Spaß.

Einige Augenblicke später materialisierte ich am Rand eines weiträumigen Gebäudekomplexes, der die Spuren gnadenloser Kämpfe trug. Meine Sinne nahmen den köstlichen Geruch von Tod und Moder auf, der den gesamten Komplex durchzog. Prosperoh und seine Zechonen schienen bereits wirksam zu werden. Der beginnende Wahnsinn des Kosmotarchen stand außer Frage. Mit weit geöffneten Sinnen schritt ich durch die Anlage und genoss die Atmosphäre von Grausamkeit, Trauer und Tod.

Hier war ich genau richtig. Mein Weg in den Kosmotarchen würde hier beginnen und nicht in einem der friedlichen Tempel.

Wieder griff mein Geist nach draußen und fand den Vorjul. Es war an der Zeit, dass sich dieser nützlich machte und sich die Gnade des Weiterlebens verdiente.

Die Ankunft

Rog und Gle hatten sich auf einen Landeplatz am Rande des zentralen Ozeans geeinigt. Beide hofften, dass Rodrom sie vergessen würde. Aber dem war nicht so. Bereits kurz nach der Landung meldete sich die mentale Stimme des Roten Todes wieder.

Fliegt diese Koordinaten an, ich warte dort auf euch. Und lasst mich nicht lange warten!

Dieser kurze mentale Kontakt löste Panik aus. Beide Hälften des Vorjuls versuchten, die Kontrolle über den gemeinsamen Körper zu erlangen – und blockierten sich gegenseitig.

»Gle, beruhige dich. Der Herr wartet auf uns!«

»Nein, wir müssen fliehen. Er wird uns strafen, uns töten. Roggle hat versagt.«

»Nein Gle, wenn der Herr uns bestrafen wollte, hätte er es schon längst getan. Aber er wird uns sicher bestrafen, wenn wir ihn noch länger warten lassen.«

Gle beruhigte sich etwas und überließ seinem Bruder die Kontrolle über den gemeinsamen Körper. Dieser startete das kleine Raumschiff und flog zu den angegebenen Koordinaten.

*

Rog und Gle verließen das Raumschiff und eilten zum wartenden Roten Tod. Dabei machte der gemeinsame Körper groteske Sprünge, denn die Bewusstseinshälften vergaßen die Koordination der Bewegungen der beiden Körperteile.

Da seid ihr ja endlich. Ich möchte, dass ihr alle Leichen zusammentragt und in Form eines siebeneckigen Sterns aufschichtet. Und beeilt euch, sonst mache ich euch Beine!

»Jawohl, Herr! Roggle eilt, Roggle wird alles richtig machen!«

Der Vorjul hetzte durch die Trümmerlandschaft und häufte Berge von Leichen aller möglichen Lebewesen auf den Platz vor der Tempelpyramide. Nachdem er die Umgebung gesäubert hatte, begann er die Leichen entsprechend Rodroms Anweisungen aufzuschichten.

Nach und nach entstand so ein massiver siebeneckiger Stern, der aus den sterblichen Überresten unzähliger Lebewesen gebildet wurde. Roggle kauerte sich am Rand des Gebildes nieder. Keuchend zog er etwas frischere Luft in seine Lungen. Der Gestank der Toten war unbeschreiblich, doch Rodrom schien ihn zu genießen.

Roggle dagegen war am Ende. Er hatte bereits mehrmals seinen Magen von innen nach außen gekehrt und wünschte sich nur noch zu sterben. Doch der Rote Tod winkte den Vorjul zu sich.

Du kannst dich jetzt entfernen, Roggle, ich brauch dich hier nicht mehr. Aber bleibe noch in der Nähe. Es kann sein, dass ich dich später noch einmal benötige.

Die Transformation

Rodrom

Endlich war die Karikatur eines Lebewesens fertig geworden. Die Leichen der ehemaligen Diener DORGONS waren in einem siebenzackigen Stern aufgeschichtet, einem uralten magischen Symbol meiner Heimat Alysk, das Macht über höhere Ebenen des Seins symbolisierte.

Normalerweise glaubte ich zwar nicht an solchen Schnickschnack, aber schaden konnte es auch nicht. Natürlich wäre es kein Problem für mich gewesen, die Leichen mit mentaler Bewegungskontrolle aufzuhäufen, aber so war es viel lustiger. Mir hatte es vor allem Spaß gemacht zuzusehen, wie der Vorjul sich die Seele aus dem Leib kotzte.

Nun denn, jetzt fehlte noch die Krönung des Ganzen. Ich blieb sinnend vor dem Monument des Todes stehen, doch es half alles nichts. Langsam begann ich, die rote Kampfkombination abzulegen, der ich den sinnigen Namen Roter Tod verdankte. Bei dem, was ich nun vorhatte, würde sie nur stören.

Nach einem Augenblick des Zögerns riss ich mir auch die Unterkleidung vom Leib. Wenn schon, denn schon, sagte ich mir, innerlich grinsend. Nackt griff ich mir die Überreste der Alyskerin und begann, den Leichenberg zu erklimmen.

Das war einfacher gesagt als getan, denn die toten Körper rutschten weg, wenn man auf sie trat, doch schließlich stand ich auf dem Gipfel. Langsam setzte ich mich nieder und begann, die Leichenteile meiner Artgenossin um mich zu positionieren. Als Krönung meines Arrangements nahm ich den abgetrennten Kopf und blickte in das verbliebene, vor Angst und Qual weit aufgerissene Auge, bevor ich den Schädel neben mir platzierte. Es war soweit …

Zittere DORGON, erbebe, der Rote Tod ist angekommen – Angst, Hass und Qualen werden dich verschlingen!

*

Mein Geist öffnete sich und griff auf die Energien des übergeordneten Seins zurück. Durch die Gnade meines Lehrmeisters MODROR durchbrach mein Bewusstsein seit der Wiedergeburt auf Beschryr fast mühelos die Grenzen zwischen den »Niederungen« des normalen Universums und dem »Raum hinter den Materiequellen«.

Mein Meister hatte mir einen kleinen Teil seiner Macht geschenkt und mich über das Leben der »Niederungen« erhoben. Zusammen würden wir nach der Übernahme DORGONS das Universum neu erschaffen, MODROR als der Meister und ich als seine Geißel, um die Niederungen und die Hohen Mächte zu züchtigen.

Nach der Ausschaltung DORGONS würde nur noch KAHABA zwischen uns und der absoluten Herrschaft über das Multiversum stehen, doch auch die Macht der Hure war nicht unbegrenzt.

Meine geistigen Fühler verbanden sich mit dem Kosmotarchen.

Endlich war es soweit. DORGON würde vergehen, würde sich selbst auflösen und mir die leere Hülle seines geistigen Organismus zurücklassen, den ich mit meinem Bewusstsein, mit der dunklen Macht MODRORS füllen würde, DORGON würde vergehen, seine Macht als Kosmotarch aber weiter bestehen – in mir!

Allumfassend, diesseits und jenseits der Materiequellen …!

Der erste Kreis der Hölle

Ich …, wer war ich? Wo …? Wann …?

Mein Geist erfasste die multiplen Möglichkeiten der gegenwärtigen Entwicklung und sah, wie sich die gegenwärtige Wirklichkeit auf der Quantenebene in unendlich viele parallele Universen aufspaltete und in der Unendlichkeit verloren ging.

Jetzt erst begriff ich, über welche Macht mein Herr und Meister verfügte, und welche Macht ich in Kürze erlangen würde. Gleichzeitig fühlte ich, wie mir immer neue Mentalenergie über die bestehende Verbindung zu DORGON zufloss. Ich konzentrierte mich auf meinen Plan und begann, die parallelen Wirklichkeiten auszublenden.

Vor meinem inneren Auge entstand eine imaginäre Energieblase, deren strahlendes Gold durch schmutzige rote und violette Flecken verunreinigt wurde. Ich wusste, dass diese Blase mein Ziel verkörperte: DORGON!

Gleichzeitig bemerkte ich, dass eine andere Blase dabei war, sich anzunähern. Ich schickte einen Fühler aus. Es war ein Kosmokrat, der kurz davorstand, in Panik auszubrechen. Lachend schlug ich zu. Mein mentaler Fausthieb trieb den Vertreter der Ordnungsmächte durch die Branen einiger Universen und löschte ganze Galaxien aus.

Dann erweiterte sich meine Wahrnehmung, mein mentaler Blick durchdrang die Materie bis auf die Quantenebene – und ich verstand endlich:

Hier lag das wahre Ziel meines Meisters, hier lag die Herrschaft über das Multiversum. Der Zufall, das unbeeinflusste Kommen und Gehen der virtuellen Teilchen im Quantenschaum trotzte jeder Ordnung, jedem Herrschaftsanspruch.

Wenig später bemerkte ich eine zweite Entität, die sich näherte. Von ihr ging ein mentales Gefühl der Belustigung aus.

Na, so ungestüm junger Freund? Aber das ist das Vorrecht der Jugend!

Einen Moment überlegte ich, ob ich ihn ebenfalls zum Teufel schicken sollte, doch dann erkannte ich seine mentale Signatur – AMUN! Der Initiator der Geburt meines Meisters.

Wieder erfüllte mentale Belustigung den Raum zwischen den Dimensionen.

Du bist auf dem richtigen Weg! Nur MODROR und jetzt du können den Fortschritt, die Weiterentwicklung der Hohen Mächte einleiten. Übernehme DORGON, er stellt die Voraussetzung dar, dass MODROR seine Bestimmung erfüllen kann.

Danach wechselte die mentale Belustigung in reinen Hass, ein Gefühl, das mir nur zu vertraut war.

Wir müssen endlich die Grenzen der Entropie überwinden und die Herrschaft dieser Ungeheuerlichkeit über den Zufall beenden. KAHABA, die Hure muss vernichtet, die Ultimativen Fragen müssen beantwortet und das GESETZ in unserem Sinne abgewandelt werden.

Wieder eine mentale Pause, während sich die Bewusstseinsimpulse des Kosmokraten entfernten. AMUN zog sich wieder zurück, doch schien er seine mentale Abschirmung vernachlässigt haben, denn ich konnte weiter seine Gedanken verfolgen, und die waren mir äußerst sympathisch.

KAHABA wird bezahlen, bezahlen für jede Niederlage, jede Demütigung, die sie uns Mächtigen jemals zugefügt hat.

Der Kosmokrat verlor sich für Zeitspannen, die zwischen der Entstehung und Vernichtung eines Quants lagen, in der Vorstellung, wie er KAHABA oder SI KITU, wie sie sich selbst nannte, in einem Dimensionsgefängnis unschädlich machen würde, allein, nur seiner Rache ausgeliefert.

Wieder amüsierte mich der Kosmokrat und ich fragte mich, für welchen Fortschritt der Evolution er wohl stehen sollte. Nun, ich war mit seinen Plänen einverstanden … nun ja, im Falle der Hure wollte ich dann doch noch ein Wort mitreden.

Aber das konnte warten, noch war es nicht soweit. Und was die Beantwortung der Dritten Ultimativen Frage anging, nun ja, da würde sich AMUN noch gewaltig wundern.

Und dann ging meine mentale Energieblase auf Kollisionskurs …

*

Ich war innerhalb des Kosmotarchen, DORGON hatte sich gegen meine »Schwarze Seele« nicht verteidigt, im Gegenteil! Ich hatte den Eindruck, dass er sich von Panik erfüllt von mir zurückgezogen hatte, noch bevor ich meinen Angriff beginnen konnte. Fast schämte ich mich für diese Schwäche, war er doch der Bruder meines Meisters.

Durch die Tempelpyramide bestand weiter eine Verbindung mit meinem Handlungskörper. Alles war bereit, der Spaß konnte beginnen. Ich begann, mich zu erinnern, und schickte meine Gefühle, meine Wollust, meinen Blutrausch in Richtung der goldenen Blase, die das Zentrum der Macht der Entität darstellte.


… Frau war mit gespreizten Armen und Beinen an zwei Stalagnaten gefesselt. Nur die Stricke verhinderten, dass sie zu Boden sackte. Ihre blonden Haare hingen wie ihr Kopf nach unten und bedeckten Teile ihrer Brüste. Blutige Striemen …


… das gequälte Stöhnen der Frau. Ich ließ meinen Gedanken freien Lauf und stellte mir vor, wie der Mann die Nadeln ins Fleisch seines Opfers trieb. Die Imagination von tropfendem Blut …


… den makellosen Körper von Vita Etan. Bis auf die gebrochene Nase und das Blut, das auf ihren Oberkörper tropfte, war nichts an ihr auszusetzen. Sie war immer noch bewusstlos, daher hing ihr Kopf nach unten. Ihre Arme hatte ich an das Andreaskreuz gebunden. Neben ihr befand sich ein Tisch mit meinem Werkzeug …


… erinnerte ich mich an die Bilder … Lavaströme hatten sich durch die Straßen von Milio gewälzt. Die Cluverianer waren von Panik erfüllt geflüchtet …


… aktivierte ich den Gedankenübertrager und griff in die Gehirne der Sterbenden. Millionenfache Panik und Angst schlugen einem Tsunami gleich über mir zusammen und ließen mich vor Freude zittern. Neben den aufgewühlten Emotionen …


Und so ging es weiter. Ich schwelgte in Erlebtem. Erinnerung um Erinnerung schleuderte ich DORGON entgegen und vergaß dabei nicht, dem Kosmotarchen meine Gefühle, meine perversen Gelüste bis ins letzte Detail auszumalen. So vergingen die Stunden.

*

Schließlich war soweit! Die Festung war, bildlich gesprochen, sturmreif geschossen. Meine Gefühle, meine Erinnerungen, die ich über unsere mentale Verbindung auf den Kosmotarchen übertrug, hatten DORGONS Lebenswillen zerstört.

Jetzt galt es, ihm den Todesstoß zu versetzen. Hierzu hatte ich mir etwas Besonderes ausgedacht. Durch das Ritual würde der Kosmotarch nicht nur Zeuge meiner Erinnerungen werden, sondern der Todeskampf meines letzten Opfers würde sich direkt in ihm selbst abspielen und ihn in den geistigen Selbstmord treiben.

Ich begann, die Überreste der massakrierten Alyskerin wieder zusammenzufügen. Dann holte ich ihre Seele aus dem Dimensionskerker zurück. Es war an der Zeit, sie ein zweites Mal sterben zu lassen …

Die ultimative Lösung

Roggle kauerte am Rande des Dschungels und blickte ängstlich auf das übergroße Monument des Todes, das mitten vor der Tempelpyramide aufgeschichtet worden war, und zwar durch ihn persönlich.

Der Vorjul hatte sich provisorisch gereinigt, um wenigstens den schlimmsten Geruch nach Tod und Leichen zu entfernen, aber viel geholfen hatte es nicht. Und jetzt erfüllte ihn Angst. Der Herr hatte die Spitze des Leichenberges erklommen. Dort begann er ein seltsames Ritual.

Krampfhaft versuchte Roggle, seine Instinkte zu ignorieren, die ihn drängten, sich irgendwo im dunklen Dschungel zu verstecken. Der Herr hatte ihm den Befehl gegeben, auf ihn zu warten, und genau das würde er tun.

*

Stunden später kauerte der Vorjul benommen im Schatten eines Dschungelriesen. Er schreckte immer wieder aus seinem Halbschlaf, da sich über dem Leichenmonument unerklärliche Phänomene ereigneten, die ihn zutiefst ängstigten.

Dann wurde er auf ein anderes Geräusch aufmerksam. Lauschend hob er beide Köpfe, um die Ursache des im Dschungel fremdartigen Geräusches herauszufinden. Wenig später hatte er es lokalisiert: Ein kleines Schiff setzte zur Landung an. Das genügte, um ihn endgültig in Panik zu versetzen.

Er kannte das Schiff und er wusste auch, wer der Kommandant war: Eorthor persönlich. Sein schlimmster Feind hatte ihn gefunden!

Roggle zweifelte keinen Augenblick, dass der unsterbliche Alysker ihm auf der Spur war und ihn töten wollte.

»Rog, Rog … ruf den … Herrn, der Herr muss uns schützen! Der Mörder unseres Volkes …«

Der Vorjul war aufgesprungen und bewegte sich mit grotesken Sprüngen auf das Leichenmonument zu. Die Münder der beiden Köpfe schrien wirr durcheinander, er begann panikerfüllt zu zittern.

Hilf … Roggle … Herr! … schütze uns vor dem Mörder!

An Bord von Eorthors Flaggschiff

Nachdem die SMIS aus den übergeordneten Dimensionen in den Normalraum zurückgefallen war, schwenkte das Schiff selbstständig in einen niedrigen Orbit um die Welt Aykon, die angeblich als Kontaktwelt zu DORGON dienen sollte. Die auf allen Bändern des Hyperspektrums arbeitenden Ortungsinstrumente analysierten den Planeten und blendeten die Ergebnisse in einem frei vor Eorthor schwebenden Holofeld ein. Durch Mentalkontrolle mit der Septatronik der SMIS verbunden, blätterte er gedanklich durch die Aufzeichnungen und ließ sich die wichtigsten Passagen direkt in sein Kurzzeitgedächtnis übertragen.

Ja, nun war es soweit, das Finale stand bevor. Einen Moment wägte Eorthor die zur Auswahl stehenden Alternativen ab, dann entschied er sich für die ultimative Lösung: totale Vernichtung!

Er würde den Plan der Kosmokraten ein für alle Mal beenden und die Vereinigung zwischen MODROR und DORGON unmöglich machen. Nach seiner Analyse stellte Aykon nicht nur die Kontaktwelt des Kosmotarchen dar, sondern war auch sein vierdimensionaler Anker, der ihn zwischen den Dimensionen stabilisierte. Dadurch, dass Macht der Kosmotarchen sich sowohl auf die Niederungen, als auch auf die Gefilde jenseits der Materiequellen erstreckte, mussten sie für ihr Wirken in den Niederungen einen Ankerpunkt haben, über den sie ihre Macht entfalten konnten.

Genau diesen Ankerpunkt würde er DORGON nehmen. Dadurch würde er in die Gefilde jenseits der Materiequellen gestoßen und, wie alle Kosmokraten und Chaotarchen, in den Niederungen dem Transformsyndrom unterliegen.

Durch die Trennung DORGONS von seinem Anker würde die Verschmelzung der beiden Kosmotarchen unmöglich werden. Die Gefahr, die sich aus der Vereinigung von MODROR und DORGON für das Universum ergeben würde, wäre weitgehend entschärft.

Sein Plan barg zwar gewaltige Risiken, er bewegte sich dabei in wissenschaftlichen Dimensionen, wo ihm die Erfahrungen fehlten, aber Kollateralschäden mussten eingerechnet werden, sofern das Endziel es wert war.

Und was konnte verdienstvoller sein, als einen Fehler, der vor Jahrmillionen gemacht wurde, endgültig auszubügeln?

Dass dabei auch einige ehemalige Kosmokratendiener, wie seine Ortungsergebnisse zeigten, das Ende ihres Weges erreichen würden, war zwar bedauerlich, aber in Rahmen des Gesamtzieles absolut vernachlässigbar.

Durch einen weiteren Gedankenbefehl veranlasste er die Septatronik der SMIS, auf dem Planeten zu landen. Er öffnete das umfangreiche Arsenal, das ihm an Bord seines Schiffes zur Verfügung stand, um die geeignete Waffe auszuwählen.

Die SMIS war neben dem ehemaligen Kurierboot der Nesjors gelandet, mit dem wahrscheinlich der Verräter und Mörder Roggle angekommen war. Für einen Moment war er versucht, dem Gefühl der Rache nachzugeben und den verräterischen Vorjul persönlich zu richten, aber die Vernunft siegte über das primitive Bedürfnis. Er hatte Wichtigeres zu tun, als diese Missgeburt persönlich auszulöschen.

Er verließ sein Raumschiff, nachdem er die Septatronik angewiesen hatte, das unmittelbare Umfeld des Systems zu überwachen und ihn über neu eintreffende Raumschiffe unverzüglich zu informieren. Über die Mentalkontrolle war er nach wie vor mit der Künstlichen Intelligenz seines Schiffes verbunden und konnte im PSI-Bereich des Hyperspektrums ungehindert mit ihr kommunizieren.

Aus einer geöffneten Luke der SMIS schwebte auf einer Antigrav-Plattform die von ihm ausgewählte Waffe nach unten. Nach längerem Überlegen hatte er eine Gravitationsschockwellen-Bombe gewählt, deren Wirkung zuerst die Oberfläche einebnen und dann den ganzen Planeten auseinanderreißen würde.

Die Wirkung der Bombe war auf die niederen Bereiche des Hyperspektrums begrenzt. Er wollte sicher gehen, dass nur der Anker DORGONS zerstört und nicht etwa der Kosmotarch selbst in Mitleidenschaft gezogen würde. In diesem Moment meldete die Septatronik, dass ein Raumschiff Kurs auf Aykon genommen hatte.

Eorthor überlegte einen Moment, ob er das Schiff anweisen sollte, wieder zurückzufliegen, er entschied sich jedoch dafür, aus dem Verborgenen zu agieren. Die primitive Ortungstechnik der Terraner oder auch der von den Hilfsvölkern der Kosmokraten verwendeten Schiffstypen ermöglichte es ihm, sich vollständig zu tarnen. Nachdem er die Bombe aktiviert hatte, ging er wieder an Bord der SMIS.

Die Bombe war mit einem Mentaltaster gekoppelt, der das Ansteigen der ÜBSEF-Konstante Rodroms registrierte und die Bombe genau in dem Moment auslösen würde, in dem Rodrom sein Bewusstsein auf DORGON übertragen würde. Er hatte alles genau durchgerechnet. Im Gegensatz zu den Dilettanten auf Alysk, die das Große Projekt in den Sand gesetzt hatten, verrechnete er sich nie.

Die Bombe würde genau in dem Augenblick explodieren, in dem Rodrom glaubte, am Ziel seiner Wünsche angekommen zu sein. Eine siebendimensionale Komponente, die er selbst entwickelt hatte, würde wie das Skalpell eines Chirurgen die Verbindung zwischen den Bewusstseinsteilen, die bereits auf DORGON übertragen waren, und dem Körper von MODRORS Schatten durchtrennen und den »Möchtegernkosmotarchen« wieder zurück in seinen Körper zwingen.

Durch die gewaltsame Trennung von DORGON würde sein alter Widersacher so viel mentale Substanz verlieren, dass der damit verbundene Schock den Schlächter MODRORS vorübergehend handlungsunfähig machen würde. Anschließend würde er ihn mit dem Fiktivtransmitter an Bord der SMIS holen und mit Hilfe des Verstofflichers einem Devolutionsprozess unterziehen, der ihn endgültig all seiner geistigen Macht berauben würde.

Zwischen Leben und Tod

»Gle, du Angsthase, der Mörder ist weg, geflohen vor unserem Herrn!«

»Rog, aber er hat etwas zurückgelassen, das kann nichts Gutes bedeuten. Wir müssen nachschauen, was es ist!«

»Ach was, du bist und bleibst ein Duckmäuser, Gle. Der hat es mit der Angst zu tun bekommen und ist abgehauen.«

»Nein, nein Rog, wir müssen nachschauen, was das ist! Komm schon, gehen wir!«

Gle, der die linke Körperhälfte des gemeinsamen Körpers beherrschte, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, gab dann jedoch die Blockierung auf.

Roggle rannte nun förmlich auf die unbekannte Hinterlassenschaft des Alyskers zu und erstarrte.

»Das muss eine Bombe sein! Der ist weggeflogen, weil er uns alle töten will. Wir müssen den Herrn wecken, der Herr muss Roggle retten.«

Die in einem gemeinsamen Körper verschmolzenen Brüder nickten sich aufmunternd zu und konzentrierten sich darauf, auch geistig zu verschmelzen, um durch die nur in diesem Zustand vorhandenen telepathischen Fähigkeiten ihren Herrn zu kontaktieren.

Das gemeinsam gebildete Zweierbewusstsein spürte die mentale Gegenwart des Herrn. Bilder des Grauens strömten an ihm vorbei und das Zweierbewusstsein wurde Zeuge, wie Rodrom die Präsenz DORGONS Schritt für Schritt zermalmte.

»Siehst du Gle, der Herr ist unbesiegbar! Es ist gut, dass wir ihm dienen, denn er ist mächtig und stark und wird seine Feinde zermalmen. Niemand kann ihm widerstehen. Und wir werden in seinem Schatten auch Macht erlangen und dann können wir endlich mit den Mördern unseres Volkes abrechnen. Fühlst du nicht die Macht, die der Herr erlangt?«

»Aber es … es … iist so … grausam, Rog. Die … diee die armen Wesen … und der Herr, dder Herr, so be… bestialisch …«

»Du bist und bleibst ein Weichei, Gle! Dass der Herr seine Feinde zerschmettert und sich dabei von niemand etwas vorschreiben lässt, zeigt doch, wie mächtig der Herr ist. Und unter seiner mächtigen Hand werden auch wir geschützt sein! Und außerdem haben die es sicher verdient, wenn der Herr sie bestraft.«

»A… aber Alaska, Alaska ha… hat gesagt, da… da… dass es Unrecht i… ist, wwenn mman hilflose Wesen ququäält und tötet, ddas verstöößt … gegen ddie We… Wesensrechte …«

»Rechte? Wo waren die Wesensrechte unseres Volkes, als der Mörder uns auslöschte und dabei unsere Zukunft vernichtete? Merke dir eines Gle, diese angeblich Guten drehen es immer so hin, dass sie jedes Verbrechen rechtfertigen können. Sie und nur sie sind in Wirklichkeit die Verbrecher an der kosmischen Ordnung.«

Gle ließ geschlagen seinen Kopf hängen. Er war der Argumentation seines Bruders Rog nicht gewachsen und Rog hatte ja auch recht. Alaska hatte nichts unternommen, um sein Volk zu retten, im Gegenteil, er hatte den Schlächter seines Volkes unterstützt. Die Bewusstseine der beiden Vorjuls verschmolzen wieder zu einem, das telepathisch nach seinem Herrn schrie:

Rodrom … Herr … bitte, der Herr muss Roggle helfen, muss Roggle schützen, bitte Herr!

Immer wieder wiederholte Roggle seinen Ruf, bis ihm schließlich der mächtige Geist des ehemaligen Alyskers telepathisch antwortete.

Was gibt es, ihr unwürdigen Diener? Warum stört ihr mich?

Herr, das böse Genie ist zurückgekehrt und hat eine Maschine des Todes hinterlassen. Roggle kann allein nichts dagegen unternehmen. Bitte Herr, ihr müsst Roggle helfen, die Maschine zu zerstören!

Es dauerte einen Moment, doch dann spürten die beiden Brüder, wie der mächtige Geist des Herrn ihr Bewusstsein übernahm und die Sinneseindrücke des Vorjuls ablöste.

Bei MODRORS schwarzer Hölle, unser unerreichtes Genie hat inzwischen anscheinend nur eine Lösung für jedes Problem – Vernichtung und nochmals Vernichtung.

Der Geist des Roten Todes begann brüllend zu lachen.

Eorthor, du hirnloser Narr. Glaubst du wirklich, dass du einen Kosmotarchen durch eine simple Bombe vernichten kannst?

Einige Augenblicke später ging das Gelächter in einen Schrei grenzenloser Enttäuschung und wilder Wut über. Der Geist der beiden Vorjuls wurde wieder frei.

Eorthor, das wirst du mir büßen! Ich werde dir zeigen, dass du nichts weiter bist als ein unfähiger Blender.

In diesem Moment meldete sich Roggle wieder.

Herr, was ist geschehen? Kann Roggle etwas für den Herrn tun?

Einige Augenblicke herrschte mentale Ruhe, die wiederum durch ein bösartiges Gelächter unterbrochen wurde.

Eorthor, du machst Fehler! In deiner Überheblichkeit vergisst du die Masse der hirnlosen Kreaturen, die sich gerade aus dem Urschlamm erhoben haben. Und genau diese werde ich zu meinen Handlangern machen! Mit einem Musterexemplar dieser Gattung durchbreche ich deinen mentalen Schutz!

Wieder erfüllte das bösartige Gelächter den Geist des Vorjuls.

Roggle, mein Diener, empfange die Weisheit deines Herrn. Zerstöre das Teufelswerk des Schlächters und du kannst meiner und meines Meisters MODROR Gnade sicher sein. Denke immer daran, ein Geschenk kann auch wieder genommen werden, wenn du versagst. Und jetzt danke deinem Herrn, denn dieser ist gnädig!

Roggle begann zu schreien. Der geistige Verbund der beiden Brüder wurde gewaltsam auseinandergerissen und wieder neu zusammengefügt. Aus dem Geist Rodroms floss ein steter Strom von Wissen in den verbundenen Geist des Vorjuls. Doch plötzlich unterbrach Rodrom die Übertragung und zog sich geradezu panikerfüllt aus Roggles Geist zurück.

Der Vorjul schrie telepathisch nach seinem Herrn. Doch der schwieg, denn er hatte plötzlich ein Problem, mit dem er überhaupt nicht gerechnet hatte …

10. Ragnarök: Die Schlacht der Götter

Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer,

Vom Himmel schwinden die heitern Sterne.

Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum,

Die heiße Lohe beleckt den Himmel.

Aus der Völuspá, Der Seherin Gesicht

Pest oder Cholera

Prosperoh

Der Gedanke des Arkoniden war gut, er war geradezu genial, – endlich würde ich das Joch des Roten Todes abschütteln und letztendlich würde ich seinen Platz einnehmen können, ich war mir sicher, dass unser Herr MODROR damit einverstanden wäre. Denn wenn ich Rodrom eliminierte, könnte ich unserem Herrn zeigen, wie erbärmlich doch der Rote Tod im Vergleich zu mir, dem Prinzen Prosperoh, eigentlich gewesen war. Ja, ich würde Rodrom, den Roten Tod vernichten und seine Stelle einnehmen, um an der Seite unseres Herrn MODROR über das Multiversum zu herrschen.

Mein Geist formte aus der mich umgebenden Substanz DORGONS eine Arena, in die ich den Roten Tod versetzen wollte. Durch die bei unserer Auseinandersetzung freiwerdenden negativen Emotionen würde meine Macht noch größer werden, denn mein Geist konnte die Macht des Kosmotarchen nutzen.

Einen Moment schwelgte ich in der Vorstellung, wie ich den erbärmlichen Handlungskörper Rodroms, der sein Bewusstsein innerhalb des Kosmotarchen verkörperte, in meiner Arena langsam verbluten lassen würde, um dann seinen Geist dem meinen hinzuzufügen.

Ich öffnete mein Bewusstsein und materialisierte die geistige Essenz des Roten Todes in der von mir erschaffenen Arena. Mein bereits vor längerer Zeit erfolgtes Eindringen in die geistige Basis DORGONS ermöglichte es mir, die Macht des Kosmotarchen in meinem Sinne zu manipulieren. Doch dann erschrak ich. Rodrom war viel stärker, als ich erwartet hatte, und ging nach einem kurzen Augenblick der Desorientierung zum Gegenangriff über. Besonders erstaunte mich die Wut und der Hass, der mir von seiner Seite entgegenschlug.

Erst jetzt begriff ich, auf welches Wagnis ich mich eingelassen hatte. Wie konnte ich nur daran denken, dass ich dem Roten Tod, dem Untergang meines Volkes, widerstehen oder ihn sogar überwinden könnte?

Cholera oder Pest

Rodrom

Das konnte einfach nicht wahr sein, so kurz vor dem Ziel … Was ging nur in meinem alten Vasallen vor – die einzige Erklärung, die ich fand: Größenwahn, reiner, purer Größenwahn und natürlich Machtgier!

Wieder überwältigten mich meine Gefühle. Wie konnte es ein Emporkömmling, ein Nichts im kosmischen Maßstab, wagen, mich herauszufordern? Innerlich kochte ich, als ich den Kontakt mit Roggle abbrechen musste, um mich der Herausforderung zu stellen. Was bildete sich dieser Kretin eigentlich ein? Glaubte er, dass ich ein hilfloses Opfer für ihn werden würde? Wieder überrollte mich der Hass. Mein Geist griff nach dem Zechonen, um ihn für seine Anmaßung zu strafen.

Es war leicht, fast ein Kinderspiel. Wenn der Prinz der Zechonen mich nicht bei der Präparierung des hirnlosen Vorjul gestört hätte, dann hätte mich sein Angriff amüsiert. So aber stellte er nur eine äußerst lästige Unterbrechung meines Aufstiegs zum Kosmotarchen dar. Dabei hoffte ich, dass ich dem Vorjul genügend Wissen transferiert hatte, um Eorthors Bombe unschädlich zu machen. Durch den erzwungenen Abbruch der Übertragung konnte ich den Transfer nicht beenden, was zu einer Zerrüttung des Geistes der beiden Brüder führen musste. Und wieder überrollte mich der Hass auf Prosperoh.

Gerade noch hatte ich über Eorthor triumphiert, stand vor meinem Aufstieg in die hehren Sphären meines Meisters MODROR – und nun war alles gefährdet, gefährdet durch die Eigensucht eines Instrumentes, das zum Untergang des Antipoden meines Meisters geschaffen wurde.

Ich ließ gegenüber den Zechonen alle Rücksicht fallen. Sie hatten gespielt und zu hoch gereizt, es gab keine Zukunft, keine Existenzberechtigung mehr für sie. Mit einem geistigen Augenblinzeln löste ich die lachhafte Pararealität auf, die Prosperoh mit Hilfe DORGONS geschaffen hatte. Ein mächtiger Todesimpuls folgte, der den vereinten Geist der Zechonen aus seiner Verankerung im interdimensionalen Raum riss. Prosperoh und mit ihm alle vergeistigten Zechonen starben nun endgültig, indem ihre Seelen zerrissen und im Hyperraum verweht wurden.

Gleichzeitig benutzte ich die durch den kollektiven Todesschrei freigesetzte Vitalenergie, um meine ÜBSEF-Konstante für die bevorstehende Übernahme des Kosmotarchen zu stärken. Es war vorbei, der lachhafte Angriff der Emporkömmlinge vorüber. Jetzt konnte ich mich wieder meinem eigentlichen Ziel, der Übernahme DORGONS und meinem Aufstieg zum Kosmotarchen zuwenden.

Ich stärkte meine geistige Verbindung zu meinem auf dem Portalplaneten zurückgelassenen Handlungskörper und begann, DORGON mit den Erinnerungen und Gefühlen an mein letztes Kunstwerk zu füttern. Das war eine Speise, an der er zugrunde gehen würde …

Am Ende des Weges oder Der Lohn des Verrats

Jaques de Funés

Wir waren am Rande des Dschungels gelandet und hatten das kleine Schiff alyskischer Bauart verlassen und uns am Rande der Lichtung versteckt, die die gewaltige Pyramide umgab. Kamtair, der finstere alyskische Vollstrecker, hatte sich in der Deckung eines Urwaldriesen aufgerichtet und beobachtete die Lichtung durch ein kleines Feldteleskop. Wortlos hatte er einen kleinen Projektor aufgestellt, der eine Holowiedergabe des Beobachtungsvektors vor uns erstehen ließ. So konnten wir das merkwürdige Verhalten Roggles und das noch dubiosere Umfeld genau beobachten.

Alaska versuchte immer wieder, mit dem Alysker ein Gespräch zu beginnen, wurde jedoch ignoriert. Neben mir kauerte der komische Vogel, der mir in letzter Zeit das Leben schwer machte. Er versuchte laut schnatternd, mit unserer schönen Archäologin anzubandeln.

Ich stelle mir gerade vor, wie Sie, geehrter Leser, versuchen, diesen Irrsinn zu verstehen. Nun, Sie haben es schon richtig verstanden, dieses komische somerische Suppenhuhn versuchte tatsächlich, mit Denise in der Horizontalen zu landen. Die allerdings, und das kann ich voll und ganz nachvollziehen, ignorierte die Annäherungsversuche unseres ornithoiden Casanovas gekonnt.

Der Alysker hatte inzwischen den Fokus des Feldteleskops auf das merkwürdige Arrangement neben dem Vorjul gerichtet und wurde dabei sichtlich unruhig. Die Holodarstellung zeigte immer deutlicher, woraus das aufgeschichtete Monument bestand: aus unzähligen Leichen. Plötzlich schien der Alysker zu erstarren. Das Hologramm modellierte jede Einzelheit des höllischen Arrangements:

Ein nackter humanoider Körper wurde sichtbar, der in obszöner Weise einen weiblichen Torso umklammert hielt. In der ausgestreckten Rechten hielt er den abgetrennten Kopf in die Höhe. Es sah aus, als wollte er die Sonne damit anbeten. Daneben lag ein abgelegter roter Kampfanzug. Das beseitigte jeden Zweifel, um wen es sich handelte: Rodrom!

Kamtair begann zu zittern und murmelte immer wieder etwas wie »Ritual der dunklen Seele« und »Nora, er hat Nora einfach abgeschlachtet«.

Ich versuchte, das Grauen, das meine Seele umfassen wollte, zu verdrängen und zwang mich, den abgetrennten Kopf anzusehen. Ja, es war zweifelsohne Eorthors Stellvertreterin. Ihr Gesicht war zwar in unbeschreiblichem Schmerz verzerrt und ein Auge zerstört, aber trotzdem war sie noch zu erkennen.

Von meinem Platz aus konnte ich das ganze Szenario überblicken. So bemerkte ich, dass sich der Vorjul in Bewegung gesetzt hatte. Mit merkwürdig steifen Schritten stolperte er mehr als er ging auf einen an der Spitze einer dreieckigen Lafette angebrachten, zylinderförmigen Körper zu.

Einen Moment lang verweilte er regungslos davor und begann dann, auf Knöpfe zu drücken. Etwas am Verhalten des Doppelkopfes alarmierte mich. Mein Blick suchte meine Begleiter, die jedoch anscheinend alle paralysiert waren.

Das wars, alles blieb mal wieder an mir hängen. Wo waren die großen Helden, die Unsterblichen, wenn man sie brauchte? Geistig abwesend, unfähig für die einfachsten Handlungen. Selbst dieser alyskische Vollstrecker, diese schwarze Kampfmaschine, war zu nichts zu gebrauchen.

Aber natürlich würden all diese Übermenschen am Schluss allein die Lorbeeren kassieren, so war es immer. Dazu kam noch, dass ich dieses Suppenhuhn am Hals hatte! Der Vogel war lebensuntüchtig und ohne meine Hilfe verloren!

Ich griff neben mich und bekam den Flügelarm des Somers zu fassen. Einen Moment überkam mich das Gefühl des Vertrauens. Ja, wir beide zusammen würden den Karren wieder aus dem Dreck ziehen, denn dass der Vorjul dabei war, uns wieder in Schwierigkeiten zu bringen, stand für mich außer Frage. Ich nutzte die Gelegenheit und begann, mein somerisches Ärgernis heftig zu schütteln.

»Leo, Leo, komm zu dir, der Doppelkopf will uns wieder verraten!«

Der Angesprochene blickte mich verständnislos an, doch dann begann er heftig zu zwitschern, was wohl seine Zustimmung ausdrücken sollte. Wenig später rannte ich, den Somer im Gefolge, auf den Vorjul zu und betete zu allen Göttern, dass wir nicht zu spät kommen würden.

Roggle

Der Herr hatte uns große Gnade gewährt, durch sein Geschenk schien unser Geist Eins geworden zu sein:

Zwei Bewusstseinsebenen, ein Geist! Wir waren Roggle, wir waren Rog und wir waren Gle!

Aber irgendetwas stimmte nicht. Unser Körper gehorchte uns nicht richtig. Der linke Kopf drehte sich nach rechts und blickte den Kopf seines ehemaligen Bruders an. Dieser vollzog synchron die gleiche Bewegung nach links. Doch wir mussten den Auftrag des Herrn erfüllen und den Plan des Mörders durchkreuzen. Plötzlich entstand in unserem Geist ein Bild der Mordmaschine, das uns genau zeigte, was wir tun mussten, um den Aufstieg des Herrn zu unterstützen.

Wir würden den Herrn retten und der Herr würde uns belohnen!

Rasch begannen wir, auf das Instrument des Mörders zuzulaufen, doch immer wieder strauchelten wir, irgendwie konnten wir die Bewegungen der beiden Körperhälften nicht mehr richtig synchronisieren. Aber egal, schließlich hatten wir die Todesmaschine erreicht. Wir würden, wie schon unser Volk zuvor, dafür sorgen, dass der Herr letztendlich triumphieren würde.

Vor uns stand die Mordmaschine auf einem Dreibein. Ein großes, mattschwarzes Auge glotzte uns entgegen. Einen Moment überkam uns die Versuchung, mitten in dieses Auge hineinzuschlagen. Doch nein, wir wussten es jetzt besser: Das Auge war ein berührungsempfindlicher Bildschirm, Touchscreen nannte es der Herr, und mit ihm konnte die Mordmaschine unschädlich gemacht werden.

Gefragt war nicht mehr brachiale Gewalt, sondern subtiles Feingefühl. Unsere Hände begannen, die Kontrollen zu aktivieren, als uns ein Gegenstand schmerzhaft an der Schulter traf. Gleichzeitig ertönte ein lautes Gebrüll, das auf uns zukam. Verängstigt drehten wir uns um und sahen unseren Albtraum auf uns zu kommen.

Der Vogel und das terranische Schreckgespenst gestikulierten wie wild und warfen immer wieder Steine nach uns. Wo kamen die beiden nur schon wieder her? Wir durften uns nicht ablenken lassen, der Herr vertraute auf uns. Doch mit lautem Wehgeschrei griff sich unsere rechte Körperhälfte, die Gle gewesen war, an den Kopf, wo uns wieder ein Stein getroffen hatte.

Oh, wie das weh tat. Wir fühlten den Schmerz, wie er unseren armen Körper durchzog. Irgendetwas veränderte sich. Eine unbändige Wut überkam uns. Nein, das durfte nicht sein, wir mussten doch die Wut unterdrücken! Doch was tat unsere Hand da? Was wollte sie mit diesem Stein? Nein … das … das konnte sie nicht tun wollen, nein … nicht … nicht zu… zuschlagen, d… das will d… dd… der Herr bestimmt nicht – aber schon fühlten wir, wie die Hand mit dem Stein nach unten schlug, immer und immer wieder. Wir fühlten nur noch Schmerz, der von unserem rechten Kopf, dem Kopf von Gle, ausging … Schmerz, Qual, Schmerz, Qual … und die Hand mit dem Stein schlug, schlug und schlug …

Jaques de Funés

»Ha, getroffen! Der hat gesessen!«, freute sich Leo. Der kleine Somer war auf die Idee gekommen, mehrere, etwa faustgroße Steine aufzulesen und diese nach dem Doppelkopf zu werfen, während wir auf ihn zuliefen.

Dabei zeigte es sich, dass mein von sich selbst überzeugter Partner zumindest in diesem Punkt eine Naturbegabung war. Seine Steinwürfe trafen Roggle so zielsicher, als ob er sein Leben lang nichts anderes gemacht hätte, als Steine auf jemanden zu werfen, während er auf diesen zu rannte. Ich für meine Wenigkeit musste einräumen, dass ich auf diesem Gebiet absolut unbegabt war. Ich würde nicht einmal ein Scheunentor treffen!

Plötzlich blieb ich stehen. Das Bild, das sich mir bot, war einfach unwirklich. Leo hatte mit seinem letzten Wurf den rechten Kopf des verdammten Vorjuls oberhalb seines Auges getroffen, wonach dieser sich an den Kopf fasste, um dann in Raserei zu verfallen. Irgendwie hatte er einen Stein aufgehoben und schlug nun mit diesem wie ein Berserker auf den zylinderförmigen Körper ein. Irgendwie mahnte mich die ganze Szenerie zur Vorsicht. Meine Hand bekam gerade noch einige Schwanzfedern Leos zu fassen, um diesen daran zu hindern, weiter auf Roggle zuzulaufen.

»Bleib stehen!«, rief ich ihm zu, »irgendetwas wird gleich passieren, das fühle ich!«

Der Somer drehte sich um und blickte mich mit seinem Vogelgesicht fragend an. Seine krallenbewehrten Füße begannen, erregt zu scharren, und zeugten davon, dass sich Leo in höchster Erregung befand. Der breite Schnabel öffnete sich, die Missgestalt stellte mir mit zwitscherndem Gesang eine Frage.

Ein unwirkliches Sirren enthob mich einer Antwort. Um den zylinderförmigen Körper hatte sich ein giftgrün schillerndes Feld gebildet, das sich langsam nach unten ausdehnte. Dabei auftretende Gasschwaden zeugten von einem desintegratorischen Effekt, der wohl auf den Boden einwirkte.

Die Frequenz des Sirrens steigerte sich in den Ultraschallbereich, während sich das schillernde Feld im Durchschnitt vergrößerte. Innerhalb der giftgrünen Säule, die sich anscheinend immer tiefer in die Gesteinsschichten fraß, bildete sich aus dem zylindrischen Körper eine schwarze Kugel, die etwa einen Durchmesser von einem Meter hatte.

Diese begann langsam nach unten zu sinken. Als sie das Niveau der Oberfläche erreichte, erschütterten erste Erdstöße das freie Plateau. Diese Erdstöße schienen Denise, Alaska und den finsteren Alysker aus ihrer Erstarrung zu reißen.

Kamtair – sein Name fiel mir wieder ein – rief uns zu, dass wir schnellstens von dem Planeten fliehen müssten, da jemand eine alyskische Planetenbebenbombe gezündet hätte, die den Planeten einebnen würde.

Ich konnte mir darunter nichts vorstellen, Planetenbebenbombe klang jedoch so bedrohlich, dass ich es mir ersparen wollte, die Wirkung am eigenen Leib mitzuerleben. Ich zog also den unschlüssig in Richtung Bombe starrenden Leo an seinen Schwanzfedern, die ich immer noch in der Hand hatte, hinter mir her in Richtung auf unser gelandetes Raumschiff. Ich wollte nur noch eines: verschwinden, und das so schnell wie möglich.

In diesem Moment begann der Doppelkopf voller Panik zu schreien und Denise, Alaska und Kamtair erreichten uns.

Gezwungenermaßen blieb ich wieder stehen und ließ Leo los. Aus dem Geschrei des niederträchtigen Vorjuls konnte ich einige Worte verstehen, die mich alarmierten.

»Roggle u… unschuldig, kkannnicht ddabfür …, nnie… mmand hi… ilf armes Roggle … bbbi… bii… bitte Roggle bitt… Roggle rette«

Es kam, wie es kommen musste. Ich hatte es ja schon geahnt. Wie verblödet muss denn ein Unsterblicher sein, bevor man ihn wegen Senilität in Rente schickt? Alaska antwortete dem Doppelkopf und versprach, ihm zu helfen. Er wollte sich gerade in Bewegung setzen, da geschah zweierlei. Ihr, die ihr das hier von einem Memokristall lest, entschuldigt die Weitschweifigkeit, aber das, was nun folgte, war so genial, dass ich es in allen Einzelheiten erzählen muss.

Also, Alaska wollte sich gerade in Bewegung setzen, als ihn Denise bei den Schultern fasste und festhielt. Dabei sagte sie mit einer Stimme, die in mir sämtliche Nervenenden zum Vibrieren brachte: »Hiergeblieben, mein Freundchen!«

Warum eigentlich sagte sie so etwas nicht zu mir? Mich hätte sie nicht zweimal bitten müssen! Aber Alaska?

Dieser Idiot, ich kann das nicht anders ausdrücken, entschuldigt bitte – dieser Idiot riss sich los und, ihr ahnt es wohl schon, wollte auf Roggle zulaufen. Aber das, was dann folgte, das ahnt ihr bestimmt nicht. Denn Denise, gelobt sei die weibliche Schlagkraft, Denise ließ sich das nicht gefallen und scheuerte Alaska eine, was ihn glatt aus den Latschen kippen ließ. Jawohl, Denise hat Alaska mit einem Schlag k. o. geschlagen! Und wenn ihr jetzt glaubt, dass es das schon war, dann seid ihr gewaltig auf dem Holzweg. Jawohl, das Beste sollte erst noch kommen.

In dem verrückten Suppenhuhn, also meinem Freund Leo, mussten beim Anblick der wütenden Denise wohl einige Sicherungen durchgebrannt sein, denn Leo kam auf die Idee, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und Denise anzumachen. Und was macht unsere Denise? Na, was glaubt ihr wohl? Jawohl, sie dreht sich einfach um, mustert unseren Brathähnchencasanova mit einem Blick, der selbst mir das Blut in den Adern gefrieren ließ und dann, dann holt sie einfach aus und scheuert unserem Leo ebenfalls eine.

Alaska hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und schrie plötzlich wie ein Irrer. Dadurch wurde meine Aufmerksamkeit wieder auf Roggle gelenkt. Dem ging es inzwischen, und ich kann nicht sagen, dass ich dies bedauerte, richtiggehend an den Kragen.

Kamtair hatte sich nicht um das Intermezzo zwischen Alaska, Denise und Leo gekümmert, sondern war auf den Doppelkopf zugelaufen, hatte ihn am Hals eines Kopfes ergriffen und in die Höhe gehalten. Ich bekam gerade noch mit, wie er mehrmals Schwung nahm und den verräterischen Vorjul in den giftgrünen Schacht warf.

Ein schrilles Geheule war das Letzte, was wir von dem Doppelkopf vernahmen. Er hatte, meiner Meinung nach, endlich das erhalten, was er verdiente. Nur Alaska schien nicht dieser Meinung zu sein. Er kauerte sich wie ein Häufchen Elend zusammen und murmelte immer wieder:

»Es tut mir leid, Roggle, aber ich habe versagt!«

Irgendwie tat er mir auch leid, ich ging zu ihm und nahm seine Hand. Widerstrebend folgte er mir zu unserem Raumschiff. Wenig später starteten wir Richtung NESJOR. Zurück blieb ein Paradies, das für immer verloren ging.

Zurück blieb ein zerstörter Planet und eine Auseinandersetzung, die noch gar nicht richtig begonnen hatte!

Der Weg hinter die Materiequellen: Rodroms Erwartungen

Rodrom

Es war vollbracht, der letzte Schritt meines Aufstiegs stand bevor. Durch die Auseinandersetzung mit Prosperoh waren meine mentalen Energien noch gestärkt worden, ich war bereit für die finale Auseinandersetzung. Mein Geist erfasste das mentale ÜBSEF-Muster der Alyskerin, die vor Kurzem meine Lust teilen durfte. Gierig tauchte ich ein letztes Mal in das Gespinst aus Angst, Schmerz und Qual ein, das den kümmerlichen Rest ihres Bewusstseins repräsentierte.

DORGON zittere, jetzt wirst du Gefühle kennenlernen, die dein überflüssiges Dasein für immer beenden. Aber tröste dich, nur dein Geist wird zwischen den Dimensionen vergehen! Deine Macht, dein Wissen, deine Stärke wird auf einen brillanteren Geist übergehen, nämlich mich! Ja, du kannst stolz darauf sein. Ich, der ROTE TOD, werde deinen Platz im Konzert der Hohen Mächte einnehmen.

Aber auch eine zukünftige Entität hat ein Recht auf Spaß und Vergnügen. Ich machte mich ans Werk, auch wenn das ÜBSEF-Muster mir nur noch ein Erleben aus zweiter Hand bieten würde, aber – und da war ich mir sicher – für DORGON würde es genügen.

Ich fügte dem ÜBSEF-Muster noch die Erinnerungen an die Lust, die mir die Alyskerin bereitet hatte, zu und übertrug das mentale Energiebündel mitten ins Zentrum des Kosmotarchen. Es war unbegreiflich, unfassbar. Normalerweise vollzog sich die Entwicklung der Hohen Mächte in Zeiträumen, die Jahrmillionen oder gar Jahrmilliarden umfassten. Aber jetzt, in wenigen Minuten, würde ein Kosmotarch sterben und ein neuer Kosmotarch erwachen und in die Gefilde hinter den Materiequellen aufsteigen.

Mein Geist registrierte, wie DORGON vor Mitgefühl, Anteilnahme und Trauer erstarrte, während ich die Alyske zum Schreien brachte. Mein Geist wurde stärker und stärker und drängte DORGON zurück, floss in immer weitere Dimensionen, während DORGONS Verankerung im Normalraum immer schwächer wurde. Ich triumphierte. Die Manifestationen meiner gespeicherten Empfindungen begannen, DORGON endgültig zu vertreiben.

Stirb, DORGON, stirb endlich! Dein minderwertiger Geist soll zwischen den Dimensionen verwehen und wir, mein Meister MODROR und ich, wir werden die Zukunft, das gesamte Multiversum neu schaffen. Es würde ein düsteres Universum sein, das war sicher. Eines nach unserem Geschmack.

Plötzlich wurde ich aus meinen Träumen gerissen, irgendetwas Unvorhergesehenes geschah. Warum verlor ich die Kontrolle, was … NEIN … NICHT … Roggle, nichtsnutziger, unfähiger Diener, ich werde dich … Eorthor … du wirst leiden … NEIN …

Der Sturz in die Niederungen

Eorthor

Im Schutz des Deflektorfeldes, das nach dem Prinzip getunnelter Quantensprünge arbeitete, beobachtete ich, wie die Beauftragten der Kosmokraten auf Aykon landeten und das kleine Schiff alyskischer Bauart verließen. Es handelte sich um den Rest der Gruppe, die ich bereits auf Alysk, der zerstörten Heimatwelt meines Volkes, kennengelernt hatte.

Mit Genugtuung betrachtete ich die Situation. Jetzt stellte sich meine Entscheidung, nicht dem Bedürfnis nach Rache nachzugeben, als völlig richtig heraus. Mein Volk hatte beschlossen, Roggle unter allen Umständen für den Verrat zu bestrafen. Diese Erkenntnis löste in mir ein lange nicht gekanntes Gefühl der Befriedigung aus, ähnlich, als ob ich das Urteil selbst vollzogen hätte.

Die Instrumente der SMIS zeigten mir, dass Rodrom begonnen hatte, seinen Geist mit DORGON zu verschmelzen. Beiläufig registrierte ich, dass das Doppelkopfwesen irgendwelche Manipulationsversuche an meiner Bombe unternahm. Lachhaft, einfach nur lachhaft! Keiner der beschränkten Geister, die auf diesem Planeten anwesend waren, war in der Lage, meine Bombe zu manipulieren. Meine Aufmerksamkeit wandte sich wieder den Ortungsergebnissen zu. Ja, bald war es soweit, die ÜBSEF-Konstante Rodroms näherte sich dem Wert, der meine Bombe auslösen würde.

Es würde für meinen Todfeind die Hölle werden, kurz vor seinem heiß ersehnten Ziel, den Gefilden hinter den Materiequellen, würde er durch meine Genialität in die Niederungen zurückgerissen, machtlos und mir ausgeliefert. Welche Rache könnte vollkommener sein? Und er würde genau wissen, wem er das Scheitern seiner Pläne zu verdanken hatte!

In diesem Moment war es soweit, Rodroms ÜBSEF-Konstante überschritt den von mir gewählten Schwellenwert und löste meine Bombe aus. Einen Moment überkamen mich Zweifel. Waren meine Berechnungen richtig? Doch dann schob ich die Bedenken weit von mir:

Ich war das Jahrmillionengenie, ich konnte mich nicht irren, das konnte nur den Dilettanten geschehen, die sich nicht an meine Ratschläge hielten!

Unter meiner Bombe entstand der siebendimensionale Aufrisstrichter, der sich bis in den Kern des Planeten bohrte. Gravitationswellen folgten den Feldlinien des Planeten und begannen, die Oberfläche einzuebnen. Der Untergang für DORGONS Anker im Normaluniversum hatte begonnen, mein Plan begann aufzugehen.

Wenig später erfolgte der interdimensionale Stoßimpuls, mit dem das Bewusstsein Rodroms von DORGON getrennt und in den Handlungskörper zurückgeworfen wurde. Noch einmal überprüfte ich die Messergebnisse und aktivierte dann den Fiktivtransmitter der SMIS.

Das Entmaterialisierungsfeld wurde auf die Mentalimpulse meines Todfeindes justiert und wenig später der Handlungskörper des Roten Todes von seinem obszönen Monument in die SMIS gerissen und wieder rematerialisiert. Ein interdimensionales Fesselfeld fixierte den Handlungskörper unter dem Verstofflicher und hielt das Bewusstsein Rodroms in ihm gefangen.

In meinen Augen spiegelte sich der Triumph, den ich empfand. Endlich war meine Stunde gekommen. Noch einmal würde mir Rodrom nicht entkommen, dafür würde ich sorgen. Mit einem mentalen Impuls wies ich die Septatronik an, den Verstofflichungsprozess einzuleiten. Der Rote Tod würde jede bewusste Verbindung zu den höherdimensionalen Sphären verlieren und wieder zu einem Wesen werden, das völlig an die Einschränkungen der Niederungen gebunden war.

Meine Rache würde vollkommen sein!

Jetzt war es an der Zeit, den Abschluss des zweiten Teils meines Planes einzuleiten. Die Verankerung DORGONS in den Niederungen musste zerschnitten und der Kosmotarch auf die Gefilde jenseits der Materiequellen beschränkt werden.

Jetzt wird der Fehler der Alysker von mir korrigiert und die Gefahr für das Multiversum, die in einer Vereinigung der beiden Kosmotarchen liegt, ein für alle Mal beseitigt werden. Wieder war mir, als ob aus der Unendlichkeit der Dimensionen der mir zustehenden Applaus aufbrausen würde. Nur mir als dem Jahrmillionengenie war eine solche Meisterleistung möglich.

Doch plötzlich wurde der Applaus durch ein humorvolles Gelächter verdrängt, das ich nur zu gut kannte. Das durfte nicht sein! Nach meinem Plan sollte ich für immer von diesem Gelächter verschont bleiben. Doch ich hatte mich geirrt. Mein Blick fing die sich materialisierende Gestalt ein, die sich mitten auf dem Messetisch der SMIS in einer verführerischen Pose räkelte.

DORGON! Und noch dazu wieder in der verhassten Frauengestalt!

Mit einer fließenden Bewegung kam sie so nahe an mich heran, dass ich ihren Atem auf meiner Haut spürte. Mit einem sonderbaren Gefühl der Befremdung bemerkte ich, dass sie nackt war. Ihre Fingerspitzen, die über meinen Oberkörper glitten, schienen aus Energie zu bestehen. Zumindest fühlte es sich so an. Mein Atem und mein Herzschlag beschleunigten sich. Ich vergaß alles um mich, bis auf diese Frau. Es gab nichts mehr außer ihr. Mein Mund öffnete sich und …

Und dann kam wieder dieses Gelächter.

Eorthor, alter Freund. Freust du dich nicht, mich endlich wiederzusehen? Warum so verkrampft? Du solltest dir eine neue Gefährtin suchen, damit du etwas lockerer wirst!

Eorthor schüttelte den Kopf, hob abwehrend die Hände und trat einen Schritt zurück.

Ich mag nicht, wenn du als Frau materialisierst.

Wieder ertönte ein amüsiertes Gelächter.

Besser so?

Vor ihm stand ein alter Mann mit einem langen, weißen Bart, der sich auf einen klobigen Stab stützte.

Was willst du von mir, DORGON? Und wieso bist du überhaupt noch hier?

Aber, aber, mein alter Freund. Ich will mich nur bei dir bedanken. Schade, dass dir mein Geschmack nicht zu gefallen scheint.

Dabei wechselte er mehrmals zwischen der verführerischen Frauengestalt und der Gestalt des alten Mannes. Schließlich schien er von dem Spiel genug zu haben und trat in der Gestalt des alten Mannes vor den Körper Rodroms.

Warum ich noch hier bin, fragst du? Diese Frage ist ganz einfach zu beantworten. Glaubst du wirklich, dass eine Bombe, auch wenn sie deiner Genialität entspringt, genügt, um einen Kosmotarchen hinter den Materiequellen festzuhalten? Übrigens, mit dem Rest der Wirkung deiner Bombe bin ich auch nicht einverstanden.

Mit diesen Worten hob er die Arme. Von seinen Fingerspitzen gingen feine Energiebahnen aus, die durch die Wandung der SMIS nach draußen griffen. Was dann folgte, war wie ein Zeitraffereffekt, der die Zerstörungen, die meine Bombe dem Planeten zugefügt hatte, wieder rückgängig machte. Nachdem das planetare Umfeld wieder sein ursprüngliches Aussehen angenommen hatte, ließ DORGON wieder seine Arme sinken und wandte sich mir zu.

Alter Freund, pass gut auf, dass dir dein spezieller Gast nicht wieder abhandenkommt. Und denke immer daran, dass die Hohen Mächte auch nicht immer moralisch im Recht sind. Merke dir, der Zweck heiligt nicht in jedem Falle die Mittel! Ich muss mich jetzt noch um einige tapfere Wesen kümmern, die deinen Sieg mit ihrem Einsatz erst möglich gemacht haben.

Bevor ich etwas entgegnen konnte, verwandelte sich DORGON wieder in seine weibliche Erscheinungsform, winkte mir neckisch zu und verschwand.

11. Zwischenspiel III

Seh aufsteigen zum andern Male,

Land aus Fluten, frisch ergrünend:

Fälle schäumen; es schwebt der Aar,

der auf dem Felsen Fische weidet.

Aus der Völuspá, Der Seherin Gesicht

Realität und Realitäten

Die drei Gefährten gingen durch eine Landschaft, die nichts anderes als Frieden und Geborgenheit widerspiegelte. Sie alle waren vor wenigen Augenblicken auf dem Marktplatz eines idyllischen Dorfes materialisiert und wurden von den Dorfbewohnern gebeten, an ihrem bevorstehenden Fest teilzunehmen. Icho Tolot war in der Gestalt eines muskulösen Wikingers aufgetaucht, um nicht aufzufallen.

Mit einem kurzen Blick verständigten sie sich untereinander und erteilten ihr Einverständnis. Wenig später begann das Fest. Osiris fragte einen dicken Humanoiden, was die Dorfbewohner eigentlich genau feierten und erhielt die Antwort, dass alle Wesen froh wären, dass DORGON wieder gesund würde und die Schwarzen Lande endlich verschwunden wären.

Atlan blickte Osiris entgegen, der sich, nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, genauso unwohl fühlte. Das Dorf, die ganze Pseudoumgebung hatte etwas Unwirkliches an sich, die in dem Arkoniden ein Gefühl des dumpfen Fatalismus bewirkte.

Atlan, Osiris und der »Wikinger« Tolot hatten sich an einen Tisch gesetzt und griffen nach den Bierhumpen, die eine Bedienung mit ausladender Oberweite vor sie hingestellt hatte. Nach einem gut gemeinten »Wohl bekomms!« hatte sie sich wieder verabschiedet.

Atlan griff nach dem Einliterhumpen und prostete Osiris und Tolot zu. Nachdem er einen großen Schluck genommen hatte, verzog er angeekelt das Gesicht. Da Osiris ihn fragend anblickte, erklärte er:

»Das ist alkoholfreies Bier, ein Sakrileg für jeden echten Biertrinker!«

Tolot nahm noch einen Schluck und lachte dröhnend: »Aber alles ist hier so idyllisch und das Bier schmeckt doch gut, Atlanos.«

Doch der Arkonide schüttelte nur angewidert den Kopf.

»Seht ihr denn nicht, dass dieses Schlaraffia in Wirklichkeit nichts weiter als ein absolut hinterwäldlerisches Wolkenkuckucksheim darstellt? Dieses Paradies ist hilflos und paralysiert. Hier gibt es keinen Fortschritt, keine Auseinandersetzungen, kein wirkliches Leben, nur unwirkliche Stagnation. Wie gesagt, eben das Schlaraffenland!«

»Atlan, ein Schlaraffenland kenne ich nicht. Um welches Imperium handelt es sich?«

Atlan lachte amüsiert.

»Kein Imperium, sondern ein uraltes terranisches Märchen, das genau den Zustand DORGONS beschreibt, wie er aus der von ihm erzeugten Umwelt hervorgeht.«

Nun war Tolot neugierig.

»Erzähl Atlanos, ich höre doch so gern alte Märchen von meinen terranischen Kindern!«

Atlan schaute den Haluter in menschlicher Gestalt einen Moment nachdenklich an und begann dann, von dem Land zu erzählen, in dem die gebratenen Vögel durch die Luft fliegen und Wein aus den Brunnen fließt. Ein Land, in dem die Faulpelze reich werden und wer arbeitet, arm wird, und in dem der Faulste König ist. Als er geendet hatte, waren der Kemete und der Haluter nachdenklich geworden und meinten, dass das Märchen schon irgendwie auf DORGONS Welt passe.

Irgendwie hatten sie alle den Eindruck, dass zwischen der durch DORGON geschaffenen Umwelt, die wohl die Psyche des Kosmotarchen widerspiegelte, und ihnen eine stetig wachsende Barriere entstand. Sie gehörten nicht mehr in diese paradiesische Umgebung, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatten.

Eine besondere Bewandtnis musste auch damit verknüpft sein, dass Tolotos wieder in eine menschliche Gestalt gepresst wurde: Es war dem ehemaligen Lordadmiral der USO zwar bewusst, dass Humanoide manchmal mit Panikattacken auf die halutischen Giganten reagierten, aber innerhalb des Kosmotarchen bestand bestimmt kein Anlass für diese geradezu psychotische Angst vor dem Haluter, wenn man dazu noch berücksichtigte, dass dieses Verhalten seine Ursache in DORGON haben musste.

»DORGON scheint Vorbehalte oder gar Angst vor den Halutern zu haben!«

»Meinst du das im Ernst, Atlanos?«

Der Arkonide schreckte aus seinen Grübeleien auf und blickte überrascht auf den halutischen Wikinger. Er musste seine Überlegungen laut geäußert haben, obwohl dies gar nicht seine Absicht gewesen war. Notgedrungen weihte er nun die beiden in seine Schlussfolgerungen ein.

In diesem Moment löste sich ihre Umwelt auf. Sie rematerialisierten auf der Welt, wo ihre fantastische Reise ihren Anfang genommen hatte: Aykon, die Kontaktwelt DORGONS.

Nachdem sie die Pyramide verlassen hatten, wurden sie schon von jemandem erwartet, die sie schon vermisst hatten: Sanna Breen. Das Konzept DORGONS hatte auf einem umgestürzten Baumstamm Platz genommen und sah ihnen ruhig entgegen. Im Vergleich zu ihrer letzten Begegnung schien es ihr wesentlich besser zu gehen, was den Schluss zuließ, dass wohl auch DORGON auf dem Wege der Besserung war.

Die ehemalige Assistentin Cistolo Khans stellte inzwischen die bevorzugte Mittlerin des Kosmotarchen dar. Welchen Status die Terranerin genau hatte, war unbekannt, mangels genauerer Informationen hatte sich die Bezeichnung als Konzept eingebürgert.

»Im Namen DORGONS möchte ich mich bei euch bedanken. Durch euren Mut habt ihr MODROR und seinen Handlangern eine empfindliche Niederlage zugefügt. Leider müssen sich unsere Wege nun trennen, da eure Mission in Manjardon beendet ist. Lediglich Osiris wird von DORGON weiter benötigt werden.«

Atlan und Icho Tolot schauten sich konsterniert an. Sollte das schon alles gewesen sein? Wo blieben die Enthüllungen, wo blieb die Aufklärung über die Rolle, die DORGON und MODROR in Konzert der Hohen Mächte spielten? Es schien, dass DORGON in die gleiche Kategorie einzureihen wäre wie die verschwundene Superintelligenz der Lokalen Gruppe. Von Vertrauen und Offenheit gegenüber seinen Helfern schien auch der Kosmotarch, nichts zu halten. Atlan kam sich wie ein Bauer in einem kosmischen Schachspiel vor, der von einem übermächtigen Spieler über ein gigantisches Schachbrett bewegt wurde.

Bevor er jedoch eine entsprechende Bemerkung machen konnte, kam es wieder zum altbekannten Verblassen der Umwelt, Atlan und Tolot wurden wieder zurück auf die SOL versetzt, die zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg von Winten nach Emsland V war, um die Wintener zu evakuieren.

Osiris dagegen bekam den Auftrag, mit der HOR-ATEP wieder NESJOR anzufliegen und zusammen mit Alaska Saedelaere den Oberbefehl über die alte Nesjor-Station zu übernehmen.

Auf dem Weg zur Normalität

Atlan

Ich blickte auf die Kommunikationswand, die einen Teil der Längsseite meiner Kabine innerhalb des kugelförmigen Zentralbereichs der SOL-Zelle 1 einnahm. Irgendetwas hatte mich geweckt und ich bemerkte, wie ein unwirklicher Schein gegen die Dunkelheit meiner Kabine ankämpfte. Hätte ich mich in einem alten Schloss in Schottland befunden, so hätte ich an Geister geglaubt.

Narr, gottverdammter! Du hast doch auf deinen Reisen genug Geister aus Fleisch und Blut zu Gesicht bekommen, höhnte mein Extrasinn.

Ich ignorierte diese Bemerkung, schließlich hatte ich Besseres zu tun, als mich mit meinem zweiten Ich zu streiten. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Kommunikationswand, die anscheinend gerade von meinem »Geist« besucht wurde. Der diffuse Lichtschein verschwand hinter der Wand, um sich dann als Holo-Projektion zu manifestieren.

Immer noch schlaftrunken tastete meine linke Hand unter mein Kopfkissen, wo ich einen Kontrafeld-Nadler wusste, der es möglich machte, Hochenergiewaffen innerhalb einer Wohnkabine einzusetzen, ohne sich selbst in die Luft zu jagen. Doch meine Hand erstarrte auf halbem Weg, als wenn mich jede Energie verlassen hätte.

Plötzlich war die Erinnerung da: DORGON, der Kosmokrat persönlich beehrte mich in meinem trauten Heim – sofern ich in den letzten Jahrtausenden überhaupt ein etwas gehabt hatte, das diesen Namen verdiente. Die Holo-Projektion begann zu zerfließen und die Lichtquanten ordneten sich in einer neuen Gestalt – einer, die mich unwillkürlich zu einem schrillen Pfiff veranlasste.

»Hallo Arkonidenhäuptling!« Sie blinzelte mich verschwörerisch an. »Ich habe gehört, dass du meine Informationspolitik unzureichend findest?«

Ich starrte die Manifestation einer der mächtigsten Entitäten des Universums fassungslos an. Es kam bestimmt nicht oft vor, dass mir die Worte fehlten, aber dieser Kosmotarch, der sich in eine frivole Schönheit verwandelt hatte, schaffte es mit Leichtigkeit.

Informationspolitik? »Desinformation an allen Fronten« würde das Mitteilungsbedürfnis dieser Manipulatoren weitaus besser charakterisieren. DORGON schien meinen Gemütszustand registriert zu haben, denn in einem Wimpernschlag verwandelte er sich wieder in die altbekannte Gestalt eines alten Mannes mit einem ellenlangen, schlohweißen Bart, der Fantasielosigkeit ausstrahlte.

»Arkonide, zuerst möchte auch ich mich bei dir bedanken, ohne eure Hilfe wäre ich verloren gewesen.«

Das war ja schön und gut, aber ich war nicht bereit, mich durch eine Entschuldigung besänftigen zu lassen.

»Meint Ihr nicht, dass es viel vernünftiger gewesen wäre, uns von Anfang an reinen Wein einzuschenken, anstatt uns völlig unvorbereitet in eine Auseinandersetzung zu schicken, von der wir total überfordert waren?«

»Mein lieber Freund, gerade die Unwissenheit war es, die euch schützte. Weder Rodrom noch MODROR haben euch als Gegner für voll genommen, und nur so konntet ihr gegen sie bestehen.«

»Ich möchte aber …«

»Ich bitte dich, einfach meine Entscheidung so zu akzeptieren, wie ich sie für richtig gehalten habe. Und außerdem: Wolltest du mir nicht ganz andere Fragen stellen? Fragen, die dir auf der Seele brennen?«

Wieder schaffte es DORGON, mich zu überraschen. Es war tatsächlich so, dass ich Antworten wollte, die nichts mit der üblichen Geheimniskrämerei der Hohen Mächte zu tun hatten.

Der Kosmotarch im Körper eines alten Mannes ließ sich ächzend auf einem Formenergiesessel nieder und musterte mich bedauernd.

»Ich werde dir eine Geschichte erzählen, die du aber sofort nach ihrem Ende wieder vergessen wirst. Perry Rhodan, Icho Tolot, du, selbst Osiris – ihr alle seid auf der Stufenleiter der Evolution noch nicht weit genug gestiegen, um Kenntnis von den wahren Hintergründen zu bekommen, um die es bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung geht.«

Der Kosmotarch machte eine Pause, bevor er fortfuhr.

»Mein Freund, du hast, als du Teil meiner Existenz warst, einen Teil meiner Macht kennengelernt. Diese Macht, über die wohlbemerkt auch mein negativer Bruder MODROR verfügt, reicht bis auf die unterste Ebene des Multiversums, sie manifestiert sich im Quantenschaum.«

Hier unterbrach Atlan die Schilderung DORGONS.

»Mich interessiert nur eines: War das, was ich erlebt habe, Wirklichkeit oder nur Ausdruck eines perversen Geistes, der mich in den Wahnsinn treiben wollte? Habe ich tatsächlich ein Duplo Mirona Thetins getötet und hat diese erst …«

Bevor er weiterreden konnte, unterbrach ihn das Holobild eines alten Mannes.

»Halt, mein Freund! So leid es mir tut, aber ich darf dir darauf keine Antwort geben. Im Gegenteil, du musst dieses Erlebnis wieder vergessen. Niemals darf die gegenwärtige Geschichtsdarstellung in diesem Punkt angezweifelt werden, die Folgen wären katastrophal.

Und nun, mein Freund, nun muss ich gehen. Es war nett, mit dir zu plaudern, auch wenn ich deine Fragen nicht beantworten konnte. Jetzt bleibt mir nur noch eines: Dir eine gute Nacht zu wünschen. Deine Entscheidung, die Wintener zu evakuieren, war übrigens richtig, obwohl du deswegen den Flug nach Wassermal unterbrechen musstest. Und nun, gute Nacht!«

Atlan wollte aufbegehren, doch er konnte nicht. Wie in Trance ging er zu seiner Pneumoliege und schlief sofort ein.

Wenig später verschwand auch das unwirkliche Leuchten. Atlan war wieder allein in seiner Kabine. Am nächsten Morgen hatte er das Gefühl, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte, aber alles Grübeln half nichts, er hatte keinerlei Erinnerung, was so wichtig gewesen sein sollte.

Die SOL setzte ihren Flug nach Emsland fort, niemand hatte bemerkt, dass der Arkonide und der Haluter fort gewesen waren.

12. Fimbultyr: Der Weg ins Licht

Da reitet der Mächtige zum Rat der Götter,

Der Starke von oben, der alles steuert.

Den Streit entscheidet er, schlichtet Zwiste,

Und ordnet ewige Satzungen an.

Aus der Völuspá, Der Seherin Gesicht

Wiedergeburt

Die wenigen Alysker, die die Besatzung der alten Raumstation NESJOR bildeten, gerieten langsam in Panik, denn auf NESJOR spukte es. Immer häufiger materialisierten geisterhafte Erscheinungen in den verlassenen Gängen und Hallen der Station. Es war ein geisterhaftes Kommen und Gehen unzähliger Erscheinungen, die jedoch immer materieller wurden.

Orthir, der nach dem Massaker, das Rodrom mit Roggles Hilfe angerichtet hatte, stillschweigend Noras Position eingenommen hatte, verbarrikadierte sich mit den übrigen Alyskern im Zentralbereich. Die letzten Überlebenden einer uralten Rasse wollten kein Risiko mehr eingehen.

Sie konnten diese Erscheinungen nicht einordnen und hielten sich fern. So war es kein Wunder, dass die nachfolgenden Ereignisse von niemandem beobachtet wurden.

*

Die geisterhafte Erscheinung diffundierte durch das molekülgehärtete Metall in den dahinterliegenden Raum, der innerhalb des speichenartigen Verstärkungswulstes lag. Der leere Raum war von gewaltigen Ausmaßen. Langsam, fast gemächlich, schwebte sie zu einer Ecke, wo sie genau im Winkel, den die aufeinanderstoßenden Wände bildeten, regungslos verharrte.

Einem Beobachter wäre aufgefallen, dass die Lichterscheinung inzwischen mehr einem Astralkörper glich und zunehmend Substanz gewonnen hatte. Minuten um Minuten reihten sich aneinander und bildeten endlose Stunden, während immer mehr Leuchterscheinungen auftraten, die sich augenscheinlich planlos in der riesigen Station verteilten. Ein Teil schwebte noch immer suchend von Raum zu Raum, während ein anderer Teil sein Ziel schon gefunden hatte und dort unbeweglich verharrte. Das Warten begann.

Inzwischen waren mehrere Stunden vergangen, als erneut eine geisterhafte Leuchterscheinung den Weg in den Raum fand. Zuerst war alles wie zuvor, der Ankömmling irrte ziellos durch die riesige Halle. Doch dann schien sein Suchen endlich ein Ziel gefunden haben. Grelle Lichtentladungen zuckten durch den Raum, während beide Erscheinungen aufeinander zu schwebten.

Als sie sich erreicht hatten, schien es, als würden sie sich umarmen, und ein Kaleidoskop aus Farbe und Licht nahm seinen Anfang. Eventuelle Beobachter hätten dieses Schauspiel millionenfach innerhalb der ausgestorben daliegenden Station erleben können.

*

Das Wesen trieb durch die neue Heimat und hoffte, endlich Resonanz auf seine ausgestreckten mentalen Energiefühler zu bekommen. Es musste sein Gegenstück finden, wie es versprochen war. Die Zeit hatte aufgehört eine Rolle zu spielen, während es Teil einer unbegreiflichen Existenz gewesen war, körperlos und in einen Geist eingebettet, den es nicht begreifen konnte. Andere Wesen waren aufgestiegen und hatten sich in den allumfassenden Geist eingegliedert. Andere – viele – waren hierzu nicht in der Lage gewesen.

Zuerst war es nur ein leichtes Kribbeln, so wie eine elektrostatische Entladung, das ihn durchzuckte. Dann wurde das Wesen durch die Macht der Empfindungen, die es plötzlich umtosten, mitgerissen. Und aus dem elektromagnetischen Gewitter materialisierten zwei Körper:

Mann und Frau – und sie liebten sich.

Es geschah überall in der alten kosmischen Station: Aus dem Nichts materialisierten Millionen Körper und liebten sich. Mentale Energien, die von den neu gebildeten Paaren ausgingen, flossen in Gefilde ab, die jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens lagen.

Dort fand ein Wesen zu alter Kraft. Die reine Macht der Liebe war die Quelle, die zur Genesung des Kosmotarchen führte.

Doch wie lange würde die Kraft der Liebe DORGONS dem Hass seines Bruders MODROR widerstehen können?

Raumherr der Kosmokraten

Die Ereignisse hatten sich in den vergangenen Stunden überschlagen, was die Alysker an Bord der Kosmokraten-Station sichtlich überforderte. Während überall Saggittonen, Trötter, Varnider, Holpigons und Multivons materialisierten, waren Osiris und Alaska Saedelaere zurückgekommen und hatten vom erfolgreichen Ausgang ihrer Mission berichtet.

Nach einer kurzen Begrüßung trafen sich Alaska, Osiris und Orthir in der Zentrale, um die weitere Vorgehensweise und die Versorgung der zurückgekehrten saggittonischen Völker zu besprechen. Osiris hatte die Alysker darüber aufgeklärt, dass es sich hierbei um Verbündete DORGONS und nicht um irgendwelche Unbekannten handelte.

Allerdings bildeten die verschiedenen Völker der saggittonischen Republik ein gewaltiges logistisches Problem. Allein die Ernährung stellte die Alysker vor fast unlösbare Probleme, da sie sich bisher nur von mitgebrachten dehydrierten Lebensmitteln ernährt hatten. Dazu kam, dass alle neuen Bewohner noch genauso waren, wie sie von DORGON entlassen wurden, nämlich nackt.

Schließlich manifestierte sich DORGON mit einem Holpigon, den er als Sprecher für die saggittonischen Völker mitgebracht hatte. Der Kosmotarch versprach, sich der Versorgungsprobleme anzunehmen und ernannte Alaska zum Befehlshaber der Station. Die Station musste schnellstmöglich in die Milchstraße verlegt werden, um Perry Rhodan und Aurec in ihrem Kampf gegen das Quarterium und die Flotten MODRORS zu unterstützen.

Doch die Überraschungen waren noch nicht vorbei. Wenig später kam Eorthor zurück, der Rodrom im Kryostase-Zustand als Gefangenen mit sich führte.

In den nächsten Tagen wurden viele Sektoren der Station in Betrieb genommen. Vor allem das Wissen Eorthors erwies sich dabei als äußerst wertvoll. Nach und nach normalisierte sich das Leben an Bord, und die Saggittonen bevölkerten die seit Äonen verlassenen Teile der Station.

Die Trennung zu den Alyskern blieb jedoch bestehen, da diese den Zentralbereich als ihren Wohnbereich beanspruchten. Dabei war abzusehen, dass es zwischen Eorthor und Alaska zu Konflikten kommen musste, denn der Alysker war nicht bereit, sich dem Terraner unterzuordnen.

Nach und nach wurde nun begonnen, die eingemotteten ehemaligen Nesjor-Schiffe einsatzbereit zu machen, was natürlich nicht einfach war, da entsprechende Baupläne fehlten und auf praktische Erfahrungen im Handling dieses Schiffstyps nicht zurückgegriffen werden konnte.

Alles in allem machten sie zwar beachtliche Fortschritte, aber von einer wirklichen Einsatzbereitschaft war die Kosmokraten-Station mit der Nesjorflotte noch weit entfernt. Es war bis jetzt noch nicht einmal gelungen, für Millionen Besatzungsmitglieder unterschiedlicher Spezies aus eigenen Mitteln eine ausreichende Nahrungsversorgung sicherzustellen. DORGON selbst war gezwungen, die Defizite der Nahrungsversorgung auszugleichen.

Nachdem mehrere Wochen vergangen waren, in denen NESJOR bewegungslos an seiner Position im Halo der Galaxie Manjardon stand, kam es zu einer denkwürdigen Auseinandersetzung zwischen Eorthor, der wieder seine Funktion als Sprecher der überlebenden Alysker eingenommen hatte, und Alaska Saedelaere, der sich auf die ihm durch DORGON übertragene Befehlsgewalt berief.

Alaska wollte die Station in die Milchstraße verlegen und sie dem direkten Befehl der LFT unterstellen. Eorthor dagegen war unter keinen Umständen bereit, sich der LFT und Perry Rhodan in irgendeiner Weise unterzuordnen. So drohte die Hilfsmission zu scheitern, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

Auf Betreiben DORGONS kam es zu einem weiteren Versuch, Eorthor und Alaska zur Zusammenarbeit zu bewegen. Auch Osiris war anwesend und wollte von einer neutralen Position aus vermitteln.

Die Unterredung stand unter keinem günstigen Stern, die Differenzen zwischen Eorthor und Alaska wurden unüberbrückbar. Eorthor drohte schließlich, sich mit den von ihm geführten Alyskern zurückzuziehen, was einer Katastrophe gleichgekommen wäre, da die Fortschritte, die sie bei der Erforschung NESJORS gemacht hatten, in erster Linie den Alyskern zu verdanken waren.

Eorthor hatte sich gerade erhoben, um den als Messe dienenden Lagerraum zu verlassen, als er plötzlich gegen eine Formenergiemauer lief, die ihn grob zurückschleuderte. Wutentbrannt fuhr er herum, um DORGON entsprechend zur Rede zu stellen, als er erstarrte.

Es war nicht DORGON, der ihn am Verlassen der Konferenz gehindert hatte, sondern eine unbekannte Entität, die eine ähnliche Aura der Macht umgab, wie er sie von AMUN oder anderen Kosmokraten gewohnt war. Eorthor war jedoch nicht mehr gewillt, den traurigen Rest seines Volkes der Willkür der Kosmokraten auszuliefern.

»Wir Alysker haben mit den Hohen Mächten nichts mehr zu tun, ihr habt uns bestraft und ins kosmische Vergessen gestoßen. Ich verlange von euch, dass ich und mein Volk uns einen Planeten suchen dürfen, um das Ende unserer Zivilisation in Ruhe zu erwarten.«

Der Projektionskörper des Kosmokraten, der an einen Gladiator erinnerte, musterte ihn, als sei der unsterbliche Alysker ein Insekt, das man einfach beiseite wischen könne, wenn es lästig werden würde.

»Wie kannst du Abschaum der Niederungen es wagen, in diesem Ton mit mir zu reden? Du hast im Moment Glück, dass wir beschlossen haben, dass wir dich und dein Volk wieder benötigen, aber überstrapaziere nicht unsere Geduld!«

Eorthor blickte den Kosmokraten ungläubig an. Verblüfft fragte er: »Wie darf ich das verstehen?«

»Oh Eorthor, dein Begriffsvermögen scheint im Laufe der Jahrmillionen gelitten zu haben. Dies ist eine Kosmokraten-Station, die ehemaligen Nesjor-Schiffe gehören ebenfalls uns und deshalb ist nicht dieses Nichts in kosmischer Hinsicht der Kommandant von NESJOR, sondern du.«

»Mit welchem Recht maßen sich die Kosmokr…«, versuchte Alaska einen Einwand zu formulieren, wurde jedoch durch den Kosmokraten rüde unterbrochen.

»Du bist ein Nichts, ein Kind im kosmischen Maßstab, und Kinder haben den Mund zu halten, wenn Erwachsene reden. Deshalb wirst du in Zukunft schweigen, wenn wir uns unterhalten.«

»Aber das …«

Alaska setzte wieder zu einer Entgegnung an, krümmte sich jedoch nach zwei Worten vor Schmerzen zusammen.

Der Kosmokrat maß ihn mit einem Blick, der seine ganze Überheblichkeit widerspiegelte, und spottete:

»Ich hab doch zu dir gesagt, dass du schweigen sollst. Wer nicht hören will, muss eben fühlen!«

DORGON hatte sich endlich dazu durchgerungen, sich schützend vor Alaska zu positionieren.

»So geht das nicht, Sipustov. Hör sofort damit auf, sonst …«

»Sonst was, du Witzfigur? Du kannst mir nichts antun, denn dazu bist du viel zu verweichlicht.«

Grinsend drehte er sich zu Eorthor um, ohne die anderen weiter zu beachten.

»Also nochmal, damit es allen klar ist. Du bist hiermit als unser Raumherr der Kommandant von NESJOR. Dein augenblicklicher Auftrag lautet, dass du in der Milchstraße Perry Rhodan gegen MODROR unterstützen sollst. Unterstützen, verstehst du Eorthor, nicht unterstellen. So, das wars schon, ich wünsche den Herrschaften noch einen geruhsamen Flug zur Milchstraße!«

Mit diesen Worten begann Sipustov zu verblassen, kehrte jedoch für einen kurzen Moment noch einmal zurück und spuckte geradezu eine weitere Anweisung an den neu ernannten Raumherrn aus:

»Noch etwas, Eorthor! Vermeide den Kontakt mit SI KITUS Kindern. Sie handeln nicht im Sinne der Kosmokraten …«

Epilog: Mega Therion

Sind dies die Schatten der Dinge,

die sein werden,

oder nur derer,

die sein können?

Charles Dickens

Die Zahl des Tieres

Und es macht, dass sie allesamt, die Kleinen und Großen, die Reichen und Armen, die Freien und Sklaven sich ein Zeichen machen an ihre rechte Hand oder an ihre Stirn, und dass niemand kaufen oder verkaufen kann, wenn er nicht das Zeichen hat, nämlich den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens.

Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tieres; denn es ist die Zahl eines Menschen, und seine Zahl ist sechshundertundsechsundsechzig.

Wenn jemand das Tier anbetet und sein Bild und nimmt das Zeichen an seine Stirn oder an seine Hand, der wird von dem Wein des Zornes Gottes trinken, der unvermischt eingeschenkt ist in den Kelch seines Zorns, und er wird gequält werden mit Feuer und Schwefel vor den heiligen Engeln und vor dem Lamm.

Und der Rauch von ihrer Qual wird aufsteigen von Ewigkeit zu Ewigkeit; und sie haben keine Ruhe Tag und Nacht, die das Tier anbeten und sein Bild, und wer das Zeichen seines Namens annimmt.

Aus der Offenbarung des Johannes

Destitutio: Der Rote Tod

Narren, nichts als selbstgefällige, einfältige Narren! Warum darf ich ihnen nicht unsere wahre Macht offenbaren, Meister?

Die Zeit ist noch nicht reif, mein Schüler. Lass diesen überheblichen Vertreter der Kosmokraten Sipustov und seinen Handlanger Eorthor ruhig in dem Glauben, sie hätten einen glorreichen Sieg über uns errungen. Unser Weg wäre zwar wesentlich einfacher und direkter gewesen, wenn es dir gelungen wäre, DORGON jetzt schon seiner Bestimmung zuzuführen, aber denke immer daran, welchen Schrecken wir verbreiten werden, wenn diese Narren entdecken, dass der Sieg, den sie jetzt feiern, der Anfang ihres Untergangs darstellen wird.

Denke immer daran, Rodrom: Unsere Stunde kommt erst noch. Wir werden ihre kleinkarierte Welt mit der Macht unseres Geistes zerschmettern und aus den Trümmern des Universums eine neue, bessere Welt aufbauen. Die Hohen Mächte und ihre Handlanger sind die Mächte von gestern. Uns, Rodrom, uns steht die Zukunft des Multiversums offen.

Aber KAHABA …

Einen Moment schien es, als ob die Quantenfluktuation einfrieren würde, dann wand sich der Geist des Roten Todes in namenloser Pein.

Wage nie wieder, den Namen der SI KITU zu erwähnen. Ihre Macht wird zerbrechen und die Qualen ihres Geistes werden unserem Vergnügen dienen!

Ende

DORGON wurde gerettet! Als Dank hat er der verlassenen Kosmokraten-Station NESJOR mit seinen zweihunderttausend Schlachtschiffen eine Crew in Form der Saggittonen geschenkt, die vor mehr als zwanzig Jahren in dem Kosmotarchen aufgegangen sind. Die Flotte soll in die Lokale Gruppe fliegen, um Rhodan zu unterstützen. Der hat es in Band 105, geschrieben von Jürgen Freier und Jens Hirseland, derweil weiter mit einem unersättlichen und kriegslüsternen Quarterium zu tun. Deren nächster Schritt ist

DER ANDROMEDA-FELDZUG

DORGON-Kommentar

Bevor Nils seinen Kommentar zum aktuellen Roman gibt und vielleicht etwas über die weitere Entwicklung verrät, möchte ich auf das aktuelle Glossar hinweisen, das wieder Bezug auf die aktuelle Kosmologie nimmt. Hier sei mir jedoch der Hinweis gestattet, dass die Theorien der Multiplen Universen noch spekulativ sind, auch wenn viele Quantenphysiker wie beispielsweise Tegmark, Steinhardt, Bohm oder Barrow sie logisch aus der Quantenmechanik und der Quantengravitation sowie der Unschärferelation ableiten.

Jürgen Freier


Da Jürgen ja selbst Autor des Heftes ist, übernehme ich diesmal den DORGON-Kommentar. Tja, mit diesem Heft schließt sich eine Handlungsbogen, der mit Heft 17 seinen Anfang nahm. Damals wurde die Person von Prinz Prosperoh eingeführt, der Herr über den Planeten Zechon in der Galaxie Zerachon war.

Prosperoh regierte mit Grausamkeit seine primitiven Untertanen und verehrte den Teufel. Als eines Tages Gal’Arn, Jonathan Andrews, der Marquês de la Siniestro, Uthe und Remus Scorbit, Yasmin Weydner und Jezzica Tazum nach Zechon kamen, wurden sie von Prosperoh inhaftiert. In Yasmin sah er eine Art Prinzessin und wollte sie heiraten. Da tauchte der Rote Tod (Rodrom) auf und tötete alle Zechonen inklusive Prosperoh. Was damals nach einem seltsamen, grausamen Spiel aussah, war die erste Phase von Rodroms Plan.

Die ÜBSEF-Konstanten der gesamten zechonischen Bevölkerung – alles in allem sehr negativ – gingen vermutlich in MODROR auf. Als Rodrom einen erneuten Angriff auf die Galaxie Saggittor startete, leitete er damit die zweite Phase des Plans ein. Der SONNENHAMMER vernichtete Saggittor und die meisten Bewohner der Galaxie konnten nicht gerettet werden. Ausgerechnet der Kosmotarch DORGON bot sich an, die Wesen in sich aufgehen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit injizierte Rodrom seinen Virus: Er ließ die Zechonen – unter den vielen Saggittonen getarnt – auch in DORGON aufgehen und ein schleichender Prozess begann. DORGON wurde negativer und konnte sich nicht wehren.

Deshalb mussten Atlan, Icho Tolot und Osiris gerufen werden. Ein weiterer Teil von DORGONS Plan war, dass die Kosmokraten-Station NESJOR mit seiner Flotte erneut bemannt werden sollte. Einige Millionen der in DORGON aufgegangenen Saggittonen waren dafür prächtig geeignet.

So war der Plan entstanden, Alaska Saedelaere, Denise Joorn, Atlan, Icho Tolot, aber auch Jaques de Funés und Leopold auf ihre Abenteuer zu schicken. Sie sollten im Grünen Universum zuerst erleben, was geschehen würde, sollten sie versagen. Im Kreuz der Galaxien sollten sie natürlich Kontakt mit den Alyskern herstellen und die Flotte nach Manjardon bringen, um DORGON zu retten. DORGONS Plan funktionierte, während Rodroms scheiterte.

Wieso?

Ganz einfach: Es lag an der Auswahl der Helfer! Während Prosperoh schließlich nur an sich dachte, größenwahnsinnig wurde und somit Rodrom in den Rücken fiel, waren Atlan und seine Gefährten stets gewillt, DORGON zu helfen und ihre Mission zu erfüllen.

Das war der gravierende Unterschied. Wir dürfen gespannt sein, wie es weitergeht. Die Flotte fliegt in die Lokale Gruppe, um Perry Rhodan zu unterstützen. Rodrom ist endgültig seiner Macht beraubt und der Kosmotarch DORGON erholt sich. Das waren sehr wichtige Siege für das Gute – doch MODROR ist längst nicht geschlagen.

Nils Hirseland

GLOSSAR

Shruuf

Vogelwesen in den Welten DORGONS. Atlan muss gegen einen Shruuf in der Arena von Prosperohs Burg kämpfen. Er beschreibt es so: »Das besagte Haustier entpuppte sich als fast drei Meter großes Monstrum, das auf eitergelben Vogelbeinen herangestapft kam. Aus dem feisten Körper, der von einem riesigen Schnabel, wie ihn Kraken besaßen, dominiert wurde, wuchsen nicht weniger als fünf Tentakel und vier Hörner heraus. Die Länge der Tentakel schätzte ich auf gut zwei Meter.«

Multiple Universen

Die Vertreter der Quantenkosmologie postulieren, dass die Gravitationsgesetze (Quantengravitation) auch für die »virtuellen Teilchen« des »Quantenschaums« gelten, d. h., es bilden sich Teilchenballungen, die als »Baby-Universen« bezeichnet werden. Diese können sich durch einen »Inflationsprozess« zu »Makro-Universen« aufblähen und fünfdimensionale »Branen-Universen« bilden, die »Bulk« genannt werden, oder sie zerfallen wieder im »Quantenschaum«.

Genau an diesem Punkt setzen die Vertreter der »Multiplen-Universen« ein. Nach ihrer Ansicht ist das »Quantenvakuum« unendlich und mit einer endlichen Zahl von »Baby-Universen« durchsetzt. Von diesen durchläuft eine weitere Teilmenge den Prozess der »Inflation«, indem die Quanten zu »Strings« zusammenkleben, es entstehen »Makro-Universen«, die entweder genau die richtigen physikalischen Eigenschaften haben, um ein »Branen-Universum« zu bilden, oder bei fehlerhaften physikalischen Eigenschaften wieder in den Zustand des »Quantenschaums« zurückfallen. Im Laufe mehrerer Kataklysmen kann es auch dazu kommen, dass ein »Bulk-Universum« wieder vernichtet wird und als »Quantenschaum« endet.

Max Tegmark schlägt nun vor, die möglichen »Bulk-Universen« in Gruppen einzuteilen, die er »Level« nennt und von denen er vier Kategorien annimmt:


Level 1:

Hierzu zählen Paralleluniversen, die im Grundsatz dem uns bekannten Universum entsprechen. Sie unterscheiden sich von unserer Welt durch mehr oder weniger große Abweichungen, sind in der Grundstruktur jedoch identisch.


Level 2:

Diese Universen hingegen sehen dem unseren schon nicht mehr ähnlich. Sie können unterschiedliche physikalische Konstanten oder gar abweichende Raum-Zeit-Dimensionen besitzen. Die Existenz solcher Universen wird von Verfechtern der Theorie der anhaltenden »chaotischen Inflation« propagiert, die in den achtziger Jahren von Andrei Linde aufgebracht wurde. Die Raumzeit in einer Level 2-Welt könnte beispielsweise problemlos neun oder aber auch nur zwei Dimensionen aufweisen.


Level 3:

Dieses Level bringt uns nun endlich zu dem berühmten Ansatz der Parallelweltentheorie, die auf die Quantenmechanik und Heisenbergs Unschärferelation zurückgeht.

Um es kurz zu machen: Diese Idee besagt, dass jede getroffene Entscheidung zwischen A und B, unsere Welt in zwei nahezu identische Kopien aufteilt. Der einzige Unterschied: In der einen Welt ist A Realität geworden, in der anderen B. Somit splittet sich unsere Welt ständig und unaufhörlich in alle nur irgend mögliche Universen.


Level 4:

Könnten wir uns auf unserem gedanklichen Kurztrip zu den Multiversen-Theorien eigentlich gleich sparen, da hier eigentlich nur noch ein Adjektiv greift: unvorstellbar, unheimlich, chaotisch – der Wirklichkeit gewordene Albtraum. Hier könnte die Zeit ruckartig vorangehen oder mal vorwärts und dann wieder zurücklaufen;

2 + 2 könnte problemlos 4,1078 oder auch gar nichts ergeben und Dimensionen könnten kommen und gehen wie Tag und Nacht, während die Lichtgeschwindigkeit dort das langsamste Tempo sein könnte.


Dazu kommt noch, dass jedes Universum, oder anders ausgedrückt, jede »Quantenschaumblase«, eigentlich aus zwei gegenüberliegenden »Branen« besteht, die nach Steinhardt als »Zyklische Universen« bezeichnet werden und solange den Zyklus von Big Bang und Big Crunch wiederholen, bis die im Kataklysmus entstehenden String-Eigenschaften nicht mehr geeignet sind, eine stabile Struktur der dreidimensionalen »Bran« zu gewährleisten, das Universum stirbt, und geht wieder im umgebenden »Quantenschaum« auf.

Multiple Universen und PERRY RHODAN

Kehren wir wieder zum PR-Kosmos zurück. Auch parallele Welten bzw. Universen des Level 3 traten dort bereits in verschiedenen Erscheinungsformen auf.

Die zumindest teilweise theoretische Durchdringung dieser Phänomene ist untrennbar mit dem Namen Sato Ambush verknüpft, der in diesem Zusammenhang von »Pararealitäten« spricht (PR-Kommentar 2118).

Beim Übergang zwischen den »Paralleluniversen« oder »Pararealitäten« treten nun Abstoßeffekte auf, die um so größer sind, je »fremdartiger« die »parallele Wirklichkeit« ist, dieser Effekt wird nach Payne Hamiller als »Strangeness« (PR-Computer 931) bezeichnet.

Fassen wir die Erkenntnisse der terranischen Hyper- und Paraphysik kurz zusammen, muss man davon ausgehen, dass der Wissensstand den bereits im 20. Jahrhundert alter Zeitrechnung postulierten Theorien der Quantenphysik und der von Werner Heisenberg erarbeiteten Unschärferelation entspricht. Dazu kommen noch diverse, nicht wissenschaftlich belegte Meditationstechniken aus der fernöstlichen Philosophie und den asiatischen Kampfsportarten, die eher der Parapsychologie zuzuordnen sind.

Kosmokraten-Station NESJOR

Geschichte

Bei den als Kosmokraten-Stationen bezeichneten Kampfeinheiten der Ordnungsmächte handelt es sich um ein Konzept, das zur aktuellen Handlungszeit von den Ordnungsmächten aufgegeben wurde. Außer der auch als Nesjor-Station bezeichneten Einheit NESJOR, ist den Terranern und ihren Alliierten keine weitere Station bekannt.

Es ist zu vermuten, dass diese Stationen ursprünglich das Gegengewicht zu den von den Chaotarchen entwickelten Kolonnen-Forts vom Typ TRAICOON gebildet haben, bis die Kosmokraten sich aus unbekannten Gründen entschlossen, dieses Konzept aufzugeben und die Stationen durch die Kobaltblauen Walzen zu ersetzen.

Die Kosmokraten-Station NESJOR ist ein Überbleibsel aus der Vergangenheit und hatte einst die Aufgabe, das Kosmonukleotid TRIICLE-3 gegenüber MODROR und seinen Hilfsvölkern zu verteidigen. Aus dieser Zeit stammen auch die 200.000 Raumschiffe, die in der Station eingelagert sind.

Aufbau

Die Station gleicht einer gewaltigen Scheibe mit 800 km Durchmesser und 100 km Höhe. Die Außenhaut ist mit Waffenmündungen, Projektionsköpfen und schießschartenähnlichen Öffnungen übersät. Dazwischen bilden 50 wulstartige Erhebungen so etwas wie Verstärkungsspeichen eines gigantischen Rades. Am Ende dieser Speichen, die sich durch die gesamte Station ziehen, befinden sich gewaltige Hangartore, die zum Ausschleusen der mitgeführten Kampfschiffe dienen.

Von außen betrachtet, sieht NESJOR wie ein Wagenrad aus. Die Station besitzt ein Tarnfeld, welches sie für Beobachter wie ein Mond erscheinen lässt.

Das Zentrum dieses eigenartigen Gebildes wird durch halbkugelförmige Kugelabschnitte gebildet, die es anscheinend ermöglicht haben, aus mehreren Stationen gigantische, ringförmige Gebilde aufzubauen.

Das verwendete Material scheint ein Vorläuferwerkstoff der Kobaltblauen Walzen zu sein, wobei der Farbton aber zwischen Violett und dunklem Rot schwankt.

Über vorhandene offensive und defensive Waffensysteme liegen zur aktuellen Handlungszeit (1307 NGZ) noch keine Informationen vor, da den Alliierten weite Teile der Station nicht zugänglich sind. Hierbei scheinen auch interdimensionale Effekte zu wirken, da es in bestimmten Bereichen zu räumlichen Versetzungen kommt.

Inwieweit sich dies durch die Kommandoübergabe an Eorthor ändern wird, bleibt abzuwarten.

Cover