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Band 103

Rideryon-Zyklus

Manjardon

Atlan in der Heimat des Kosmotarchen DORGON

Aki Alexandra Nofftz

Cover

Prolog

Roggle duckte sich in die Ecke seiner Kabine. Ein völlig unsinniges Verhalten war das, denn wer sollte hier unaufgefordert hereinkommen? Doch Rog hatte Angst vor dem, was ihm und seinem durch einen Transmitterunfall verschmolzenen Bruder bevorstand.

»Das ist wieder typisch für dich!«, zeterte Gle herum. »Du willst einfach nicht kapieren, dass uns diese sogenannten Freunde nur hintergehen!«

»Ich bin mir immer noch unsicher …«, entgegnete Rog zögerlich. »Du weißt, dass Alaska uns einmal das Leben gerettet hat. Warum sollte er …«

Gle schnitt ihm das Wort ab. »Na, warum wohl? Um dein Vertrauen zu gewinnen! Er schleimt sich ein und versucht, dich zu beeinflussen. Von wegen selbst einen Transmitterunfall erlebt und so. Wer soll das glauben?«

»Und falls du dich irrst?«

Gle stöhnte und kniff Rog mit seiner Hand in die Nase. »Aufwachen! Seit Jahrtausenden teilen wir uns nicht nur jeder jeweils eine Hälfte dieses Körpers, sondern uns beiden ist klar, dass wir nur überleben können, wenn wir als ein Wesen auftreten. Nicht umsonst legen wir Wert darauf, als Roggle angesprochen zu werden.«

»Ja, schon, aber …«

Anstatt zu antworten, machte Gle mit seinem Bein einen Schritt nach vorn. Unwillkürlich zog Rog nach, wie er es seit Urzeiten gewohnt war.

»Siehst du, genau das meine ich«, triumphierte Gle. »Wir arbeiten gut zusammen. Wir müssen gut zusammenarbeiten! Rodrom teilt zwar nicht unseren Körper, doch steht er uns näher, als uns jemals ein Wesen gestanden hat.«

»Er hat uns nach dem Transmitterunfall das Leben gerettet und dafür gesorgt, dass wir viel älter geworden sind, als jeder Vorjul vor uns«, musste Rog zugeben.

»Genau! Und nun erinnere dich, mit welch hasserfülltem Blick uns Eorthor angesehen hat. Nie wird dieser arrogante, überhebliche Wissenschaftler erkennen, in was für eine Knechtschaft er seine Heimat damals geführt hat.«

»Nein, ganz sicher nicht.« Rog seufzte ergeben. »Dennoch wollte er uns alle töten, nicht nur Roggle.«

»Ja. Aber wie schnell waren Atlan und die anderen dabei zu beteuern, dass sie mit Roggle gar nichts zu tun hatten? Außerdem hat er getötet – nämlich unser gesamtes Volk! Wir werden nie wieder einen anderen Vorjul sehen, ob nun Superintelligenz oder nicht. Er hat uns schamlos ausgenutzt und dafür gesorgt, dass wir den Tod über VORJUL brachten.«

»Aber Alaska …«, wagte Rog ein letztes Aufbegehren.

»… hat uns ebenso wenig in Schutz genommen wie die anderen!«, donnerte Gle.

Rog schluchzte. »Ja, ja, Gle! Ich gebe mich geschlagen! Lass uns anfangen.«

Gle nickte Rog anerkennend zu und schloss die Augen. Rog tat es seiner linken Körperhälfte gleich und versetzte sich ebenfalls in Trance. Ihre Geister tasteten einander vorsichtig ab. Mit einem Ruck verbanden sie sich zu Roggle und suchten den geistigen Kontakt zu ihrem telepathischen Gesprächspartner, von dem die Feinde annahmen, dass er teilnahmslos im künstlichen Koma lag.

Rodrom … Rodrom! Wie kann Roggle dir helfen?

Ah, es ist gut, dass du Kontakt zu mir aufnimmst. Ich kann DORGON spüren. Er ist ganz nahe und liegt im Sterben. Gut so! Höre mir genau zu, ich habe einen Plan …

Atlan

Die Raumstation fiel in den Einsteinraum zurück. Unwillkürlich schloss ich die Augen, bis das Unwohlsein, das die Rematerialisierung eines so großen Objekts hervorrief, verklungen war. Danach galt mein erster Blick den Ortungsschirmen. Die ehemalige Nesjor-Basis NESJOR hatte die Galaxie Manjardon erreicht, in der sich die »Heimat« von DORGON befinden sollte – falls man bei so einer Entität überhaupt von Heimat sprechen konnte.

Es fiel mir immer noch schwer zu verdauen, was wir über MODROR und DORGON erfahren hatten. Bei diesen beiden sogenannten Kosmotarchen handelte es sich um das Ergebnis eines von AMUN initiierten Versuchs der Verschmelzung zwischen Kosmokraten und Chaotarchen. Die kosmischen Mächte sollten eins werden und die Vorteile aus beiden Aspekten ihres Daseins ziehen. Doch das Experiment unter Führung der Alysker war schiefgegangen: Statt einem waren zwei Kosmotarchen entstanden – DORGON, der die positiven Bestandteile seiner »Eltern« erhielt, und MODROR, bei dem sich alles Negative angesammelt hatte.

Eins hatte funktioniert: Die beiden Entitäten zeigten in der Tat kein Interesse mehr am Wettstreit der sich gegenseitig ausschließenden Konzepte von Ordnung und Chaos. Doch waren sie dafür von Moralmaßstäben erfüllt, die unvereinbarer nicht sein konnten. So hatten sie sich seit ihrer Entstehung gegenseitig bekriegt – besser gesagt hatte der aggressive MODROR ständig DORGON angegriffen, dessen pazifistisches Denken ausschließlich der Defensive galt.

Vor einigen Jahren hatte dieser Kampf schließlich die Heimat der Menschheit in Cartwheel erreicht. Das einstmals von DORGON als Bollwerk gegen MODRORS Machenschaften initiierte Inselprojekt war von dem negativen Kosmotarchen in sein Gegenteil verkehrt worden. Die von MODROR rekrutierten Söhne des Chaos, die inzwischen Cartwheel beherrschten, brachten Zerstörung und Tod über die Insel selbst, über Siom Som, M 87, Andromeda und die Milchstraße.

Doch nun hatten wir ihn gefangen. Unsere wertvollste Fracht lag, von vielen Alyskern bewacht, inmitten von NESJOR in einem künstlichen Koma. Es war uns gelungen, MODRORS Inkarnation Rodrom gefangen zu nehmen.

Dieser Feind der Menschen, ja offenbar allen Lebens, war einst ein Alysker gewesen, ein angesehener Wissenschaftler, wenn auch von einem abartigen Sadismus erfüllt. Sein abnormes Gefühlsleben hatte ihn das Quälen und Morden genießen lassen, was ihn vom Serienmörder zum Kriegsverbrecher werden ließ. Er hatte vor 190 Millionen Jahren dann endgültig die Lager gewechselt. Schon der Rodrom aus Fleisch und Blut war eine Bestie gewesen, verschlagen und mit sadistischer Freude an Qual und Pein.

Nach dem Experiment, das den ersten Kosmotarchen hervorbringen sollte, hatte er den Freitod gewählt, um in eine höhere Existenzebene zu wechseln. Der neugeborene MODROR hatte ihn im Augenblick seines Todes als Teil von sich aufgenommen, sodass der Alysker Rodrom höchstens als Fragment seines früheren Ichs weiter existierte.

Wie konnte das sein? Rodrom war bei der Schlacht im HELL-Sektor im Hyperraum verweht, und doch von MODROR wiedergefunden worden. Ein zäher Kerl! Und doch empfand ich nicht den geringsten Hauch von Bewunderung für den Roten Tod.

Was war Rodrom? Eine Inkarnation des Kosmotarchen MODROR? Wie viel steckt noch von dem ursprünglichen Alysker in ihm? Anscheinend jede Menge, denn den Erzählungen zufolge hatte sich sein Hass ins Unermessliche gesteigert, seit er den Weg in eine andere Existenzebene beschritt.

Wie stark war Rodrom? Er war keine Superintelligenz, und doch mächtig genug, um einem Wesen aus fester Materie weit überlegen zu sein. Bis vor Kurzem kannte ich das sonderbare Wesen nur aus Erzählungen von Perry Rhodan und Aurec, aus der Zeit, ehe wir uns trennten. Alaska hatte mich auf den neuesten Stand gebracht. Der SONNENHAMMER! Ohne zu zögern, hatte Rodrom eine ganze Galaxie vernichtet. Doch er war am Widerstand in der Milchstraße gescheitert.

Wie kam solch ein Wesen mit sich selbst zurecht? Ich vermutete, dass die Abscheu vor dem »Leben an sich« bei Rodrom so stark ausgeprägt war, dass er wohl niemals aufgeben würde. So viele wunderbare Frauen hatte ich gekannt … aber ihm war es das größte Glück gewesen, sie bestialisch zu töten. Mich schauderte. Ich wusste um seine physischen Gräueltaten. Was vermochte diese Kreatur auf geistiger Ebene alles anzurichten?

Mich schauderte vor ihm. War sein Körper überhaupt noch echt? Oder war er die Spiegelung einer höheren, das Leben an sich verneinenden Wirklichkeit? Erneut führte ich mir vor Augen: Das rote Wesen war nur noch eine Hülle, die ganz von MODRORS Wesen erfüllt war. Nein … er war kein Lebewesen mehr, konnte kein lebender Alysker mehr sein, nach allem, was war.

Mich schüttelte es vor Abscheu beim Gedanken an die Verbrechen, die der perverse Zerstörer von Leben und Glück begangen hatte. Im Vergleich erschien der Massenmörder Cau Thon, einer der Söhne des Chaos, als milder Friedensfreund.

Beim Gedanken an seine Opfer und seine Zerstörungskraft ballte ich die Faust. Früher oder später würden wir aus Rodrom die Informationen über MODROR herausholen müssen, die er in sich tragen musste, notfalls mit Gewalt.

Narr!, schaltete sich mein Extrasinn ein. Rodrom hat schon millionenfachen Tod gebracht und ist selbst bereits einmal gestorben. Meinst du wirklich, dass du solch einen mit Gewalt und Schmerzen schockieren kannst? Vermutlich wird ihm das sogar noch gefallen!

Wie immer hatte der Extrasinn recht. Ich seufzte unwillkürlich und widmete mich wieder den Holos, als mich einige verwunderte Blicke trafen.

Wir hatten unser Ziel erreicht – die monatelange Reise hatte ein Ende. Auf den ersten Blick wirkte Manjardon wie jede andere Balkenspiralgalaxie, die ich bisher gesehen hatte – und das waren nicht wenige gewesen. Mit gut sechzigtausend Lichtjahren war sie etwas kleiner als die Milchstraße, und die Sternendichte schien nicht allzu hoch zu sein.

Dafür waren aber viele Regionen zu erkennen, die vor Sternengeburten nur so brodelten. Oder vielmehr gebrodelt hatten, denn wir waren immer noch viele tausend Lichtjahre von der Sterneninsel entfernt. Das Licht, das uns hier erreichte, war dementsprechend ebenfalls viele tausend Jahre alt und erlaubte nur einen Blick in die Vergangenheit.

Ein Rundblick durch die Zentrale sollte mir Sicherheit geben, dass ich mich entspannt zurücklehnen und die Ergebnisse abwarten konnte.

Da war die Alyskerin Nora. Eigentlich war die Ortungschefin ganz hübsch, aber unnahbar und von einer Arroganz erfüllt, wie sie nur ein samt und sonders aus Unsterblichen bestehendes Volk wie das ihre aufweisen konnte. Ihre Unsterblichkeit war eine schwerere Last als meine, denn die Kosmokraten und Chaotarchen hatten das Scheitern des Experiments grausam bestraft – seit diesem Tag vor Jahrmillionen war es den Alyskern unmöglich, durch Krankheiten oder Alterung zu sterben. Nicht einmal Selbstmord war ihnen gestattet.

Ich konnte gut nachvollziehen, dass einem diese zunächst angenehme Aussicht über eine solch unvorstellbare Zeit in den Wahnsinn oder völlige Abstumpfung treiben konnte. Der Wissenschaftler Eorthor, der uns vor unserem Aufbruch nach Manjardon wieder verlassen hatte, war das beste Beispiel dafür.

Andererseits waren nicht alle Alysker so. Ich schaute noch mal hin. Hübsch war sie schon, und wenn sie sich mal entspannte und lachte, wäre sie sogar sympathisch. Vielleicht fand sich ein guter Moment, um mal mit Nora essen zu gehen, damit ich sie näher kennenlernen konnte, und sie mich? Unsterblich war sie … das machte sie durchaus begehrenswert. Der Extrasinn lachte gehässig.

»Keinerlei Funksprüche empfangbar!«, teilte die Ortungschefin Osiris und mir mit, ohne jeden Anflug von Freundlichkeit in der Stimme. Ich konzentrierte mich aufs Naheliegende. Der Kemete und ich teilten uns das Kommando, was die Alysker anstandslos akzeptierten. Schließlich waren wir es gewesen, die die gigantische Raumstation NESJOR erobert hatten. Außerdem waren die Alysker nach der Zerstörung ihrer Heimat durch Eorthors 7-D-Bombe auf Duldung angewiesene Flüchtlinge und fügten sich in ihr Schicksal.

Erst jetzt realisierte ich, was sie mitgeteilt hatte. »Wie? Kein Funk?«, wiederholte ich lahm, was mir einen weiteren höhnischen Lacher des Extrasinns einbrachte.

Nora machte mit ihren Händen eine Rollbewegung – die Alysker-Version eines Schulterzuckens. Wohlwollend beobachtete ich, wie ihre hüftlangen Haare dadurch in Bewegung gerieten. »Rein gar nichts. Entweder sind wir noch zu weit außerhalb, was ich aber für unwahrscheinlich halte, oder es existiert in dieser Galaxie einfach nichts, was funken könnte …, zugegebenermaßen genauso unwahrscheinlich.«

»Nein, so unwahrscheinlich ist das auch wieder nicht.« Mit Grauen dachte ich an das, was Eorthor vor Kurzem im Kreuz der Galaxien veranstaltet hatte – und er war auf unserer Seite! »Wir müssen davon ausgehen, dass MODROR schon hier gewesen ist. Und wir wissen, was das vermutlich bedeutet.«

Betretenes Schweigen machte sich breit. Ich glaubte, ich war nicht der Einzige, dem MODRORS direkte und indirekte Taten zu schaffen machten. Selbst den Alyskern, die aufgrund ihrer Unsterblichkeit schon allerhand in ihrem langen Leben gesehen haben mussten, stand das Grauen ins Gesicht geschrieben. Sicherlich war es Eorthor gewesen, also einer der ihren, der ihre Heimat unmittelbar vor unserem Aufbruch vernichtet hatte, doch war dem Wissenschaftler und Oberhaupt seines Volkes nichts anderes übriggeblieben, da das Kreuz der Galaxien zu einem gigantischen Flottenaufmarschgebiet der Soldaten MODRORS geworden war.

Ein lautes Grollen ließ uns alle zusammenfahren. Icho Tolot hatte sich so leise wie möglich geräuspert.

»Ich bin mit meinen Berechnungen fertig«, verkündete er schlicht.

Ich verdrehte die Augen. Der Haluter hatte an Bord von NESJOR die Astronavigation übernommen. Musste man ihm denn alles aus der Nase ziehen? Dann wurde mir bewusst, dass er absichtlich wartete, um uns Gelegenheit zu geben, uns auf seine Informationen einzustellen. Die sprichwörtliche halutische Höflichkeit gebot ihm, uns unsere Gedankengänge beenden zu lassen – egal wie trübe diese auch sein mochten.

Mit einer Handbewegung forderte ich ihn zum Sprechen auf.

»Wir sind hier 187 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt. Von Terra aus betrachtet befinden wir uns im Sternbild Phönix. Die Terraner haben dieser Galaxie die Katalognummer IC 5328 gegeben. Wie wir wissen, haben wir vom Kreuz der Galaxien aus 297 Millionen Lichtjahre zurückgelegt. Dorgon ist 187 Millionen und Shagor, die Heimat von Gal’Arn, sogar über 500 Millionen Lichtjahre entfernt.«

»Mitten im Niemandsland also«, stellte ich fest, mit leichtem Schmunzeln, da der Haluter durchweg terranische Bezeichnungen verwendet hatte. Ja, diese Terraner färbten ganz schön ab.

Tolot hob die Handlungsarme. »DORGON wollte wohl weit genug von MODROR entfernt sein Domizil aufschlagen.«

»Und doch wurde es wohl bereits gefunden …« Ich erhob mich, um Aufbruchstimmung zu verbreiten. »Selbst wenn wir davon ausgehen müssen, dass der Krieg bereits Manjardon erreicht hat, sollten wir nicht zu viel Aufsehen erregen.« Meine ausladende Geste verdeutlichte den Umfang der Anlage. »NESJOR ist so groß wie ein Mond! Wenn also etwas auffällig ist, dann ja wohl diese Station. Allein den Rückfall nach einem Hyperraum-Flug kann man über Tausende von Lichtjahren anmessen.«

Osiris, der bisher schweigend zugehört hatte, fühlte sich völlig zurecht angesprochen. »Du hast recht. Wir sollten mit der HOR-ATEP in die Galaxie fliegen und die Nesjor-Station hier in sicherer Entfernung stationiert lassen.«

Ich nickte. »Genau das schwebt mir vor. Außerdem sollte uns die Tarnung der HOR-ATEP von Nutzen sein. Damit reduziert sich allerdings der Personenkreis, der mitkommen kann …«

Die anwesenden Alysker winkten nach einem auffordernden Blick meinerseits ab.

»Wir haben immer noch nicht alles unter Kontrolle, wie du weißt«, machte sich Nora zu ihrem Sprachrohr.

Oh, und wie ich das wusste. Während des monatelangen Fluges hatte es einige sehr unangenehme Zwischenfälle gegeben. Ein Alysker lag seit einem Zusammenprall mit einem urplötzlich durchdrehenden Reparatur-Roboter immer noch stationär in der Bordklinik. Auch der ewig zeternde Jaques de Funés hatte bei der neugierigen Inspektion einer Kontaktleiste einen elektrischen Schlag bekommen und die Hand gut eine Woche lang in Verbänden tragen müssen – sehr zum Leidwesen für alle anderen, die die Flüche des terranischen Geschäftsmannes nicht mehr hören konnten.

»Gut, dann wäre das also geklärt«, stellte ich fest, mit leisem Bedauern, dass Nora nicht mitreisen wollte.

Ich rief mich zur Vernunft, bevor es der Extrasinn tun konnte, und blickte zu Alaska Saedelaere. »Alaska, bitte bleibe du auch hier und behalte unsere Gäste unter Kontrolle.«

Der Terraner schüttelte den Kopf. »Ich bin genauso gespannt auf die Geheimnisse dieser Galaxie wie du und Tolotos. Außerdem weißt du um meine analytischen Fähigkeiten.«

»Und genau die sollten dir sagen, dass Tolotos mit seinem Planhirn dich in dieser Hinsicht mehr als nur ersetzen kann«, beendete ich die aufkeimende Diskussion und legte dem Terraner beide Hände auf die Schultern. Ich ignorierte das irritierende Gefühl, als Kummerogs Haut unter meinen Fingern weg glitt. »Ich brauche hier jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Denise Joorn hat sich bisher nicht gerade durch Weitsicht profiliert, und zu Jaques oder Leo brauche ich nichts zu sagen. Außerdem bist du der Einzige, dem Roggle zu vertrauen scheint. Bei dem solltest du aufpassen. Hast du bemerkt, wie Gle auf die Gefangennahme von Rodrom reagiert hat?«

Alaska entzog sich meinen Händen und verließ kommentarlos den Raum. Ich seufzte ergeben. Selbst nach all der gemeinsam verbrachten Zeit war er jemand, den ich nicht so recht fassen konnte. Die Jahrhunderte hinter der Maske und seine Jahrzehnte währenden, einsamen Reisen machten ihn nicht gerade zu jemandem, mit dem man starke Gefühle teilen konnte. Doch ich hatte vollstes Vertrauen, dass er meine Argumente nachvollziehen konnte und einsehen würde, dass es momentan keine andere Möglichkeit gab.

Ich wandte mich an Osiris und Icho Tolot. Haluter hatten zwar eine im Vergleich zu Humanoiden sehr sparsame Mimik, aber dennoch konnte ich sehen, dass Alaskas Abgang auch den alten Freund nicht emotionslos gelassen hatte.

Im Gegensatz dazu war in Osiris’ Gesicht nur Unverständnis zu lesen. »Nachdem ihr eure Kompetenzen so einwandfrei geklärt habt«, bemerkte er zynisch, »können wir ja jetzt aufbrechen.«

Ich nickte. »Je eher wir DORGON finden, umso besser.«

*

Vor dem Abflug suchte ich Denise Joorn auf, um sie über unsere weiteren Pläne zu informieren. Die junge Archäologin zeigte sich wenig begeistert, auf der NESJOR zurückbleiben zu müssen, doch sie wagte nicht, gegen meine Autorität aufzubegehren.

Als wesentlich schwieriger erwies sich Jaques de Funés.

»Seit Monaten vegetiere ich schon in dieser Raumstation dahin«, protestierte er lautstark. »Nur Stahl, Stahl und nochmals Stahl! Wenn es wenigstens eine Parklandschaft wie auf terranischen Schiffen geben würde – aber nein, nur kalte Wände, die allenfalls einen Nesjor in Orgasmusnähe bringen können!«

Anklagend wies er auf die Wände seiner Kabine. Mit Akribie hatte der Handelsvertreter in den letzten Monaten versucht, es sich so wohnlich wie irgend möglich zu machen. Mit leichtem Schmunzeln musterte ich die Bilder, die er an die Wand geklebt hatte. Als Geschäftsmann schien er ja erfolgreich zu sein, aber als Maler fehlte ihm jegliches Talent.

Funés hatte wohl mein Lächeln bemerkt und öffnete den Mund zu einer weiteren Schimpftirade, als Leopold hereingestürmt kam.

»Macht der Glatzkopf wieder Ärger?«, plapperte der Avoide los.

Die Gesichtsfarbe des Terraners wechselte in Sekundenbruchteilen zu knallrot. Er hatte wohl vergessen, was er gerade sagen wollte, denn er ließ den Mund einfach offen stehen. Kein sehr eleganter Anblick.

Ich kämpfte meinen Unmut über diese Kindereien nieder und wandte mich an den Somer. »Ich habe gerade Jaques de Funés informiert, dass lediglich Icho Tolot, Osiris und ich nach Manjardon einfliegen werden. Die gesamte Station ist einfach zu auffällig und in der HOR-ATEP ist nicht genug Platz für alle.«

Dies gefiel den Somer ebenfalls nicht. »Was, kein Landurlaub?«

»Verstehst du jetzt, warum ich mich aufrege?«, ereiferte sich Funés. »Erst Monate in dieser Metallwüste und dann nicht einmal die Aussicht, Frischluft genießen zu dürfen!«

»Nein, das ist wirklich nicht richtig«, gab Leopold ihm recht. Ein seltenes Einvernehmen zwischen den beiden Streithähnen.

Plötzlich kam mir der rettende Gedanke. Verschwörerisch schloss ich die Tür. »Der wahre Grund ist: Ich brauche euch hier. Wir können uns immer noch nicht über Roggles Loyalität sicher sein. Ich brauche zwei Geheimagenten, die ihn ein wenig im Auge behalten.«

Sofort wuchs Jaques de Funés um ein paar Zentimeter, und auch Leopolds Brustfedern stellten sich vor Stolz auf. Offensichtlich hatte ich genau ins Schwarze getroffen.

»Ich danke euch. Wir sehen uns dann in ein paar Wochen«, verabschiedete ich mich und hatte es danach sehr eilig, die Kabine zu verlassen, bevor die beiden wieder mit einem Streit anfangen konnten. Sicher wollte jeder der Chef-Agent sein und den anderen durch die Gegend kommandieren oder so etwas.

Die beiden waren wirklich die größte Herausforderung, die diese Expedition an uns stellen konnte. Ich grinste bei diesen Gedanken. Eigentlich war es ja doch schön, dass man bei allem Leid und Elend überhaupt noch Zeit für solche Kleinigkeiten hatte.

Denise Joorn

Mit gemischten Gefühlen beobachtete Denise, wie die HOR-ATEP durch den Schmiegeschirm den Hangar verließ und gleich darauf von der Dunkelheit des Alls verschluckt wurde. Das war es nun also, drei Monate Flug für nichts!

Unzufrieden kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Jedem anderen hätte sie ihre Meinung gesagt. Aber Atlan? Einem Unsterblichen? Einer Legende? Einer Person, die das alte Ägypten leibhaftig erlebt hatte? Sicherlich war er charmant und einer, den sich eine Frau als Liebhaber wünschen würde. Aber es war für sie als »kleines Licht« völlig unvorstellbar, an eine Beziehung mit einem Zellaktivatorträger überhaupt zu denken.

Apropos Zellaktivatorträger. Denise wandte sich um. Am anderen Ende des Hangars stand Alaska Saedelaere. Ohne einen Blick in ihre Richtung zu werfen, verließ er den Hangar. Sie bemerkte, dass er die Schultern eingezogen und den Kopf gesenkt hatte, als würde er sich schämen.

Denise schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. Wenn Atlan schon mit einem langjährigen Gefährten so umging, durfte sie sich nicht beschweren.

Vielleicht konnte sie ihn ja etwas aufmuntern? Allerdings wusste sie gar nicht, was er eigentlich gern hatte … Da waren sie seit Monaten zusammen unterwegs und hatten seit ihrem ersten Treffen auf SOLARIS STATION nicht mehr als ein paar Sätze miteinander gewechselt. Alaska als Unsterblicher hatte vielleicht nicht das gigantische Alter Atlans von über zehntausend Jahren, doch dürfte er wohl auch einiges in seinem Leben gesehen haben.

Wenn sie es recht betrachtete, war ihr ihr damaliges Verhalten sogar etwas peinlich. Der Unsterbliche war nach einem ersten Blick auf ihren wohlgestalteten und durchtrainierten Körper rot angelaufen und hatte sich danach äußerst schüchtern benommen, was sie dazu verleitet hatte, ihn immer wieder damit aufzuziehen.

Alaska war darauf reingefallen und in einige sehr unangenehme Situationen geraten, was Denise innerlich Befriedigung verschafft hatte. Für sie war sein Verhalten Beweis gewesen, dass die Unsterblichen trotz ihrer Lebensjahre auch nur normale Menschen waren.

Doch dann war der Flug durchs Sternenportal, der sie eigentlich nach Cartwheel hätte bringen sollen, gründlich schief gegangen. Statt in der Insel waren sie in einem grünen Universum gestrandet. Sie hatten entdeckt, dass es sich um eine Parallelwelt handelte, in der die Erde Insektoidia genannt wurde und von Insekten beherrscht wurde.

Alaska Saedelaere hatte sich völlig souverän verhalten und dem Somer Ler Ok Poldm, von allen nur Leopold gerufen, dem Geschäftsmann Jaques de Funés und natürlich ihr selbst mehrfach das Leben gerettet. Das hatte ihm wieder Respekt verschafft, sodass Denise ihrerseits nun wie ein ertapptes Mädchen Abstand gehalten hatte. Es war einfach anmaßend, einen Unsterblichen wie einen gewöhnlichen Kerl um den Finger wickeln zu wollen. Was nun?

Denise suchte ihre Kabine auf, um entsprechende Recherchen mit ihrem Syntron durchzuführen. Neben einigen Artefakten, von denen sie sich niemals trennen würde, hatte sie stets umfangreiche Geschichtswerke für spontane Nachforschungen dabei, denn man konnte als Archäologin nie wissen, ob man nicht irgendwas davon mal brauchen würde.

Da sie Zeit hatte, bemühte sie nicht die Suche, sondern arbeitete sich in klassischer Manier durch die elektronischen Bücher. Sie rief den Buchstaben S im Index auf. Kurz zitterten ihre Hände, als ihr Blick auf den Namen Seth fiel. Auch wenn sie in den letzten Monaten praktisch täglich mit Osiris zu tun gehabt hatte, fiel es ihr immer noch schwer zu begreifen, dass die altägyptischen Götter tatsächlich gelebt und sich auf der Erde sowie dem abgelegenen Wüstenplaneten Seshur verborgen gehalten hatten. Seth war der Ehemann von Nephtys gewesen, und Nephtys wurde von Denise … getötet!

Von blankem Entdeckungswahn getrieben war sie in das Grab der Nephtys auf Seshur geeilt und hatte gemeinsam mit Johannes van Kehm den Sarkophag geöffnet, der sich als Konservierungsbehältnis für die vermeintliche Göttin entpuppt hatte. Das hatte die Schlafende das Leben gekostet.

Aber Seth war nicht in der Position, ihr deshalb Vorwürfe zu machen. Die wichtigen Kemeten, so nannte sich das Volk, dem Nephtys, Osiris und die anderen entstammten, trugen – wie die bedeutenden Terraner – Zellaktivatoren. Seth war der Zellaktivator abhandengekommen, und so hatte er sich kurzerhand bei seiner Frau bedient. Er hatte Nephtys den Zellaktivator abgenommen und sie anschließend in dieses Grabmal in Hibernation gelegt, um den zweiundsechzig Stunden nach dem Verlust des Lebensspenders eintretenden Zerfall ihres Körpers zu verhindern.

Vor ihrem Einschlafen hatte er ihr noch versprochen, mit einem neuen Zellaktivator zurückzukehren. Dann war über sechstausend Jahre lang nichts geschehen. Und so war es schließlich Denise gewesen, die den Staseschlaf unterbrochen und den rapiden Zerfall von Nephtys Körper eingeleitet hatte. Nie würde sie den Moment vergessen, als Nephtys in ihren Armen zu Staub zerfallen war.

Sie schüttelte die schrecklichen Erinnerungen ab. Es galt, sehr viel aktuellere Probleme zu lösen!

Denise lächelte, als sie tatsächlich den Namen Saedelaere in der Liste fand, und öffnete den Artikel. Sofort machte sich Enttäuschung breit, als sich der Text als ausgesprochen kurz erwies. Demnach war Alaska im Jahr 3400 nach alter Zeitrechnung genau um Mitternacht zwischen dem 2. und 3. Dezember auf die Welt gekommen. Sein Vater war Agent der Solaren Abwehr gewesen. Das Leben mit Frau und Kind hatte lediglich seine Tarnexistenz dargestellt.

Was für eine idyllische Kindheit!, ging es Denise durch den Kopf.

Alaskas Leben hatte sich nach dem Transmitterunfall im Jahre 3428 völlig verändert. Von den Technikern, die in der Gegenstation arbeiteten, in der Alaska nicht in Nullzeit, sondern erst nach Stunden aufgetaucht war, hatte niemand den Raum mit klarem Verstand verlassen. Der Anblick des wild in allen Farben leuchtenden Gewebeklumpens, den Saedelaere plötzlich in seinem Gesicht trug, hatte ihren Verstand für immer zerstört. Da jeder Blick in Alaskas Gesicht unmöglich geworden war, hatte er sich schließlich in sein Schicksal gefügt und fortan eine primitive Plastikmaske getragen. Mehr und mehr hatte er sich von seinen Mitmenschen distanziert.

Damals war er jünger als ich jetzt!, stellte Denise entsetzt fest und betrachtete sich unwillkürlich im Spiegel. Mit dem Finger fuhr sie den Konturen ihres Gesichts nach. Wenn es bei mir jetzt vorbei wäre? Kein Gesicht mehr zu haben … einen Anblick zu bieten, der andere wahnsinnig macht …

Die junge Frau schauderte. Die restlichen Dinge kannte sie noch grob aus dem Schulunterricht. Ribald Corello, die Cappins, der Schwarm, die Sache mit dem Anzug der Vernichtung, den Zeitbrunnen, der entvölkerten Erde und schließlich nach langen Jahrhunderten im Jahre 426 NGZ die Befreiung von dem Fragment während des Sturzes der BASIS in den Frostrubin – alles Dinge, die jedes Kind in der Schule lernte und die ihr Alaska auch auf SOLARIS STATION bereits erzählt hatte. Nein, das hier brachte sie auf keinen Fall weiter.

Missmutig löschte sie das Holo und starrte mit gerunzelter Stirn die Wand an. Ihr Blick fiel dabei auf einige Bilder und Artefakte, mit denen sie die Monotonie der Kabine zu übertünchen versuchte. Von ihrem Aufenthalt auf Insektoidia hatte sie einige faszinierende Stücke mitgenommen.

Was hatte eigentlich Alaska für Sammlerstücke? In so einem langen Leben musste doch so einiges zusammengekommen sein.

Ihr wurde bewusst, dass sie noch nie in seiner Kabine gewesen war. Selbst Atlan hatte sie mal zu einer Tasse Tee eingeladen. Doch durch ihre Fehler im Umgang mit Alaska verunsichert, hatte sie immer eine Distanz zu dem Unsterblichen gehalten. Selbst mit Osiris konnte sie einige anregende Gespräche über die kemetische Kultur führen. Aber Alaska?

Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Sicherlich hielt sich der Zellaktivatorträger gerade in der Zentrale auf. Es wäre doch gelacht, wenn sie nicht ungesehen in seine Kabine gelangen würde. Sicherlich war das nicht in Ordnung, aber wenn sie sich immer an die Höflichkeit gehalten hätte, wäre sie nie so eine erfolgreiche Archäologin geworden. Manchmal war etwas Frechheit einfach notwendig!

Im Korridor traf sie auf Jaques de Funés und Leopold, die um eine Ecke des Korridors lugten. Gespielt naiv stellte sie sich dazu. Die beiden, die sonst nichts Besseres zu tun hatten, als sich mit aller Hingabe zu streiten, beobachteten Roggle, der sich in seinem merkwürdig staksenden Gang durch diesen Korridor entfernte. Sie waren so ausgiebig damit beschäftigt, dass sie Denises Anwesenheit gar nicht bemerkten.

Kopfschüttelnd setzte sie ihren Weg fort. War denn die ganze Welt nur von Irren bevölkert?

Schließlich erreichte sie Saedelaeres Kabine. Nach einem letzten Rundblick tastete sie kurz entschlossen nach dem Türöffner. Sollte Alaska wider Erwarten doch zu Hause sein, würde ihr schon irgendeine Ausrede einfallen.

Sie hatte Glück. Seine Kabine war leer. Sie brauchte einen Moment, um sich der Tatsache bewusst zu werden, dass die Kabine tatsächlich leer war. Völlig leer! Nun, ein Bett befand sich darin – nun, es lag eine bessere Matratze auf dem Boden, wie sie selbst auch eine als provisorisches Bett verwendete. Dann noch ein Stuhl und ein leerer Tisch. Sonst gar nichts. Kein Gemälde an der Wand, keine persönlichen Gegenstände, lediglich einige ordentlich auf dem Bett zusammengefaltete Kleidungsstücke konnte sie erkennen.

Völlig verdattert schloss sie die Tür wieder. Diese Aufgabe schien schwieriger zu werden als erwartet. Konnte jemand, der offensichtlich den Anblick einer Frau zu schätzen wusste, so steril leben?

Gut, dann musste sie die Sache halt anders angehen. Die Zentrale aufzusuchen war sinnlos. Dort konnte sie mit ihm nicht reden. Außerdem sahen es die Alysker überhaupt nicht gern, wenn sie sich dort aufhielt. Denise vermutete, dass die Angehörigen dieses unsterblichen Volkes sie mit ihren »erst« zweistelligen Lebensjahren grundsätzlich nicht für voll nahmen.

Folglich suchte sie den Ort auf, den jedes lebende Wesen an Bord der NESJOR mehrmals am Tag besuchte: die Kantine. Mit einem kurzen Rundblick stellte sie fest, dass zwar einige hundert Alysker anwesend waren, aber kein Alaska Saedelaere. Sie zog sich am Automaten einen Tee und ein leichtes Mittagessen und suchte sich einen freien Tisch. Es wurde bald Mittag, und da würde es sicherlich nicht leerer werden.

In der Tat füllte sich die Kantine zusehends, und Denise setzte alle Hebel in Bewegung, um einen Platz neben sich freizuhalten. Zu ihrer Zufriedenheit gab es schließlich keine unbesetzten Tische mehr, und ihre Intuition sagte ihr, dass Alaska wohl eher neben einer bekannten Terranerin statt unbekannten Alyskern Platz nehmen würde.

Schließlich tauchte der Unsterbliche auf. Denise freute sich wie ein kleines Kind, als er auf ihren Tisch zu hielt.

Was mache ich hier eigentlich?, schoss es ihr durch den Kopf. Diese monatelange Isolation steigt mir wohl langsam zu Kopf, dass ich an solchem Blödsinn Spaß habe.

Alaska nickte ihr kurz zu und setzte sich dann auf den freien Stuhl. Er begann, schweigend zu essen. Auf seinem Tablett befanden sich eine Suppe und etwas Salat. Ein wahrhaft asketisches Essen.

Schließlich gab sich Denise einen Ruck. »Ich wäre auch viel lieber an Bord der HOR-ATEP gegangen.«

Alaska stockte kurz im Kauen und aß dann weiter, als wäre nichts geschehen. Nicht einmal einen Blick gönnte er ihr. Sie brachte sich etwas in Position – und Alaska rückte von ihr ab. Auweia!

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, wagte sie einen neuen Anlauf. »Die Station ist zwar groß, aber eingezwängt zwischen Metall, Technik und Alyskern fühlt man sich einfach nicht wohl. Wie schön wäre es, mal wieder Waldboden unter den Füßen zu spüren … oder einen Strand …«

»Das ist es nicht«, antwortete der Unsterbliche schließlich doch. »Du warst nicht dabei, als Atlan mich in der Zentrale abserviert hat …«

Denise schwieg betreten. Also war doch etwas im Busch!

Nachdem sie nichts sagte, sprach Alaska weiter. »Es stört mich nicht, an Bord dieser Station zu sein. Ich habe viele, viele Jahre an Bord von Raumschiffen oder Raumstationen verbracht. Oftmals völlig allein und ohne zu wissen, ob ich die Erde oder auch nur einen anderen Menschen wiedersehen werde. Ich habe sogar die Erde einmal völlig entvölkert vorgefunden. Nachdem ich … ausgesondert wurde, oder vielmehr mich selbst ausgesondert hatte …«

In einer unbewussten Geste griff er sich ans Kinn, als wolle er den Sitz von etwas kontrollieren, das schon seit Jahrhunderten nicht mehr dort hing. »Ich fand ein neues Ziel, ein kosmisches Ziel. Ich habe den Anzug der Vernichtung getragen. Ist dir bewusst, was das bedeutet?«

Eindringlich sah er sie an. Sie glaubte, in seinen Augen eine tiefe Traurigkeit zu erkennen, die etwas in ihrer Seele berührte. Wortlos schüttelte sie den Kopf.

»Objektiv betrachtet schien es nur ein Stück Stoff mit Technik zu sein, und doch wohnte ihm eine so große Macht inne, dass ich jedes Mal innerlich erschauderte, wenn ich ihn tragen musste. Er war eine Waffe! Eine gefährliche Waffe! In den falschen Händen …«

Alaska brach mitten im Satz ab und schwieg. Schließlich begann er wieder, seine Suppe zu löffeln.

»Aber er wurde offensichtlich vom Richtigen getragen«, sagte Denise aufmunternd.

»Hah!« Saedelaere legte den Löffel ab. »Der Richtige! Als Perry Rhodan mir den Zellaktivator angeboten hat, habe ich zunächst abgelehnt. Kannst du dir das vorstellen? Wie viele Leute sind während der Jagd nach den Lebensspendern ermordet worden oder haben selbst getötet, um das ewige Leben zu bekommen? Und ich wollte es nicht haben! Weil ich mich nicht für den Richtigen gehalten habe! War die Wahl richtig? Ich weiß es nicht.

Ich war damals – vom Fragment vielleicht mal abgesehen – genauso ein normaler Mensch wie du. Was machte mich besser als die anderen? Warum musste man dieses grausame Leben mit der Maske verlängern? Nein, du täuschst dich. Ich bin auf keinen Fall der Richtige gewesen.

Was meinst du, wie froh ich damals war, den Anzug der Vernichtung wieder an den Mächtigen Ganerc zurückgeben zu können? Er hat ihn dann vernichtet. Das war das einzig Sinnvolle. Nur den Zellaktivator …« Er strich über sein Schlüsselbein, unter dem der Lebensspender implantiert war. »… den kann ich nicht mehr abgeben, andernfalls wäre ich in zweiundsechzig Stunden tot. Tot wie alle Menschen, die mal meine Freunde und Familie waren. Vielleicht wäre es nicht das Schlechteste. Trotzdem hänge ich an meinem Leben. Das ist die Wahrheit!«

Alaska Saedelaere erhob sich und brachte ohne ein weiteres Wort sein Tablett mit dem halb verzehrten Essen weg. Danach verließ er die Kantine.

Denise biss sich auf die Unterlippe. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Sie flüchtete auf schnellstem Wege in ihre Kabine und warf sich aufs Bett.

Dort konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Leopold

Ler Ok Poldm drückte sich weiter hinter die Ecke. Er registrierte, wie es Jaques de Funés ihm gleich tat. Missmutig blickte er zu dem Geschäftsmann hinüber.

Ihm war bewusst, dass er bisher in seinem Leben rein gar nichts erreicht hatte. Während sein Halbbruder Sruel Allok Mok mit dem Spitznamen »Sam« eine große Karriere als Diplomat gemacht und in höchste Ränge aufgestiegen war, hatte er sich selbst als Tellerwäscher und Falschspieler herumgetrieben. Ja, er wusste, dass er ein Taugenichts war – umso mehr verletzte ihn, dass dieser selbstherrliche Terraner ihn ständig darauf hinwies.

Und als wenn das seine einzigen Probleme gewesen wären! Schon im jugendlichen Alter hatte der Somer bemerkt, dass er anders war als seine Artgenossen. Während seine Freunde immer mehr Spaß daran fanden, Somerinnen nachzustellen und diese zu sich einzuladen, hatte er nie herausfinden können, was sie an ihnen interessierte. Da sich aber auch beim Anblick männlicher Somer nichts getan hatte, erwies sich auch seine zwischenzeitlich aufgekommene Befürchtung, homosexuell zu sein, als falsch. Nein, die Wahrheit war viel schlimmer!

Bei einem Besuch in einer größeren Stadt hatte er sie gesehen. Er konnte sich bis heute nicht vorstellen, jemals ein schöneres Wesen erblickt zu haben. Er versank völlig im Anblick ihrer Augen, deren geschlitzte Pupillen ihn mit ihrer Exotik gefangen nahmen. Sanft verliefen ihre Schuppen am Hals entlang – nicht so nervige Federn wie bei ihm. Dann der Mund, eine große Ansammlung von Muskeln voller Sinnlichkeit – nicht so ein starrer und empfindungsloser Schnabel, wie er ihn im Gesicht tragen musste. Gebannt hatte er die Pterus angestarrt, bis sie ihm schließlich eine Ohrfeige gegeben hatte.

Als wäre das die Initialzündung gewesen, war das Universum plötzlich voller Wunder: Echsenhafte Pterus, Ophaler mit ihren herrlichen Püscheln und geschmeidigen Tentakeln, Menschen mit ihren bunten Haupthaaren und den vorzüglichen Brüsten. Ab jetzt fand er eine Frau schöner als die andere – nur nicht bei seinem eigenen Volk, den Somern. Ein Psychologe brachte schließlich die schreckliche Wahrheit ans Licht: Ler Ok Poldm war exosexuell!

Er war durch diese Erkenntnis so schockiert gewesen, dass er die Therapie abgebrochen und sich dem Alkohol hingegeben hatte. Niemandem hatte er von seiner perversen sexuellen Neigung, auf Außerirdische zu stehen, erzählt. Schließlich, nach monatelangem Martyrium, hatte er sich seinen Neigungen gestellt und sich bei Bekannten und Familie geoutet – und war auf völliges Unverständnis gestoßen. Irgendwann war er dann von Zuhause ausgerissen und hatte versucht, sich allein durchzuschlagen – ohne Erfolg.

Als er in seinen Lebenserinnerungen an diesem Punkt angelangt war, seufzte Leo ausgiebig und legte seinen gesamten Weltschmerz hinein.

»Wenn du weiter so einen Lärm machst, weiß Roggle sofort, was wir hier treiben!«, zischte ihm de Funés zu. »Wenn du nicht selbst ein Vogel wärst, würde ich sagen, du hast einen!«

»Ach, hör doch auf, du Glatze«, fauchte Leopold zurück. »Nur weil ich bei Terranerinnen mehr Erfolg habe als du, musst du mich nicht ständig blöd anmachen.«

»Das ist ja wohl …« Dem Terraner fehlten sichtlich die Worte.

Beide verstummten, als Roggle seine Kabine verließ. Sofort duckte sich Leo weiter in seine Ecke. Hoffentlich hatte sie der Vorjul nicht bemerkt. Nach einer kurzen Wartezeit wagte er es schließlich, vorsichtig seine Schnabelspitze wieder um die Ecke zu bugsieren.

Tatsächlich, sie hatten Glück! Das Wesen mit den beiden Köpfen schlurfte langsam von ihrem Beobachtungsstand weg und kehrte ihnen den Rücken zu.

Ler Ok Poldm glaubte plötzlich, den Duft eines herrlichen Parfüms wahrzunehmen, wie es terranische Frauen verwendeten. Er schloss für einen Moment die Augen, um sich dieser Vision hinzugeben. In seiner Fantasie spürte er, wie seine Hände über den Körper einer Menschenfrau glitten, wie er ihren Busen bearbeitete und ihr einen Kuss gab. Ach, wäre sein Schnabel doch nur fähig, Küsse zu geben!

Doch halt! Am Ende bekam er etwas nicht mit! So schnell, wie der Duft gekommen war, war er auch schon wieder aus seinen Gedanken verschwunden.

Roggle schickte sich an, um eine Ecke des Korridors zu verschwinden. Sofort huschte Leo ihm hinterher – und prallte prompt mit Jaques zusammen.

»Pass doch auf!«, herrschte er den Geschäftsmann an.

»Pass du doch auf!«, giftete dieser zurück. »Wenn du nicht in der Lage bist, Atlans Auftrag entsprechend auszuführen, dann überlass das den Leuten, die für so etwas geeigneter sind.«

»Würde ich ja gern«, gab der Somer zurück, was ihm einen fassungslosen Blick des Terraners einbrachte, »aber leider sind momentan keine vorhanden.«

Patsch! Das hatte gesessen. Missmutig rieb sich Leopold die Stirn, auf der der Hieb von Jaques gelandet war. Während er sich noch dem Schmerz hingab, war der Handelsvertreter bereits weitergeeilt.

Nein, so nicht!, dachte Leo. Ich mag zwar ein Feigling sein, aber besser als der bin ich immer noch!

Sofort rannte er hinterher und sah gerade noch, wie Roggle in einem Antigravlift verschwand.

»Was liegt in dieser Richtung?«, fragte er de Funés.

»Woher soll ich das wissen?«, stellte der patzig eine Gegenfrage. »Natürlich kenne ich hier jeden Korridor. Diese Raumstation hat ja nur ein paar Millionen Kubikkilometer Rauminhalt. So ein verblödetes Federvieh …«

Endlich die Gelegenheit zur Revanche!, freute sich Leo und wollte ihm ebenfalls eine Ohrfeige verpassen, doch erwies sich seine filigrane Somerhand als nicht geschaffen für solche rabiaten Angriffe. Schmerzhaft verzog er das Gesicht und steckte die malträtierten Finger zwischen seine Beine.

»Geschieht dir recht«, kommentierte sein Gegenüber die Aktion. »Nun weißt du endlich, dass du zu nichts zu gebrauchen bist. Nicht einmal eine simple Ohrfeige bekommt dieser Taugenichts hin!«

Sprachs und verschwand im Lift. Leise fluchend tat Ler Ok Poldm es ihm gleich.

*

Einige Stunden später hatten sie den Vorjul in eine große Halle verfolgt, die offensichtlich ein Warenlager beherbergte. Gerätschaften aller Art stapelten sich bis in ungeahnte Höhen. Die beiden erblickten von einfachen Handwerkzeugen bis zu Aggregaten von der Größe eines Einfamilienhauses so ziemlich alles, was man sich vorstellen konnte. Inmitten dieser geballten Technikmassen wirkte der ohnehin mit knapp über einem Meter nicht gerade große Roggle wie ein Parasit in einem Wohnraum.

Jaques de Funés schüttelte den Kopf. »Dieses Lager ist der reinste Albtraum. Wie soll man denn da die gewünschten Waren schnell finden? Bis ich hier das herausgeholt habe, was der Kunde haben will, ist er längst zur Konkurrenz verschwunden.«

»Hier gibt es aber keine Konkurrenz«, stellte Leopold klar. »Ich glaube auch nicht, dass sich die Nesjorianer am Kapitalismus orientiert haben.«

»Ui«, machte de Funés. »Er wirft mit Fachwörtern um sich. Weißt du überhaupt, was Marktwirtschaft bedeutet?«

Der Somer nickte. »Ja. Marktwirtschaft ist, wenn nicht die Springer den ganzen Handel übernehmen dürfen.«

Der Terraner bemühte sich, ein Lachen zu unterdrücken. »Gut gekontert! Unser Vögelchen scheint sich in der Milchstraße auszukennen.«

»Allerdings. Ich habe viele galaktische Zeitschriften abonniert.«

Jaques zog eine Augenbraue empor. »Ach, das geht? Wusste ich gar nicht. Die liefern aber vermutlich nur elektronisch nach Siom Som, oder? Welche denn?«

Leopold begann stolz aufzuzählen: »Playboy, Schlüsselloch, Playkonide, Jülziisch hautnah, Sexy Ara …«

Die Gesichtshaut des Terraners begann, dunkelrot anzulaufen. Leopold mochte diese Farbwechsel bei Terranern, allerdings nur bei weiblichen. Der Geschäftsmann begann, wie ein Fisch auf dem Trockenen den Mund auf und zu schnappen zu lassen. Schließlich gab er auf, nach einer Antwort zu suchen, und beschränkte sich darauf, einfach nur den Kopf zu schütteln.

Roggle schien derweil gefunden zu haben, was er suchte. Ler Ok Poldm riss Jaques de Funés mit sich um die Ecke.

»Was hat er da gehabt?«, fragte der Somer, während sie in ein sicheres Versteck hasteten.

»Keine Ahnung«, musste der Franzose zugeben. »Lass uns abwarten, bis er vorbei kommt.«

Mit Spannung erwarteten sie den Vorjul. Aus Sorge, er könnte sie bemerken, wagten sie nur, flach zu atmen.

Schließlich war es soweit, Roggle humpelte an der Wartungsklappe vorbei, hinter der sie sich verborgen hatten. Beide drängelten sich gegenseitig weg, um durch den schmalen Spalt einen Blick in den Korridor erhaschen zu können.

Sekunden später war der Zweiköpfige wieder verschwunden.

»Eine Kiste«, stellte Leo fest. »Eine Kiste mit Schriftzeichen.«

»Mit Schriftzeichen, die wir nicht lesen können«, ergänzte Jaques. »Hast du sie dir wenigstens merken können?«

Der Somer nickte – und schüttelte den Kopf. »Naja, nicht so richtig.«

Jaques de Funés verdrehte die Augen. »Wofür habe ich dich eigentlich mitgenommen?«

Ach, jetzt wollte der Terraner plötzlich der Chef sein? Na, das konnte er sich aber abschminken!

»Erstens haben wir beide den Auftrag von Atlan bekommen«, stellte der Somer klar, »und zweitens hättest du dir ja wohl auch die Schrift merken können.«

»Das habe ich auch, Herr Poldm«, gab der Geschäftsmann zurück, zückte ein altmodisches Notizbuch und einen noch viel antikeren Stift und begann, die Linien nachzuzeichnen.

»Nein, das hier war eher eiförmig«, verbesserte Leo ihn. »Und da ein Strich mehr. Das Zeichen dort ist spiegelverkehrt.«

Widerspruchslos übernahm de Funés die Korrekturen und zeichnete weiter, stets von Leopold verbessert. Es dauerte eine geschlagene Viertelstunde, bis beide mit dem Endergebnis zufrieden waren.

Siedend heiß fiel Ler Ok Poldm ein, dass sie Roggle noch verfolgen mussten. Ein entsetzter Blick im Gesicht seines Gegenübers bewies ihm, dass ihm das auch gerade bewusst geworden sein musste.

In vollem Tempo rannten sie zum Lift zurück. Heute konnte es ihnen nicht schnell genug gehen, die zwei Kilometer Höhenunterschied zurückzulegen, die sie von der Ebene ihrer Kabinen trennten.

Als sie schließlich nach langen Minuten endlich in den ersehnten Korridor stürmen konnten, sahen sie gerade noch den Vorjul in seiner Kabine verschwinden.

»Verdammt!«, fluchte Jaques de Funés, hob jedoch anschließend triumphierend sein Notizbuch empor. »Aber wir haben ja noch das.«

Schnurstracks suchten die beiden die Zentrale auf. Kaum angekommen, wurden sie auch schon von der Ortungsoffizierin Nora in Empfang genommen.

»Was wollt ihr denn hier?«, fragte sie das ungleiche Pärchen mit Unbill in der Stimme.

Ler Ok Poldm fand, dass sie ausgesprochen attraktiv war, daher bemühte er sich um eine Antwort, mit der er ihr gleichzeitig schmeicheln konnte.

Jaques de Funés durchkreuzte seine Pläne mit der rüden Entgegnung: »Das geht dich gar nichts an! Wir brauchen nur ein Terminal für Nachforschungen.«

»Solche Nachforschungen wie beim letzten Mal, als du eine Konsole benutzt und einen Stromschlag bekommen hast?«, gab Nora lächelnd zurück.

Der Terraner begann wieder einmal, rot anzulaufen. Leopold fragte sich, ob Nora als Alyskerin auch dazu in der Lage wäre. Irgendwann würde er das sicherlich herausfinden, denn wer konnte sich einem charmanten Somer wie ihm entziehen?

Bevor der Geschäftsmann ausflippen konnte, pflückte er ihm das Notizbuch aus der Hand und hielt es Nora unter die Nase. »Wir sind auf diese Beschriftung gestoßen, schönste Nora. Es steht auf einer Kiste. Bevor wir jetzt diese Kiste öffnen und möglicherweise wieder ein Unglück heraufbeschwören, appellieren wir an deine Weisheit, uns bei der Entzifferung zu helfen.«

Nora blickte ihn völlig perplex an. Mist – das nächste Mal würde er das anders formulieren müssen. Vielleicht noch etwas mehr auf ihre schönsten Körperstellen eingehen? Ja, das könnte funktionieren.

»Ich … Wo steht denn diese Kiste?«

Jaques de Funés hatte sich inzwischen wieder beruhigt. »Ein paar Kilometer entfernt, aber sehr verdächtig inmitten eines Korridors. Wir sind auf einem Spaziergang darauf gestoßen. Sonst kann man in dieser Metallhölle ja auch nicht viel mehr machen.«

»Es würde viel zu lange dauern, dir das zu zeigen«, nahm Leo den Ball auf. »Wir wollen ja so eine wichtige und hübsche Person nicht allzu sehr von ihrer Arbeit abhalten. Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, wie wunderschön deine Ohren sind?«

Nora starrte ihn an, als wäre er MODROR persönlich. »Terminal D, direkt dort drüben!«, stieß sie hervor, drückte Jaques de Funés das Notizbuch in die Hand und wandte sich ohne ein weiteres Wort um, wobei ihre Haare wundervoll herumwirbelten. Geschmeidig eilte sie davon. Leopold hatte den Eindruck, einen Engel davonschweben zu sehen.

Erst ein energischer Stoß mit dem Ellenbogen holte den Somer in die Wirklichkeit zurück. Die beiden suchten das Terminal auf und legten die Notiz auf den Scanner.

Praktischerweise hatten die Alysker inzwischen die Terminals so modifiziert, dass sie sich mit dem Syntron in Interkosmo verständigen konnten. Der Terraner veranlasste eine Auswertung der Schriftzeichen.

Es dauerte nur eine Sekunde, bis die sanfte Stimme des Syntrons ihnen mitteilte, was sich in der Kiste befand: 100 Brotmesser, 150 Gabeln und 80 Löffel!

Atlan

Noch vor dem Erreichen der ersten Sonnensysteme ereilte uns eine positive Überraschung – Hyperfunkverkehr! Völlig unerwartet, von einem Orientierungsstopp zum anderen, war er plötzlich da. Genau wie man es bei einer Galaxie erwarten würde, brodelte es aus den Empfängern.

Ich tauschte verständnislose Blicke mit Osiris und Tolot.

»Offensichtlich eine Art Dämmfeld«, spekulierte der Kemete. »DORGON will wohl erreichen, dass die Galaxie für zufällige Besucher uninteressant erscheint. Schaut, auch die vermeintlichen Sternenkindergärten haben sich in alte Sternenhaufen verwandelt. Viel älter, als sie aufgrund der Entfernung sein dürften.«

Ich nickte. »Ein ausgeklügelter Plan. Aber auch sehr aufwendig, eine komplette Galaxie nach außen hin als was völlig anderes erscheinen zu lassen, als sie wirklich ist. Da war der Chronopuls-Wall der Cantaro um die Milchstraße sehr viel einfacher und effektiver, um Eindringlinge abzuhalten.«

Der Haluter lachte. »Eindringlinge wie uns. Und doch konnten wir ihn überwinden.«

Es dauerte einen Moment, bis das durch Icho Tolots Lärm ausgelöste Klingeln im Ohr abgeebbt war. Osiris und ich hatten die Gesichter verzogen, was den Haluter zu einem peinlichen Schweigen veranlasste.

»Nun denn«, beendete ich schließlich die Stille. »Schauen wir mal, auf welcher Welt hier am meisten los ist.«

*

Am erfolgversprechendsten schien uns ein System namens Brocsan zu sein, das von einem gigantischen Planeten dominiert wurde. Der Gasriese hatte die vierfache Größe des solaren Jupiters und besaß nicht weniger als elf Monde, von denen viele eine atembare Atmosphäre besaßen und bewohnt waren.

Wir staunten nicht schlecht, was die Weiten des Alls auch für Unsterbliche wie uns noch immer an Wundern zu bieten hatten, denn die Monde umkreisten keinesfalls frei ihren Mutterplaneten, sondern waren in ein gigantisches Gerüst eingebettet, in dessen transparenten Röhren Kapseln wie bei einer Rohrpost verschossen wurden. Am Rand dieses Gebildes gab es regelrechte Parkplätze für Raumschiffe und an Knotenpunkten ganze Bahnhöfe dieser skurrilen Rohrbahn.

Osiris aktivierte den Funk. Inzwischen waren die Translatoren ausgiebig mit der hiesigen Verkehrssprache Intermanjar gefüttert worden, sodass es diesbezüglich keinerlei Probleme geben sollte.

»HOR-ATEP an Brocsan. Erbitten Landeerlaubnis!«

Ein Hologramm baute sich auf, dass ein hundeähnliches Wesen zeigte. Es handelte sich um einen Vertreter der Manjarden, des namensgebenden und dominierenden Volkes dieser Sterneninsel. Der Manjarde musterte uns, schien aber von unserem Aussehen nicht irritiert zu sein. Offensichtlich waren wir nicht die einzigen Humanoiden hier, oder fremde Völker waren in Brocsan ein üblicher Anblick.

»Herzlich Willkommen in Brocsan. Reist ihr gewerblich ein?«

Osiris suchte kurz den Blickkontakt mit mir. Er lächelte schelmisch.

»Nein«, wandte er sich wieder dem Holo zu. »Eigentlich sind wir Touristen.«

»In Ordnung. Landebucht AQX-423. Dort ist auch gleich die Kurtaxe zu entrichten. Über die Touristenpässe werdet ihr identifiziert und könnt die Rohrbahn kostenlos nutzen. Viel Vergnügen!«

Das Holo verschwand.

»Touristen?«, fragten Tolotos und ich wie aus einem Mund.

*

Der Einweiser hatte uns im wahrsten Sinne des Wortes in die richtige Landebucht gelotst. Direkt nach Betreten des Bahnhofs eröffnete sich uns ein Umfeld, wie ich es zur Genüge von unzähligen Welten kannte. Verqualmte Kaschemmen luden zum Verweilen an Orten jenseits der Realität ein, und dass die weiblichen Manjarden, die davor herumlungerten, einem eher horizontalen Gewerbe nachgingen, konnten Angehörige jeder Spezies problemlos erkennen.

Mir fiel auf, dass die Manjarden ein völlig anderes Schamgefühl als Menschen aufwiesen. Anscheinend galt es als obszön, einen Gegenstand oder andere Angehörige des eigenen Volkes mit bloßen Händen anzufassen, denn ich hatte bisher keinen der Hundeähnlichen ohne Handschuhe gesehen. Dagegen war es bei den männlichen Vertretern dieses Volkes üblich, genauestens zu präsentieren, was man zwischen den Beinen vorzuweisen hatte. Gern auch üppig und knallbunt ausgeschmückt. Die Frauen hingegen rasierten pikante Stellen. Andere Kleidungsstücke schienen unüblich zu sein, die Manjarden hatten sie aufgrund ihres anthrazitfarbenen Fells aber auch nicht nötig.

Kopfschüttelnd bahnte ich mir einen Weg zu einer der Rohrbahnen. Andere Galaxien, andere Sitten.

Die Kapseln kamen im Sekundentakt. Da wir uns ohnehin nicht auskannten, entschieden wir uns willkürlich für eine der Linien. Zumindest nahm ich an, dass die mit unterschiedlichen Farben markierten Kapseln in verschiedene Richtungen fuhren.

Es erwies sich als Vorteil, dass wir einen Haluter dabeihatten, denn seine Raumverdrängung war so groß, dass lediglich Osiris und ich uns so gerade noch zu ihm in die Kapsel quetschen konnten. Kaum hatten wir das geschafft, setzte sich die Rohrbahn auch schon mit atemberaubendem Tempo in Bewegung. Ich spürte weder die Beschleunigung, noch hatte ich eine Tür bemerkt. Respektvoll nickte ich. Offenbar war die Technik hier sehr fortschrittlich.

»Ein merkwürdiges Volk, diese Manjarden«, stellte Osiris fest. »Ich glaube nicht, dass ich mich mit ihrem Modegeschmack anfreunden könnte.«

Ich lachte. »Sei froh, dass wir keine Damen dabeihaben. Wobei, die manjardische Frauentracht könnte ich mir sehr gut auch bei Menschen vorstellen …«

Osiris stieß mit einem lauten Zischen die Luft aus, um seine Empörung zu zeigen, wurde aber vom dröhnenden Lachen des Haluters unterbrochen.

»Ihr Zweigeschlechtlichen seid so niedlich«, sagte er, als sich unsere Ohren wieder erholt hatten. »Ständig auf der Balz.«

Ich beschloss, die beiden einfach zu ignorieren. Dies wurde mir dadurch vereinfacht, dass wir in diesem Moment unser Ziel erreicht hatten.

Der neue Bahnhof sah genauso aus wie der, in dem wir die Kapsel betreten hatten. Kneipen, Huren, Stricher. Inzwischen zollte ich Osiris für seine gewagte Idee mit den Touristen Respekt, denn wer wusste schon, ob es hier überhaupt noch andere Gewerbe gab.

Durch ein breites Portal konnten wir die Oberfläche eines der Monde betreten und wurden mit strahlendem Sonnenschein begrüßt. Die Sonne von Brocsan war vom gleichen Spektraltyp wie Arkon und auch die Temperatur war für mich sehr angenehm. Flache Hütten duckten sich in die Landschaft und bildeten einen starken Kontrast zu den Stangen des gewaltigen Gitters, das dieses System durchzog.

Aus der Nähe konnten wir sehen, dass die Stangen eine Dicke von mehreren hundert Metern hatten. Es sah aus, als würde sich ein runder Wolkenkratzer bis in unsichtbare Höhen erstrecken. Dennoch konnte ich mir kaum vorstellen, dass diese Stangen allein in der Lage waren, so ein titanisches Gerüst stabil zu halten. Vermutlich waren sie sogar hohl oder mit den entsprechenden Aggregaten gefüllt, denn die Materialmenge für ein massives Gitter dieser Größe hätte alles Metall einiger Sonnensysteme verschlungen.

Der gewaltige Zentralplanet füllte ein gutes Drittel des Himmels aus. Langsam verschwand die Sonne hinter dem Horizont des Gasriesen. Es wurde übergangslos dunkel. Doch nur für einen kurzen Moment, denn überall am gigantischen Gitter flammten kleine Kunstsonnen auf, die weiterhin für wohltuende Wärme sorgten.

Osiris hatte sich inzwischen für eines der Gebäude entschieden und machte sich auf den Weg.

»Diese Bahnhofsspelunken sind wohl kaum das, was wir benötigen«, erörterte er seine Wahl. »Das dort vorn scheint mir ein Händler zu sein. Dort dürften wir schon eher was in Erfahrung bringen können.«

Ich nickte und auch Icho Tolot gab seine Zustimmung.

Der Kemete sollte recht behalten. Die Hütte war über und über mit Handelswaren vollgestopft, die aus allen Teilen Manjardons zu kommen schienen. Der Händler entpuppte sich als feister Manjarde, der um sein ansehnliches bestes Stück einen neongrünen Manschettenring trug. Ich bemühte mich, dieses Modeaccessoire zu ignorieren, was aber kläglich misslang.

»Guten Tag, wir sind auf der Suche nach DORGON«, kam Osiris direkt zur Sache. Er war noch nie jemand gewesen, der um den heißen Brei herumredete.

»Ja, ja, DORGON!« Der Händler verbeugte sich und verschwand im Nebenraum.

Osiris, Tolot und ich blickten uns verständnislos an. Da kam der Manjarde auch schon mit einigen Kisten wieder.

»Hier«, erklärte er selbstsicher. »Habe alles da. Bei Juha gibts nur die beste Ware. DORGON-Glückskekse, DORGON-Schellen, DORGON-Schmuckringe … Wenn ich mal Maß nehmen dürfte?«

Osiris sprang entsetzt einen Schritt zurück, als sich der Händler an der Hose des Kemeten zu schaffen machen wollte. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Wir sind nur auf der Suche nach Informationen«, stellte der Kemete klar.

»Ach so«, gab der Manjarde enttäuscht von sich. »Naja, besser als nichts.«

Auffordernd hielt er uns seine Hand hin. Zumindest in diesem Punkt glichen die Manjarden offenbar jedem galaktischen Händler aus der Milchstraße. Ich zog ein Howalgoniumplättchen aus der Tasche und legte es dem Händler in die Hand. Dessen Augen blitzten kurz auf und dann war der Hyperkristall auch schon in einem Beutel verschwunden.

»Ihr müsst ja von einer absolut abgelegenen Welt kommen, wenn ihr nicht Bescheid wisst. Oder gar von außerhalb Manjardons? Naja, da gibts ja gar nichts. Ich an eurer Stelle würde einfach mal jemanden im Tempel fragen. Wollt ihr wirklich nichts kaufen?«

Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Da MODROR sich in Barym als Gott verehren ließ, war es nur konsequent, dass DORGON dasselbe in seinem Machtzentrum tat.

Wir bedankten uns und ließen uns den Weg erklären. Einige Fahrten mit der Rohrbahn später erreichten wir den angewiesenen Ort.

Meine Überlegungen mit der Gottesverehrung musste ich allerdings relativieren. Der Tempel erinnerte mich eher an die Konfuzius-Tempel auf der Erde als wirklich an ein Gottes- und Bethaus. Innen trafen wir ein buntes Völkergemisch an. Die Manjarden bildeten zwar auch hier die Mehrheit, doch sah ich auch andere Wesen, die mich an die unterschiedlichsten Tierrassen erinnerten oder die völlig fremdartig waren.

Wir fragten uns zum Vorsteher durch und wurden schließlich an einen Angehörigen eines anorganischen Volkes verwiesen. Das Oberhaupt des DORGON-Tempels war ein großer Kristall, in dem bunte Einsprengsel eingeschlossen waren.

»Guten Tag«, sagte ich und betrachtete unsicher sein Funkeln.

Ein Manjarde, der zufällig vorbei kam, wies mich auf eine Computerkonsole hin. »Ihr müsst den Kommunikator benutzen. Der Karx verständigt sich über Lichtblitze.«

Osiris dankte und teilte seine Botschaft mit, worauf die Konsole ebenfalls zu funkeln begann. Gespannt beobachteten wir, wie der Karx und die Konsole um die Wette glitzerten.

»Beginnen von Kommunikation«, gab der Automat schließlich von sich. »Suche nach DORGON. Finden von DORGON. Lernen von Innerer Schönheit. Bewahren von Frieden. Siegen von Logik und Vernunft. Zeigen von Stärke.«

Ich kratzte mich am Kopf. »Tolotos, ich glaube, hier ist dein Planhirn gefragt. Dieser Karx scheint äußerst abstrakt zu denken.«

Der Haluter gab seine Zustimmung. An dem Erstarren seines Körpers konnte ich feststellen, dass er geistig auf seinen Gehirncomputer »umgeschaltet« hatte. Das Ordinärhirn war nun nur noch für die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen zuständig und sämtliche Gefühle wurden unterdrückt. Icho Tolot war praktisch zu einer Positronik geworden.

Das Kristallwesen und der Haluter fingen an, sich in der abstrakten Sprache zu unterhalten. Das Ganze glitt immer mehr ab, bis ich schließlich trotz Extrasinn nicht mehr folgen konnte. Ein Blick in Osiris’ Gesicht zeigte mir, dass es dem Kemeten ebenso erging.

Schließlich hörte das Funkeln im Karx-Körper auf, und auch in Tolots drei Augen kehrte das Leben zurück. Offensichtlich war er wieder mit seinem Bewusstsein ins Ordinärgehirn gewechselt, um sich uns verständlich zu machen.

»Ein sehr anregendes Gespräch«, erklärte er mit einer Begeisterung, die gar nicht zu seiner monotonen Stimmlage in den letzten Minuten passen wollte. »Die Karx weisen eine sehr hohe Kultur auf und haben eine einzigartige Philosophie, die …«

»Tolotos«, sagte ich sanft, um auf den Kern der Sache zu lenken.

Der Haluter lenkte ein. »DORGON hat diese Galaxie völlig unter Kontrolle. Nicht durch Macht, sondern durch Vernunft. Alle sind friedlich und arbeiten nur am friedlichen Wohlstand aller. Alle Völker respektieren sich gegenseitig und üben sich in maximaler Toleranz. MODROR ist dem Karx zwar bekannt, aber ich konnte ihm glaubhaft versichern, dass wir keine seiner Agenten sind.«

Ich atmete auf. Also waren wir doch nicht zu spät gekommen!

»Leider muss ich dich enttäuschen.« Icho Tolot schien meine Gefühlsregung bemerkt zu haben. »Seit einiger Zeit hat sich DORGON nicht mehr zu erkennen gegeben. Dies ist sehr ungewöhnlich, weil er sonst immer den Kontakt zu den Philosophen seines Kults gesucht hat. Wir müssen also davon ausgehen, dass der Angriff auch hier schon begonnen hat.«

»Und jetzt?«, stellte Osiris die alles entscheidende Frage.

»Der Karx hat mir berichtet, dass DORGON auf der Welt Aykon zu Hause sein soll, was immer das zu bedeuten hat. Mag sein, dass er sich ähnlich wie die Superintelligenzen einen Anker in diesem Universum erschaffen hat.«

»Gut, und wie bekommen wir heraus, wo sich dieser Planet befindet?«

Tolot bleckte die Zähne und tippte mit einem Finger an seinen Kopf. »Alles schon da drin.«

»Na, worauf warten wir dann noch?«, entfuhr es mir. »Ich bekomme ohnehin schon Albträume von Rohrbahnen und zur Schau gestellten Blößen …«

Dem hatten die anderen nichts mehr hinzuzufügen.

Denise Joorn

Seit über einer halben Stunde wartete Denise nun schon neben der Essensausgabe. Die vorbeieilenden Alysker warfen ihr teils verwunderte, teils verächtliche Blicke zu. Die Archäologin ignorierte sie alle, denn für diese Mahlzeit hatte sie sich in den Kopf gesetzt, nicht wieder alles verkehrt zu machen. Die Peinlichkeiten vom gestrigen Mittagessen mussten nicht wiederholt werden. Diesmal würde sie wirklich Alaska Saedelaere von seinen trüben Gedanken befreien, statt dass diese auf sie selbst übergriffen.

Endlich betrat ihr Zielobjekt die Kantine. Denises Herz schlug einen Takt schneller. Sollte sie ihn wirklich schon wieder nerven? Dabei hatte sie doch alles ganz genau geplant. Aber was würde er von ihr denken? Vielleicht war es doch besser, sich noch schnell abzusetzen, bevor noch irgendetwas Peinliches geschah … ihre Gedanken überschlugen sich.

»Oh, hallo, Denise!«, sagte die Stimme, der sie gerade entkommen wollte.

Eine Eishand schien ihr Herz zu umfassen. Verdammt! Gerade löste sich ihr Plan in Luft auf!

Sie versuchte, zu retten, was zu retten war und schenkte Alaska ihr bestes Lächeln. Hoffentlich konnte sie die Schmach von gestern ausbügeln.

»Hallo, Alaska!« Sie bemühte sich, möglichst gleichgültig zu klingen und nicht zu schnell zu atmen. »Was für ein Zufall. Ich wollte mir gerade etwas zu essen holen. Kannst du vielleicht mal nach einem Platz schauen? Dann bringe ich dir etwas mit.«

Der Unsterbliche blickte sie skeptisch an. »Denise, wenn es wegen unseres Gespräches gestern ist. Du …«

Denise schnitt ihm das Wort ab, bevor er etwas sagen konnte, was sie nicht hören wollte. »Nein, nein. Setz dich nur, ich bringe dir etwas.«

Alaska nickte langsam, dabei bildete sich eine senkrechte Falte auf seiner Stirn. Eigentlich sah er damit sehr viel natürlicher aus. Nicht so abweisend wie sonst. Er wandte sich um und suchte nach einem Tisch.

Denise Joorn wirbelte herum. So, jetzt nur nichts falsch machen. Was hatte er gestern nochmal gegessen?

Ihre Finger flogen über die Bedienfelder der Automaten. So schnell wie möglich stellte sie das von ihm bevorzugte Menü aus Suppe und Salat zusammen, das sie nach wie vor für äußerst asketisch hielt, und eilte mit dem Tablett zu seinem Tisch.

Dort wurde sie bereits von Alaska erwartet. Die Denkfalte war nach wie vor nicht verschwunden. Süß!

Behutsam stellte sie das Tablett vor dem Unsterblichen ab und warf dann ihre dunkelblauen Haare zurück, die sie heute, im Gegensatz zu ihrer sonstigen Gewohnheit, offen und nicht als Zopf trug.

»Danke, Denise«, sagte Saedelaere zu ihr. »Sag mal, willst du gar nichts essen?«

Huch! Das hatte sie ja völlig vergessen.

»Äh«, machte sie. »Nein, mein Essen steht noch dahinten. Ich hols mal!«

Die Archäologin eilte zu den Automaten zurück.

Wieso benehme ich mich denn plötzlich wie ausgewechselt?, fragte sie sich. Ich komme mir gerade vor wie ein 14-jähriges Mädchen und nicht wie eine 31-jährige akademisch gebildete Frau.

Sie beschloss, sich zusammenzureißen. Schließlich wollte sie nicht wieder so eine unwürdige Figur wie gestern abgeben.

»Schaust du, hier ist mein Essen«, sagte sie zu dem Unsterblichen, als sie mit ihrem Tablett schließlich wieder am Tisch angelangt war. Dabei bemühte sie sich, dem Blick des Terraners auszuweichen.

»Denise …« Alaska seufzte ergeben. Sie erschrak. Oh oh, hoffentlich kam jetzt nichts Schlimmes! »Es tut mir leid, was ich gestern zu dir gesagt habe. Du kannst nichts dafür! Ich habe momentan so viel um die Ohren und die Zurückstellung durch Atlan hat mich anscheinend stärker getroffen, als ich wahr haben wollte.«

»Ach, schon vergessen!« Zur Bestätigung legte sie ihm ihre Hand auf den Arm.

Halt!, stach es in ihre Gedanken. Ich kann doch nicht einen Unsterblichen anfassen!

Sofort zuckte ihre Hand zurück.

»Ich würde halt gern mal wieder meinen Fuß auf einen Planeten setzen«, sagte sie nach einem kleinen Hustenanfall, lächelte schwärmerisch und lehnte sich zurück. »Vielleicht habe ich von mir zu viel auf andere geschlossen, aber ich hatte gesehen, wie geknickt du aus dem Hangar gegangen bist.«

»Du warst auch da? Ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Kann ich mir vorstellen. Du warst sehr am Boden zerstört …«

Einige Minuten herrschte Stille, in der Alaska seine Suppe löffelte und Denise ihn mit gesenkten Lidern beobachtete. So zurückgelehnt konnte sie das gefahrlos tun, ohne dass er es bemerkte.

»Denise, ich mag dich«, sagte Alaska schließlich, stieß fast sein Glas um und hielt es gerade noch fest. Er wandte sich ihr zu. »Genau deshalb will ich dich, Leo und Jaques nicht in unsere internen Probleme mit hineinziehen. Ihr habt schon genug damit zu tun, über die Umwege des grünen Universums schließlich hier hinein geraten zu sein …«

Denise nickte eifrig. Er mag mich! Sie beugte sich vor. »Aber versuche auch, meine Empfindungen nachzuvollziehen. Ich weiß ja nicht, wie es unserem merkwürdigen Streit-Pärchen geht, aber ich zumindest habe mich inzwischen ganz gut damit abgefunden, das Universum zu retten.« Die junge Frau stieß ein übertriebenes Lachen aus, und wurde sofort wieder ernst. »Aber immer nur auf dieser gigantischen Station unter all diesen arroganten Alyskern …«

Ihre Blicke trafen sich. Denise Augen tauchten in die von Alaska. Beide schwiegen lange.

»Entschuldigung!«, vernahm sie urplötzlich eine Stimme.

Denise schüttelte verwirrt ihren Kopf. Was war gerade geschehen? Sie blickte an Alaska vorbei. Dort standen Leopold und Jaques de Funés. Ausgerechnet die! Ausgerechnet jetzt!

»Entschuldigung, Alaska Saedelaere«, wagte Jaques de Funés einen neuen Anlauf. »Nachdem Atlan und Osiris jetzt weg sind, bist du ja sozusagen der Chef hier.« Der Geschäftsmann lächelte verlegen.

»Ja«, musste der Träger von Kummerogs Haut zugeben. »Das kann man so sagen. Um was gehts?«

»Um Roggle«, beeilte sich Leopold mitzuteilen. »Wir haben ihn beobachtet. Er hat aus einem Lager eine Kiste mit sehr viel Essbesteck geholt und wir vermuten, dass er damit etwas vorhat.«

Denise fing prustend an zu lachen. »Vielleicht essen?«

Auch Alaska lächelte. Schien so, als hätten sie einen ähnlichen Humor.

»Roggle ist harmlos«, eröffnete er den beiden. »Ihr solltet ihm nicht immer nachspionieren. Lasst das geplagte Wesen in Ruhe!«

»Aber …«

»Nichts aber«, ließ Alaska keinen Widerspruch zu.

Frustriert machten sich die beiden davon.

Saedelaere wandte sich wieder Denise zu. »Wo waren wir stehengeblieben?«

Schnell blickte Denise weg und bemühte sich, das Grinsen aus ihrem Gesicht zu bekommen. »Ich … äh … bei arroganten Alyskern.«

Alaska löffelte seine Suppenschüssel leer und widmete sich dann dem Salat. »Ja, dieses Volk ist etwas eigen. Aber selbst ich als Zellaktivatorträger kann mir nicht vorstellen, wie es ist, auf solch eine gigantische Lebensspanne zurückblicken zu können.«

Als hätte sie es gehört, tauchte plötzlich Nora am Tisch auf. Die Ortungschefin der NESJOR war Denise durchaus bekannt. Die Alyskerin mit den lockigen, hüftlangen Haaren war nicht nur reichlich schön, sondern hatte auch eine ausgesprochen gute Figur. Nur die für das Volk der Alysker typisch spitzen Ohren gefielen ihr überhaupt nicht.

Die ist ohnehin keine Konkurrenz für mich!, stellte die Archäologin zufrieden fest und erschrak, als Nora neben Alaska Platz nahm. Wieso denn ausgerechnet dort? An allen anderen Tischen ist doch Platz genug!

Ihr Unmut stieg, als Nora mit Alaska ein Gespräch über einige Punkte der Tagesordnung begann und der Hautträger ihr artig antwortete.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. War sie jetzt völlig unwichtig geworden? Konnten die beiden ihre Fachgespräche nicht später führen?

Mit wachsendem Ärger folgte sie dem ihrer Meinung durchweg bedeutungslosen Dialog. Es ging um die Kartografierung und Räumung weiterer Sektoren, die Reaktivierung und Umprogrammierung von noch mehr Robotern und ähnliche Dinge.

Sie unterdrückte ein Gähnen, doch als nach endlos langen Minuten immer noch keine Besserung in Sicht war, tat sie es nicht mehr.

Synchron drehten sich beide Köpfe in ihre Richtung. Beide trugen denselben ärgerlichen Gesichtsausdruck. Damit wirkten sie wie Bruder und Schwester – oder ein glückliches Ehepaar.

»Entschuldigung«, sprudelte es aus Denise Joorn heraus. Sollen die doch allein glücklich werden! »Ich glaube, ich gehe dann mal lieber auf meine Kabine …«

»Willst du denn gar nichts essen?«, fragte Alaska erstaunt.

Sie starrte ihr Tablett an wie eine Fata Morgana. Wahrhaftig, sie hatte ihr Essen nicht einmal angerührt! Was war heute nur mit ihr los? Besser, wenn sie sich tatsächlich mal in ihre Kabine zurückzog. Vielleicht brauchte sie einfach nur etwas Ruhe.

»Äh, nein«, lächelte sie Alaska an und bemühte sich, die Nasenwurzel zwischen seinen Augen zu fixieren, um nicht in letztere blicken zu müssen. »Ich glaube, ich lege mich lieber etwas hin.«

Ihr Abzug aus der Kantine glich einer Flucht. Später konnte sie selbst nicht mehr sagen, wie sie so schnell ihr Tablett weggebracht, durch die Korridore geeilt und in ihre Kabine gelangt war.

Dort angekommen schloss sie zunächst die Tür und ließ sich auf ihr Bett sinken. Sie zog die Beine an, legte ihre Arme um die Unterschenkel und steckte den Kopf zwischen die Knie. Dann schloss sie die Augen, um sich ganz auf sich selbst konzentrieren zu können.

Was war bloß heute mit ihr los? Warum machte sie so einen Wirbel um Alaska und verlor andere Dinge völlig aus dem Blick? Warum war sie nur plötzlich so reizbar, wenn er in der Nähe war? Warum wollte sie nicht, dass er mit Nora redete?

Urplötzlich kam die Erkenntnis. Ihr Herz blieb stehen und eine Eishand umfasste ihren Körper. Ihr Brustkorb krampfte sich zusammen und erlaubte ihr nicht mehr, Atem zu holen.

Um die Anspannung zu lösen, stieß sie einen Schrei aus, den hoffentlich niemand durch die geschlossene Tür hörte.

»Ich habe mich verliebt«, murmelte sie ungläubig und raufte sich die Haare. »Ich habe mich in Alaska verliebt. In einen Unsterblichen! Aber das geht doch nicht!« Sie starrte ihr Spiegelbild in der blanken Metallwand an. Noch nie hatte sie ihr Antlitz als so hässlich empfunden. So profan. So normal, durchschnittlich, unbedeutend. Ihre Stimme war bei den nächsten Worten nur noch ein Flüstern. »Aber das geht doch nicht …«

Leopold

»Aber das geht doch nicht!«, stellte Leopold fest.

»Atlan hat uns den Auftrag gegeben, Roggle zu observieren, und wir werden es weiterhin tun«, widersprach Jaques de Funés energisch. »Alaska ist eh befangen und ich bin nach wie vor der Meinung, dass so viel Besteck einfach nur verdächtig ist!«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Ler Ok Poldm unsicher.

Nach der Abfuhr durch Alaska Saedelaere waren sie in Jaques’ Kabine zurückgekehrt, um ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Sie hatten bis jetzt stundenlang diskutiert, was Roggle mit dem vielen Besteck vorhaben könnte. Vor allem für die Messer waren ihnen viele Einsatzzwecke eingefallen – und keiner davon war harmlos.

»Na, was wohl?« Der Geschäftsmann wedelte mit den Armen herum, als wollte er den Somer wachrütteln. Sicherheitshalber trat Leopold einen Schritt zurück. »Wir machen weiter wie bisher. Roggle hat etwas vor, und wir werden es herausfinden!«

Leo nickte. »Wir wollen Atlan nicht enttäuschen.«

Sie blickten sich noch einmal gegenseitig in die Augen, dann huschten sie aus der Kabine und nahmen ihren Beobachtungsposten an der Gangecke zu Roggles Kabine ein. Da in diesem Bereich keine Alysker untergebracht waren, war keine Menschenseele zu sehen und das leise Rauschen der Lüftung war das einzige Geräusch, das die Ruhe störte.

Lange Zeit passierte gar nichts und Leopold ertappte sich dabei, dass er im Geiste Noras Körperrundungen nachzog. Er schüttelte den Kopf, um diese unpassenden Gedanken zu vertreiben. Später war dazu immer noch Zeit.

»Na, wieder vulgäre Gedanken gehabt?«

Der Terraner schien wirklich in seinen Schädel hineingucken zu können!

»Nein, nur eine lästige Fliege«, widersprach Leo ärgerlich.

»Aha«, machte de Funés. Dann ruckte sein Kopf wieder herum. »Moment, hier gibt es gar keine Insekten! Du lügst mich an!«

»Und wenn schon«, winkte der Somer ab.

»Nein, nein«, widersprach sein unfreiwilliger Partner energisch. »So geht das nicht. Ich verstehe ja, dass du als Taugenichts nicht in der Lage bist, aus deinem Leben etwas zu machen. Trotzdem solltest du Ehrlichkeit lernen, falls du mit deinem begrenzten Intellekt in der Lage bist, die Bedeutung dieses Wortes zu begreifen.«

Die Worte saßen wie Peitschenhiebe. Leo hielt mühsam die Tränen zurück.

»Ich bin dir keinerlei Rechenschaft schuldig!«, schrie er den Handelsvertreter zornentbrannt an.

»Sei endlich ruhig!«, donnerte Jaques de Funés.

Leopold ließ ihn stehen und eilte in seine Kabine zurück. Dort angekommen heulte er hemmungslos. Warum nur hatte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen? Warum mochte ihn niemand? Warum konnte ihn niemand so nehmen, wie er nun mal war?

Sein tränengetrübter Blick fuhr die Reihe der Pin-up-Girls an seiner Kabinenwand entlang. Er begann, die Poster zu streicheln. Nur einmal mit einer Frau kuscheln, nur einmal mit einer Terranerin das Bett teilen. Ihm war bewusst, dass aufgrund ihrer körperlichen Inkompatibilität mehr nie möglich sein würde, aber schon allein für Kuscheln und Petting hätte er alles gegeben.

Der Somer stieß gequält die Luft aus.

Und wenn ich jetzt Selbstmord begehen würde?, fragte er sich. Wer vermisst mich schon? Jaques de Funés, dieses arrogante Arschloch, sicherlich nicht. Alaska Saedelaere und Denise Joorn scheine ich ja auch egal zu sein – und von den Alyskern wollen wir gar nicht erst reden. Nein, sie alle werden mir keine Träne nachweinen.

Ler Ok Poldm schluchzte auf und begann, in seiner Kabine im Kreis zu laufen. Dabei hielt er seinen Blick fest auf den Boden gerichtet. Er wollte momentan nicht die ewig lächelnden Models in den dreidimensionalen Abbildungen sehen. Er wollte nicht noch weiter in Depressionen stürzen. Und doch drehte sich die Spirale immer weiter. Irgendwann legte er sich einfach mitten auf den Boden und warf mit seinen überall auf dem Boden verstreuten Habseligkeiten um sich, um seinen Frust abzubauen.

*

Plötzlich ertönte der Türsummer. Leo erschrak fast zu Tode, als er das unerwartete Geräusch vernahm. Er musste wohl irgendwann eingenickt sein.

Was war denn jetzt los? Er hatte noch niemals Besuch bekommen. Nie hatte jemand freiwillig seine Kabine betreten. Selbst Atlan war statt zu ihm zu Jaques gegangen, um ihn in seine weiteren Pläne einzuweihen. Der Somer bezweifelte, dass Atlan anschließend zu ihm gekommen wäre. So gesehen war es reiner Zufall, dass er, durch de Funés’ Zornesausbruch angelockt, überhaupt von den weiteren Plänen des Arkoniden erfahren hatte.

Der Summer ertönte ein zweites Mal.

»Ja, ja, ich komme ja schon«, murmelte er und stieß mit den Füßen einige auf dem Boden liegende Kleidungsstücke und Getränkebehälter zur Seite. Während seiner depressiven Phase hatte sich das Chaos in seiner Kabine weiter vergrößert. Er war noch nie sonderlich ordentlich gewesen, aber momentan sah sein Domizil tatsächlich aus, als hätte die sprichwörtliche Bombe eingeschlagen.

Egal!, sagte er sich und öffnete die Tür.

»Na endlich«, empfing ihn Jaques de Funés. »Leopold, Roggle ist wieder unterwegs. Komm mit!«

Der Terraner warf sich herum und rannte los.

Leos schlechte Stimmung war wie weggeblasen. Endlich gab es wieder etwas zu tun! Er eilte dem Handelsvertreter hinterher.

*

Der Vorjul suchte dieses Mal eine Gleiterfähre auf, wie sie im Inneren von NESJOR zum Güter- und Personentransport benutzt wurden. Die beiden warteten, bis eine neue Fähre bereit stand und folgten ihm dann in sicherem Abstand.

»Also hat er doch etwas vor«, stellte Jaques de Funés zufrieden fest. »Atlan wusste es von Anfang an. Wir haben alles richtig gemacht!«

»Hm«, machte Leopold nur. Er war noch nicht überzeugt.

»Na komm!« Der Terraner blickte ihn an. »Warum sollte er sich eine dieser Fähren nehmen, wenn er nicht irgendetwas Größeres im Schilde führen würde?«

»Du weißt selbst, wie unsicher Roggle auf den Beinen ist.« Ler Ok Poldm gefiel sich momentan darin, ihre eigene Mission zu kritisieren. Außerdem konnte er so Jaques endlich mal Paroli bieten. »Er benutzt sie vermutlich nur, um nicht so weit zu Fuß gehen zu müssen.«

»Wann hält endlich mal Intelligenz in diesen Schädel Einzug?«, fragte de Funés anklagend und streckte die Arme nach oben. »Herr, wirf Hirn vom Himmel!«

Der Somer verstand nicht ganz, was der Geschäftsmann mit dem letzten Satz sagen wollte, aber ihm war klar, dass es wieder eine Beleidigung darstellte. Davon hatte er aber ein für alle Mal genug.

»Jetzt hörst du mir mal zu!«, donnerte er los. »Ständig beleidigst du mich. Ständig beschimpfst du mich. Ständig nimmst du mich nicht für voll. Ist dir eigentlich klar, wie sehr du mich damit verletzt? Natürlich können wir uns gegenseitig nicht ausstehen, natürlich magst du meine sexuelle Orientierung nicht. Dennoch müssen wir hier zusammenhalten. Ich habe mir nicht ausgesucht, statt in Cartwheel nach dem ganzen Schlamassel schließlich in dieser Nesjor-Station zu landen. Du ebenso wenig. Und doch bleibt uns nichts anderes übrig, als das gemeinsam durchzustehen.«

Jaques de Funés schwieg betreten. Er starrte seine Fingernägel an und schien sich für nichts anderes mehr zu interessieren.

Leopold steuerte derweil die Fähre in sicherem Abstand Roggle hinterher. In ihm machte sich so etwas wie Stolz breit. Endlich hatte er es einmal geschafft, dem Terraner seine Meinung zu sagen. Er fühlte sich gleich ein ganzes Stückchen größer.

»Es … es tut mir leid«, gab de Funés schließlich kleinlaut zu. »Ich werde mich bemühen, dich nicht mehr zu beleidigen.«

Ler Ok Poldm starrte ihn fassungslos an. Was, der ach so eingebildete Herr Handelsvertreter gab freiwillig auf? Er entschuldigte sich? Leo hatte gewonnen? Der Somer begann, Angst vor der eigenen Courage zu bekommen.

»Da, Roggle ist ausgestiegen«, nahm er die Situation zum Anlass, vom Thema abzulenken. »Wo sind wir hier?«

Jaques de Funés konsultierte den Bordcomputer der Fähre. »In diesem Sektor ist nichts Interessantes. Lagerräume, Vorratslager, einige unwichtige Aggregate …«

»Was will er dann hier?«

»Woher soll ich das wissen?«

Der Terraner ließ den Mund geöffnet, wohl um noch etwas nachzuschieben. Leopold schaute ihn interessiert an. Schließlich schloss de Funés den Mund wieder.

Gewonnen!, freute sich der Somer. Zumindest vorerst.

Er landete den Gleiter in der Nachbarhalle, damit er Roggle nicht auffallen konnte. Dann stiegen sie aus und schlichen an Roggles Fluggerät vorbei in den Korridor, in dem der Zweiköpfige verschwunden war.

Beinahe wären sie über ihn gestolpert, denn er saß mitten im Durchgang zu einer weiteren Halle und schien zu meditieren, denn er reagierte in keiner Weise. Sofort zogen sie sich wieder zurück.

»Was macht er da?«, flüsterte Leo de Funés zu.

»Schlafen?«, stellte dieser eine wenig intelligente Gegenfrage.

Leo lag es auf der Zunge, seinerseits mit einer Beleidigung zu antworten, besann sich jedoch rechtzeitig. »Für mich wirkte es eher so, als würde er meditieren.«

»Warum sollte er gerade hier meditieren wollen? Das hätte er in seiner Kabine genauso gut oder sogar besser haben können.«

»Möglicherweise können seine beiden Köpfe ja auch rein mental miteinander kommunizieren«, spekulierte Leopold.

»Und dafür muss er sich setzen? Überhaupt, wen würde es denn stören, wenn sie hier reden?«

Als wäre das das Stichwort gewesen, vernahmen sie die Stimme von Rog. »Hast du verstanden, was er meinte?«

»Ungefähr«, antwortete Gle. »Ich vermute, er hat dieses Gerät da vorn beschrieben.«

»Gut, dann sollten wir mal hingehen und anschließend nachfragen.«

Ler Ok Poldm und Jaques de Funés blickten einander verständnislos an. Der Terraner begann, einen Finger vor seine Stirn zu halten und kleine Kreise zu ziehen.

Diese Geste kannte der Somer und schüttelte energisch den Kopf. »Die beiden Körperhälften unterhalten sich wohl tatsächlich mental, allerdings nicht miteinander.«

»Aha«, machte Jaques. »Und mit wem dann?«

Die Erkenntnis fiel Leopold wie Schuppen von den Augen. Auch de Funés zuckte zusammen.

»Rodrom!«, stießen beide gleichzeitig hervor.

Sofort huschten sie beide in den Korridor und schlichen zu der Halle, in der sich Roggle aufhielt. Der Zweiköpfige schien wieder in sich hinein zu horchen. Leopold musste zugeben, dass er dabei sehr stark Atlan im Zwiegespräch mit seinem Extrasinn ähnelte. Schließlich setzte der Vorjul seinen Weg fort, griff zielstrebig nach einem Kasten im Hochregal und wandte sich um.

Auf Zehenspitzen rannten die beiden zu ihrem Gleiter zurück, bevor er sie sehen konnte.

»Hast du entdecken können, was es war?«, fragte Jaques de Funés keuchend. Es erschien nicht so, als wäre er sonderlich trainiert.

Leopold hingegen war kaum außer Atem. Wenn man öfters mal Spielern entkommen musste, die man gerade mit Kartentricks über den Tisch gezogen hatte, besaß man eine gewisse Ausdauer.

»Es war irgendwas mit vielen Bedienfeldern und einem Monitor«, teilte er seine Beobachtungen mit. »Vielleicht ein Pikosyn oder eine Fernsteuerung.«

»Hm«, machte Jaques de Funés. »Auf eine Fernsteuerung würde ich auch tippen. Aber was zum Himmel sollte er damit wollen?«

»Wenn wir davon ausgehen, dass …«

Roggles Gleiter flitzte innerhalb des großen Verbindungstunnels an ihnen vorbei. Sie duckten sich unwillkürlich hinter die Steuerkonsolen, doch beide Köpfe blickten nicht in ihre Richtung. Stattdessen hatten sie das erbeutete Gerät im Fokus.

»Also, wenn wir mal glauben, dass er nicht verrückt geworden ist«, nahm Leo einen neuen Anlauf, »und er wirklich mit Rodrom trotz dessen künstlichen Komas reden kann, dann wird wohl eher Rodrom diese Fernsteuerung haben wollen.«

»Rodrom liegt aber, wie du gerade angemerkt hast, im Koma und wird außerdem von unzähligen Alyskern bewacht!«

Poldm ersparte sich eine Antwort und startete stattdessen lieber den Gleiter. Inzwischen sollte Roggle weit genug weg sein, dass sie ihm problemlos folgen konnten.

»Warten wir doch erst einmal ab, wo er überhaupt hin will«, erklärte er. »Vielleicht erklärt sich ja dann alles.«

»Wir sollten Alaska informieren«, meinte Jaques und griff nach dem Interkom.

Leo zog seine Hand weg. »Damit er uns für völlig paranoid hält? Was haben wir denn in der Hand? ›Hallo, Alaska! Roggle hat sich eine Fernbedienung besorgt.‹ Er wird uns dann höchstens noch ein weiteres Mal verbieten, den Zwerg zu verfolgen. Nein, wir müssen mit etwas Handfesterem kommen, einem eindeutigen Beweis.«

»Ja, du hast recht«, musste der Geschäftsmann zugeben. »Aber er fliegt ganz und gar nicht in Richtung von Rodroms Gefängnis, sondern ins Zentrum der Station.«

»Stimmt. Das ist exakt derselbe Weg, über den wir auch hierher gekommen sind.«

»Dann will er wohl in seine Kabine zurück.«

»Naja«, überlegte Leopold. »Die Fernsteuerung kann er ja auch von dort aus benutzen.«

Ein Arbeitsroboter überholte sie und bog einen Quertunnel später wieder ab. Die durch die Eroberung der Station und vorher durch die Selbstvernichtung der Nesjorianer entstandenen Schäden waren immer noch nicht behoben. Ein Großteil der Alysker war ununterbrochen im Schichtbetrieb damit beschäftigt, die Station wieder zu ihrer vollen Leistungsfähigkeit zu bringen. Es schien beinahe so, als hätten die Reste des unsterblichen Volkes den künstlichen Mond bereits als neue Heimat akzeptiert.

»Einen Roboter!«, rief Jaques de Funés plötzlich.

Leo bejahte. »Davon gibt’s hier doch viele.«

De Funés schüttelte energisch den Kopf. »Roggle will einen Roboter fernsteuern!«

In Leos Kopf machte es klick. »Er will mit ihm die Wachen aus dem Weg räumen und Rodrom befreien.«

Entsetzt starrten die beiden sich an. Als der Terraner abermals nach dem Interkom griff, hielt der Somer ihn nicht mehr auf. Gebannt starrten beide auf das Display.

Doch Alaska Saedelaere meldete sich nicht.

Atlan

Aykon lag im Zentrum von Manjardon, aber die HOR-ATEP überbrückte diese Entfernung schnell. Nach nur einem Tag präsentierte sich uns ein absolut solähnliches System mit mehreren Planeten, deren Spanne von sonnennahen Glutwüsten bis hin zu Gasriesen reichte. Nur eine Welt wies lebensfreundliche Bedingungen auf. Dies musste die Kontaktwelt des Kosmotarchen sein.

Osiris runzelte die Stirn. »Ich kann keinerlei Hypertechnik orten.«

»Ein schlechtes Zeichen?«, hakte ich nach.

Falls die Technik zerstört worden wäre, hätte die HOR-ATEP sie auch orten können, wies mich mein Extrasinn direkt zurecht. Selbst zerstörte Hyper-Aggregate emittieren noch 5-D-Strahlung. Die Wahrscheinlichkeit spricht eher dafür, dass Icho Tolot den Karx falsch verstanden hat und dies hier das falsche System ist!

»Ich bin mir sehr sicher, dass es in diesem System zumindest in den letzten Jahrhunderten keinerlei höhere Technik gegeben hat«, bestätigte Osiris indirekt meinen Extrasinn.

Ich blickte den Haluter an.

»Ich bin mir ebenfalls sehr sicher«, entgegnete dieser, »dass die Koordinaten korrekt sind. Schließlich hat sie mein Planhirn aufgezeichnet.«

»Egal, ob nun richtige oder falsche Koordinaten«, sagte ich diplomatisch, »wenn wir schon mal hier sind, können wir uns diesen Planeten auch genauer ansehen. Erinnert euch an das Dämmfeld, das uns nicht erlaubte, in diese Galaxie hineinzusehen. Möglicherweise ist das hier etwas Ähnliches.«

Osiris’ Gesichtsausdruck sprach Bände. Der Kemete bemühte sich gar nicht erst zu verbergen, dass er diesen Anflug für pure Zeitverschwendung hielt. Dennoch steuerte er sein Schiff in einen Orbit um den Planeten in der Biosphäre des Sonnensystems.

Die optische Ortung zeigte uns eine wilde Welt voller glitzernder Ozeane, dampfender Dschungel, gelber Savannen, grüner Wälder und schroffer Bergketten – aber ohne jegliches Anzeichen einer Zivilisation.

Osiris machte das Spielchen eine komplette Umkreisung der Welt mit, danach verlor er endgültig die Geduld.

»Habe ich es nicht gleich gesagt?«, fragte er anklagend. »Auf die Systeme der HOR-ATEP ist Verlass. Wenn das Schiff mir sagt, da ist nichts, dann ist da auch nichts.« Triumphierend blickte er mich an. »Und nun, Arkonide?«

»Schaut mal hier!«, rettete mich das Organ des Haluters vor einer Antwort. »Das ist zwar auch kein Anzeichen einer Besiedlung, aber das solltet ihr euch mal ansehen.«

Ich folgte dem ausgestreckten Handlungsarm und erstarrte. In dem Gebiet, auf das der Zeigefinger wie eine Drohung gerichtet war, fehlte sämtliche Vegetation. Der Syntron registrierte unser Interesse und vergrößerte den Ausschnitt. Ich musste mich korrigieren. Die Vegetation fehlte nicht, sondern war zu Staub zerfallen. Was ging da Ungeheuerliches vor sich?

Ich schluckte den Kloß im Hals herunter. »Ich glaube, wir sind hier doch richtig …«

*

Osiris hatte die HOR-ATEP unmittelbar in dem betroffenen Gebiet gelandet. Uns präsentierte sich eine Landschaft wie aus einem Albtraum. Bis zum Horizont hatten sich alle Pflanzen und Tiere in feinsten graubraunen Staub aufgelöst. Hier und da ragten einzelne Äste oder Knochen aus der Masse hervor, doch ihre Anzahl war nur noch gering.

Ich ging zu einem dieser Knochen und hob ihn auf. Er war völlig von Staub bedeckt, also wischte ich ihn herunter. Darunter kam poröses Gebein zum Vorschein. Es bereitete mir keinerlei Mühe, es durchzubrechen. Weiterer Staub rieselte zu Boden.

»Der Knochen ist völlig ausgelaugt«, stellte ich fest. »So, als hätte ihm etwas alle Kraft entzogen.«

Icho Tolot hatte in der Zwischenzeit ein ansehnliches Loch gegraben. »Dieser Fraß scheint sehr tief zu sein. Vermutlich reicht der Staub bis zum massiven Grund.«

»Hier können wir nichts mehr erfahren«, entgegnete Osiris. »Wir sollten uns mal den Rand dieser Zone ansehen.«

Ich ging zur HOR-ATEP zurück und versuchte währenddessen, den Staub von den Händen zu wischen. Dabei stellte ich fest, dass auch die Handschuhe meines SERUNS einen gräulichen Farbton angenommen hatten. Fluchend rieb ich weiter, doch inzwischen war der Zerfall des Gewebes nicht mehr aufzuhalten. Ich verwünschte meinen Leichtsinn.

Du musst sofort aus dem Anzug, bevor der Effekt deine Haut erreicht!, ermahnte mich mein Extrasinn.

Inzwischen hatten auch die anderen mitbekommen, was mir passiert war. Osiris hob seine Stiefel an. Auch an den Sohlen hatte der Zerfall begonnen.

Ich rannte, so schnell ich konnte, zur Schleuse zurück. Dort entledigte ich mich in Rekordzeit meines Anzugs und zerstrahlte mit einem Desintegrator Handschuhe und Stiefel des SERUNS. Osiris tat es mir mit seinen Stiefeln gleich.

»Lieber barfüßig als gar kein Einsatzanzug mehr«, sagte ich mit Galgenhumor.

Der Kemete blickte düster zurück. »Ein absoluter Anfängerfehler. Gut, dass die HOR-ATEP in einem Prallfeldkissen gelandet ist.«

Tolot kam herangestampft. »Mein Kampfanzug scheint gegen die Auflösung immun zu sein.«

Zum Beweis hob er eines seiner mächtigen Beine. Tatsächlich rieselte der Staub zu Boden, ohne Spuren zu hinterlassen.

Osiris betrachtete skeptisch seinen eigenen Raumanzug. Der Effekt schien durch den Desintegrator gestoppt worden zu sein. »Solange wir nicht sicher sind, kommt mir dein Anzug nicht in die HOR-ATEP. Ich fliege mit Atlan jetzt zur Randzone des Zerfalls. Dir sollte es ja keine Schwierigkeiten bereiten, zu Fuß dorthin zu gelangen?«

Kommentarlos ließ sich der Haluter auf die Laufarme fallen und jagte mit hundertzwanzig Kilometern die Stunde davon, eine gigantische Staubwolke hinter sich herziehend.

Osiris hatte inzwischen die HOR-ATEP in ein Prallfeld gehüllt, sodass der alles verschlingende Staub sein Schiff nicht erreichen konnte.

»Vor hundert Jahren haben wir eine Expedition an die Große Leere durchgeführt«, erzählte ich Osiris, während wir dem Haluter hinterherflogen. »Dir ist diese Sternenformation bekannt?«

»Vage«, zeigte sich Osiris einsilbig. »Nie dort gewesen. Habe lange, lange geschlafen.«

»Damals haben wir die Gegend ausführlich erforscht. Eine Gruppe aus der Milchstraße, die sich selbst als Galaktische Feuerwehr bezeichnete, stieß auf ein Phänomen, das sie den Killer-Staub nannten: Eine große Staubwolke, die alles auflöste, was mit ihr in Kontakt kam, und dadurch wuchs. Wir haben nie herausgefunden, um was es sich damals gehandelt hat – vielleicht ein Naturphänomen, vielleicht auch eine virale Lebensform. Irgendwie erinnert mich das hier daran.«

Der Kemete schaute kurz zu mir herüber, sagte aber nichts. Die Unachtsamkeit, die uns Teile unserer Einsatzanzüge gekostet hatte, schien ihn sehr zu ärgern.

Icho Tolot war übergangslos stehengeblieben. Als sich die Staubwolke legte, konnten wir erkennen, dass er aufgeregt mit den Armen ruderte und in eine bestimmte Richtung wies. Ich folgte seinem Arm und erkannte eine Felsformation, die nicht sehr natürlich wirkte.

Osiris zoomte den Bereich heran. Wir erkannten Mauerreste, die auf eine große Anlage schließen ließen. Eine absolut quadratische Mauer umfasste ein Areal aus mehreren Einzelgebäuden. Das Zentralgebäude schien den Staub unbeschadet überstanden zu haben. Eine breite und steile Mauer führte auf das grob pyramidenförmige Gebäude, das von unzähligen Türmchen und Erkern geschmückt wurde.

»Angkor Wat«, entfuhr es mir gegen meinen Willen.

»Was?«, fragte Osiris.

»Eine große Tempelanlage auf Terra. Der Anblick dieser Ruinen erinnert mich stark an diese Anlage. Der Aufbau ist ausgesprochen ähnlich, weicht aber natürlich in Details ab.«

Osiris warf mir einen Antigravgürtel mit Prallfeldgenerator zu. »Keine Risiken mehr!«

Ich nickte und legte den Gürtel an. Gemeinsam schwebten wir zur Tempelanlage, wo wir bereits von Icho Tolot erwartet wurden.

Wortlos wies dieser auf einige Staubhaufen. Der im Gebäude fehlende Wind hatte die groben Umrisse der Zerfallenen erhalten. Ein Detail war völlig eindeutig.

»Manjarden«, stellte ich fest. »Also sind wir doch richtig. Das hier muss einer der Tempel sein, in die DORGON bis vor Kurzem seine Philosophen eingeladen hat. Jetzt, wo wir wissen, wonach wir zu suchen haben, sollte es keine Probleme geben, weitere Tempel zu finden, die vielleicht unzerstört sind.«

Osiris blickte den Haluter an. Dieser zeigte seine Handflächen und Fußsohlen, danach drehte er sich einmal im Kreis. Nirgends an seinem roten Kampfanzug zeigten sich Zerfallsspuren.

»Der Anzug kommt erst einmal in ein Prallfeld. Tut sich in den nächsten Stunden nichts, können wir ihn gern nach einer gründlichen Reinigung daraus entfernen. Vorher aber nicht!«

»Das kann ich absolut nachvollziehen«, zeigte Icho Tolot Verständnis. »Es ist natürlich auch in meinem Interesse, dass das Schiff nicht beschädigt wird, Osirisos.«

Der sanfte Riese stieg aus seinem Anzug und ließ diesen von Osiris per Traktorstrahl in die HOR-ATEP transportieren. Danach verfestigte er seine Molekularstruktur, sodass ich ihn mit einem schwachen Desintegratorstrahl von weiteren eventuellen Staubresten befreien konnte. Anschließend kehrten wir alle in das Raumschiff zurück.

Da wir nun wussten, wonach wir zu suchen hatten, konnte Osiris mit einem Massetaster und der charakteristischen Architektur des Tempels schnell fünf weitere Anlagen entdecken, die völlig in der Vegetation des Planeten verborgen waren.

Wir entschieden uns für einen Tempel, der sich mitten im äquatorialen Dschungel des Hauptkontinents befand. Osiris parkte die HOR-ATEP unmittelbar über den Wipfeln, danach stiegen wir mittels der Antigravgürtel aus.

Einige fledermausartige Kreaturen begrüßten uns mit infernalischem Gebrüll, flohen jedoch, als Icho Tolot ihnen zu nahe kam. Wir schlugen uns durch die Wipfelregion des Urwaldes, dann lag übergangslos der Tempel vor uns.

Die mächtigen Regenwaldriesen bildeten mit ihren Ästen eine grüne Kathedrale, in der die Bauwerke lagen. Einige Kletterpflanzen rankten an den Außenwänden empor, doch schien dieser Effekt erwünscht zu sein, denn die Blüten dieser Gewächse bildeten geordnete Muster, die sich perfekt in die Architektur einpassten. Zwischen den Gebäuden verliefen Wege, deren kurvenreiche Führung sehr verspielt wirkte.

Und auf diesen Pfaden lagen die Leichen. Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Toten lagen auf den Wegen. Viele von ihnen wiesen schwerste Verletzungen auf, einigen fehlten ganze Körperteile. Ich bemerkte einen Berg aus Kristallsplittern. Das musste einmal ein Karx gewesen sein. Viele der Leichen waren mit natürlichen Verteidigungsmitteln ausgestattet, die ihnen im Tod nichts mehr nützten. Die Waffen, die sie mit sich geführt hatten, waren den meisten aus den reglosen Händen geglitten. Andere hielten sie selbst im Tod fest umklammert. Eine abgetrennte Krallenhand, die einen gezackten Dolch gen Himmel ragen ließ, verursachte mir Übelkeit.

Die Philosophen schienen so ziemlich alles als Mordwerkzeuge benutzt zu haben, was auch nur im Entferntesten zum Schlagen oder Stechen geeignet war. Tischplatten, Stuhlbeine, einfache Werkzeuge – aus einem toten Garl, einem quallenartigen Wesen, ragte sogar das Bedienfeld eines Syntrons heraus. Der Körperinhalt des Gallertwesens, normalerweise durch die feste Außenhaut zusammengehalten, war ausgelaufen und hatte sich über die Beete verteilt. Überall hatten sich Aasfresser zum Festmahl versammelt. Es stank erbärmlich und ich wünschte mir nichts sehnlicher als meinen SERUN zurück.

Osiris hielt sich ebenfalls den Arm vor die Nase. »Aktiviere den Prallschirm, dann ist es etwas erträglicher. Irgendetwas scheint die Philosophen aufeinander gehetzt zu haben. Mir scheint, sie wären alle auf einmal völlig ausgerastet.«

Ich nickte. »Genau das vermute ich auch. MODROR scheint hier perfider vorzugehen. Er beeinflusst die Bewohner und steckt sie mit seiner Mordlust an. Da ihre Kultur absolut friedlich ist, sind die Folgen umso verheerender.«

Icho Tolot war inzwischen gelandet und nahm die Leichen genauer unter die Lupe. Der Geruch schien ihm nichts auszumachen. Vielleicht hatte der Haluter auch einfach die Atmung eingestellt, denn dank seines Konvertermagens war er in der Lage, aus jeder Form von Materie die Stoffe zu ziehen, die sein Körper gerade benötigte – also auch Sauerstoff.

»Ich glaube, der hier lebt noch!«, rief er uns überrascht zu.

Sofort flogen wir zu ihm. Tatsächlich zuckte der Manjarde schwach. Er schien sich vor Schmerzen zu winden, angesichts seiner schweren Verletzungen kein Wunder. Es war schwierig zu schätzen, wann das Gemetzel stattfand, doch ich vermutete, dass er schon einige Zeit dort lag.

Ich versuchte ihn durch sanftes Rütteln wach zu bekommen. In der Tat schlug er die Augen auf und fixierte mich.

»Was ist passiert?«, fragte ich den Verletzten. »Was hat euch durchdrehen lassen?«

Der Manjarde stieß einen schrillen Schrei aus. Er sprang empor und versuchte mich mit seinen Krallen zu erwischen. Instinktiv wich ich zurück und aktivierte wieder das Prallfeld. Der Amokläufer traf es mit voller Wucht und fiel dann zu Boden.

»Tot«, sagte Osiris lapidar.

»Was ist hier nur passiert?«, fragte ich mit belegter Stimme. »Was ist so tiefgreifend, dass es die Manjarden sogar noch nach Tagen zu Amokläufern macht? Und warum sind wir davon nicht betroffen?«

»Das kann ich euch sagen«, vernahmen wir eine weibliche Stimme.

Überrascht blickte ich auf. Ein paar Schritte vor uns war eine Frau aufgetaucht. Niemand hatte sie kommen hören, sodass ich versucht war, an eine Teleportation zu glauben. Es handelte sich eindeutig um eine Terranerin. Ihre langen, dunkelblonden Haare umrahmten einen erotischen, etwa ein Meter siebzig großen Körper. Ihre braunen Augen fixierten meinen Blick. Mein fotografisches Gedächtnis lieferte sofort den passenden Namen.

»Sanna Breen!«, rief ich fassungslos.

Denise Joorn

Die junge Archäologin wanderte in ihrer Kabine auf und ab. Seit sie sich ihrer Liebe zu Alaska bewusst geworden war, hatte sie sich nicht mehr hinaus gewagt. Sie hatte derzeit viel zu viel Angst, ihm über den Weg zu laufen.

Ihr Magen wies mit einem energischen Knurren auf seine Unterbeschäftigung hin.

Sie seufzte. Früher oder später musste sie die Kabine wieder verlassen. Und sei es nur für einen Gang auf die Toilette, von der es im gesamten Trakt zu Denises Leidwesen nur eine einzige gab.

Sie setzte sich auf ihr Bett und spielte mit ihren Haarspitzen. Was war denn, wenn sie es einfach mal probierte?

Nein, das konnte nicht funktionieren!

Andererseits war Alaska bei ihrer ersten Begegnung auf SOLARIS STATION prompt rot angelaufen. Sie hatte ihn auch danach immer mal wieder dabei erwischt, dass er bestimmte Regionen ihres Körpers studierte. Aber eine Beziehung? Daran hätte sie nie im Leben gedacht. Obendrein war Alaska stets viel zu distanziert gewesen.

»Was mache ich nur?«, fragte Denise sich selbst. Ihre Stimme klang flehend. »Warum muss das Leben nur so kompliziert sein!«

Sie dachte an die Szene gestern zurück, als Alaska ihr in gedrückter Stimmung erzählt hatte, wie er den Zellaktivator und den Anzug der Vernichtung bekommen hatte. Dabei hatte er so natürlich, so menschlich, so nah gewirkt.

Sie strich mit den Außenseiten ihrer Finger ihren Oberschenkel entlang und stellte sich vor, es wäre Alaskas Bein, dass sie gerade streichelte. Als ihr diese Handlung bewusst wurde, zuckte ihre Hand zurück.

Denise stöhnte. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Sie begann, auf ihrer Unterlippe herumzukauen – eine Marotte, die sie immer dann überkam, wenn sie intensiv nachdachte.

»Ich kann doch nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert«, führte sie ihr Selbstgespräch fort. »Wie soll ich denn weiter mit Alaska umgehen? So tun, als wäre nichts passiert?«

Und zu ihm gehen und ihre Liebe gestehen? Nein, das war auch nichts. Sie würde einen Korb bekommen und noch verwirrter werden.

»Ich muss die Schmetterlinge im Bauch wieder loswerden«, machte sie sich klar. »Alles andere geht nicht.«

Zur Bestätigung ihrer eigenen Worte nickte Denise zuversichtlich. Dann flossen ihr die Tränen über die Wangen.

»Aber ich kann es nicht!«, schluchzte sie. »Denise Joorn, Archäologin, Expertin für das antike Ägypten – und jetzt ein flennendes, verknalltes Mädchen!«

Wenn man es genau nahm, hatte sie in ihrem bisherigen Liebesleben keinen allzu großen Erfolg gehabt. Ein paar kurze Beziehungen in ihrer Jugend, die aber eher ihrem pubertär bedingen Hormonüberschuss zu verdanken waren – und später dann Johannes van Kehm.

Bei der Erinnerung an ihren früheren Mentor krampfte sich ihr Innerstes zusammen. Sie war als Achtzehnjährige von zuhause ausgerissen, als ihre Spießer-Eltern sie mit einem langweiligen Snob zwangsverheiraten wollten. Johannes hatte sie unter seine Fittiche genommen und ihr Talent für die Archäologie gefördert. Natürlich waren sie irgendwann zusammen im Bett gelandet.

Damals war er die Liebe ihres Lebens gewesen, doch aus heutiger Sicht bezweifelte sie, dass sie wirklich jemals ernsthafte Gefühle für ihn gehegt hatte. So hatte sie sich auch immer weiter von ihm entfremdet, als sie nach und nach erkannte, dass van Kehm seine Expeditionen nach reinen Gewinnaussichten auswählte.

Für sie selbst hatte schon immer der wissenschaftliche Wert an erster Stelle gestanden, nicht der wirtschaftliche. Sie hatten sich getrennt und das Leben hatte sie erst wieder auf Seshur im Grab der Nephtys zusammengeführt. Dort war bereits klar geworden, dass Johannes van Kehm sie seit der Trennung hasste. Er hatte in der Folge mehrmals versucht, sie umzubringen.

Sie seufzte erneut. »Und jetzt suche ich mir ausgerechnet einen Zellaktivatorträger aus, und gerade den mit der kompliziertesten Psyche. Toll gemacht, Denise!«

Nein, ihre Mission blieb dieselbe. Sie musste mehr über Alaska herausfinden. Nur eben jetzt nicht mehr, um ihn zu trösten, sondern um zu ermitteln, ob es da überhaupt irgendeine Chance auf Erfolg gab.

»Dann wollen wir mal«, sprach sie sich selbst Mut zu.

Sie stand auf, wischte die Tränen weg und korrigierte ihr Make-up. Danach brachte sie ihre Haare in Form und zog ein bauchfreies Top mit tiefem Ausschnitt und einen knapp geschnittenen, hautengen Rock an. So ausgestattet, sollte sie an seiner Reaktion sofort erkennen können, ob es überhaupt Aussicht auf Erfolg gab.

Sie verließ ihre Kabine und machte sich auf den direkten Weg in die Zentrale. Energisch schritt sie an den Alyskern vorbei, deren männliche Vertreter sie mit eindeutigen Blicken verfolgten. Egal, sollten sie doch!

Vor dem Schott zur Zentrale atmete sie noch einmal durch, dann ließ sie den Durchgang aufgleiten.

Alaska Saedelaere war anwesend. Schlagartig legte ihr Herz einen Gang zu und ihre Knie wurden butterweich. Ihr brach der Schweiß aus und ein warmes Gefühl füllte ihren Bauch. Sie hatte das Gefühl, von einer Sekunde zur anderen nur noch halb so viel zu wiegen.

Dann sah Denise, wer neben dem Zellaktivatorträger stand: Nora! Wieder diskutierte er mit der Ortungschefin. Hatte die denn nichts anderes zu tun? Gab es hier überhaupt nichts zu orten? Denise stellte sich vor, wie sie gleich einer Katze ihre Fingernägel ausfuhr und diese genüsslich über das Antlitz der Alyskerin zog.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit bewegungslos im Eingang gestanden und die beiden angestarrt hatte. Einige andere Alysker blickten schon irritiert zu ihr herüber.

Was sollte sie ihm eigentlich sagen? Da ihre Fähigkeiten in der Zentrale nicht gefragt waren, hatte sie weder das Können noch einen anderen Grund, sich hier aufzuhalten. Sie wollte wieder auf ihrer Unterlippe kauen, aber sie unterdrückte den Reflex, um ihren Lippenstift nicht zu verwischen.

Ich kann ihn ja zum Essen einladen, dachte sie. Vielleicht habe ich Glück und er hat noch nichts gegessen. Außerdem ist die Kantine ja eh der Saal meines Schicksals.

Kaum hatte sie diesen Entschluss gefasst, schritt sie zu dem Träger von Kummerogs Haut. Sie bemühte sich, an seinem Gesicht vorbei zu blicken und Nora völlig zu ignorieren, als sie ihn ansprach.

»Alaska …«, begann sie, dann brach ihre Stimme ab. Ruhig atmen, Mädchen, ruhig!

»Oh, Denise!« Alaska wandte sich ihr zu und stutzte. »Du siehst phantastisch aus! Steht dir gut. In diesem Aufzug habe ich dich hier ja noch gar nicht gesehen.«

Wärme brodelte in ihrem Bauch empor, umfloss ihr Herz und brachte ihre Mundwinkel dazu, ganz von allein emporzusteigen.

»Ich wollte dich fragen …«, murmelte sie viel zu leise. Dann gab sie sich einen Ruck und schloss die Augen. Energisch, aber ihrer Meinung nach viel zu schnell und ohne Punkt und Komma sprach sie weiter. »Ich wollte dich fragen ob du mit mir in die Kantine kommen willst ich hab einen Bärenhunger …«

Als keine Antwort kam, öffnete sie zunächst das eine, dann das andere Auge. Alaska starrte sie nicht abweisend an, wie sie befürchtete, sondern er hatte sich Nora zugewandt. Denises Innereien gefroren zu Eis.

»Geh nur«, sagte Nora. »Ich wollte auch gleich etwas essen gehen. Ich mache nur noch kurz die Sachen hier fertig.«

Denise Joorn triumphierte. Nicht nur, dass Saedelaere tatsächlich mitkam – sie konnte auch noch mit ihm allein gehen!

Er wandte sich wieder ihr zu. Denise bemerkte, dass sein Blick automatisch zu ihrem Dekolleté wanderte. Sofort schoss ihm das Blut ins Gesicht und er sah in ihre Augen. Schnell blickte Denise weg. Herrlich …

»Na dann los!«, sagte er schüchtern.

Auf dem Weg zur Kantine bemühte sich Denise Joorn mit aller Macht, immer mindestens einen Meter Abstand zu ihm zu halten. Ebenso bemühte sie sich, gleichmäßig und langsam zu atmen und nicht zu ihm hinüber zu schauen.

Behalte deine Hände bei dir!, ermahnte sie sich. Ganz normal gehen! Nichts anmerken lassen!

Schließlich hatten sie die Kantine erreicht.

»Ich hole uns was«, flötete sie und eilte zur Essenausgabe. Sie unterdrückte den Reflex, vor Hochstimmung zu hüpfen.

Ich stecke so verdammt tief in der Scheiße, dachte sie ironisch, als sie das Tablett füllte. Das kann einfach nicht gut gehen.

An den Tisch zurückgekehrt, bedankte sich Alaska. Als er nach seinem Besteck griff, berührten sich ihre Hände, da sie das Tablett viel zu weit vorn hielt. Denise Joorn meinte, einen elektrischen Schlag zu bekommen. Als hätte sie sich verbrannt, zog sie ihre Hand zurück.

Er sah sie an und ihre Blicke trafen sich. Alaska wurde rot und auch sie spürte, wie ihr Gesicht warm wurde. Völlig synchron wandten sie sich ihrem Essen zu.

Einige Minuten aßen sie schweigend, dann sagte der Unsterbliche: »Vielen Dank für die Einladung. Darf ich im Gegenzug zahlen?«

Denise genoss das Gefühl des Löffels in ihrem Mund. Natürlich hatte sie für sich dasselbe Essen wie für Alaska geholt. »Wenn du es dir leisten kannst?«, fragte sie lächelnd zurück.

Er tätschelte mit seiner Hand ihren Unterarm. Die Stelle begann zu kribbeln. »Ach, das geht schon«, erklärte er mit übertriebener Ernsthaftigkeit.

Regte sich etwas in seiner Hose? Denise war sich relativ sicher, doch mit aller Gewissheit konnte sie es nicht sagen, denn sie konnte die Stelle nur aus den Augenwinkeln beobachten. Mit einem Rest von Vernunft sagte sie sich, dass sie wie ein pubertierender Teenager dachte, oder ein läufiges Kamel. War das schlimm? Aber nicht doch!

Sie schob das halb verzehrte Mahl von sich und lehnte sich zurück, auch wenn ihr Magen aufs Schärfste protestierte. In der neuen Position beugte sie ihren Oberkörper wie zufällig etwas weiter zu Alaska hinüber und drückte die Brust heraus. »Irgendwie habe ich keinen Hunger mehr. Ich glaube, ich werde wieder in meine Kabine zurückkehren. Wenn mir nur nicht so langweilig wäre …«

Alaska wurde schon wieder rot. Er ruckte auf seinem Stuhl herum und kam ihr dabei offenbar unabsichtlich ebenfalls näher. Denise gelang es, einen kurzen Blick auf seinen Intimbereich zu erhaschen. Nun war sie sich sicher, dass dort etwas angeschwollen war. Wie süß! Ihr wurde ganz warm.

Sie beugte sich zu ihm hinüber und visierte seine Ohrmuschel an. Er hatte wirklich ein wundervolles Ohr, nicht so ein riesiges und angespitztes Ding wie die Alysker, zum Beispiel diese unappetitliche Nora.

»Was hast du eigentlich heute noch vor?«, hauchte sie ihm genau in den Gehörgang.

Das kitzelte, wie Denise genau wusste. Blitzschnell zuckte sie zurück und brachte ihren Körper in Position. Tatsächlich hatte Alaska instinktiv versucht, ihren Kopf mit seiner Hand wegzudrücken. Eben diese Hand war jetzt perfekt auf ihrer Brust gelandet. Und er ließ sie liegen.

Sie starrten beide die Hand an. Dann hoben sie ihre Köpfe und ihre Blicke fanden sich ein weiteres Mal. Als Alaska wieder rot wurde, aber die Hand nicht wegzog, wurde sich Denise Joorn bewusst, dass sie gewonnen hatte. Ohne ihren Blick abzuwenden, ließ sie ihre Hand nach oben gleiten und umfasste Alaskas Arm. Sanft hob sie ihn von ihrem Ausschnitt. Gemeinsam wanderten ihre Hände nach unten auf Alaskas Lenden. Sie ließ ihre Fingerkuppen über die dort zu spürende Erhebung wandern.

»Oder wollen wir gemeinsam etwas Spaß haben?«, flüsterte sie ihm zu.

Langsam schob sie ihren Oberkörper in seine Richtung. Alaska ließ es reglos geschehen. Ihre Lippen fanden sich, und Denises Zunge ging auf Entdeckungstour.

Jetzt begann Leben in den Unsterblichen zu kommen. Seine Arme wanderten ihre Hüften nach oben, und dann ihren Rücken entlang.

Der Kuss schien eine Ewigkeit zu dauern. Denise genoss ihn und Alaskas Umarmung in vollen Zügen. Mehr und mehr schmiegten sie sich aneinander, bis sie schließlich auf Alaskas Schoß landete. Erst jetzt trennten sich ihre Lippen wieder, doch seine Arme ließ er dort, wo sie waren. Die junge Frau kuschelte sich in die Umarmung hinein.

»Ich …«, würgte Saedelaere sichtlich überfordert hervor. »Ich …«

»… nehme mir für den Rest des Tages frei, wolltest du wohl gerade sagen«, ergänzte die Archäologin lächelnd. Sie stand auf und nahm seine Hand. »Gehen wir zu mir oder zu dir?«

»Zu … äh … mir …«, stammelte der Unsterbliche hilflos.

Denise Joorn zog ihn mit sich. Wie ein Hund an der Leine tapste er hinter ihr her.

Auf dem halben Weg zur Kabine begann Alaskas Interkom zu piepen. Er wühlte irritiert in seiner Hosentasche herum.

»Nicht doch«, sagte Denise und umgriff seinen Arm. »Das ist eh nur Nora, die wissen will, wo du bleibst. Sie spielt sich ohnehin auf, als wäre sie das Oberhaupt der Alysker. Die kommt heute Nachmittag auch mal ohne dich aus.«

Er lächelte verlegen. »Nora ist das Oberhaupt der Alysker. Zumindest so lange, wie Eorthor nicht anwesend ist. Sie wurde von den Alyskern an Bord gewählt. Ist dir das nicht aufgefallen?«

Nein, das war es ihr tatsächlich nicht.

»Egal«, winkte sie ab. »Du hast dir den Rest des Tages frei genommen. Schon vergessen?«

»Stimmt!«

Beide lachten und hörten nicht auf, bis sie Alaskas Kabine erreicht hatten.

Alaska zögerte, bevor er den Öffner betätigte. Sein Finger verharrte einen Zentimeter über dem Knopf. »Mein Wohnraum ist etwas … schlicht.«

»Keine Sorge, das weiß ich schon«, rutschte es ihr heraus. Dann biss sie sich auf die Zunge. Verdammt!

Er starrte sie an. »Woher …? Du hast mir nachspioniert, stimmts?«

Denise schoss das Blut ins Gesicht. Mit aller Gewalt hielt sie die Tränen zurück.

Jetzt hast du alles mit einem einzigen unbedachten Satz zunichte gemacht!, fluchte sie innerlich. Kannst du nicht einmal dein loses Mundwerk hüten?

Sie versuchte zu retten, was zu retten war, und setzte auf Ehrlichkeit. »Nur ein wenig. Ich habe aber lediglich hineingeschaut und die Kabine nicht betreten.«

Saedelaere betätigte jetzt endgültig den Türöffner. Seine andere Hand wanderte um ihre Hüfte und kam auf ihrem Rücken zum Stillstand. Sanft zog er sie an sich heran. Widerstandslos ließ sie es geschehen.

»Dann sollte ich auch ehrlich sein«, eröffnete er ihr leise und führte sie zu seinem Bett. »Auf SOLARIS STATION habe ich nämlich dir nachspioniert. Ich fand dich vom ersten Augenblick an wunderschön und begehrenswert, aber nie hätte ich gedacht, dass eine so attraktive Frau wie du sich für einen Langweiler wie mich interessieren könnte. Daher habe ich dich die ganze Zeit aus meinen Gedanken verbannt.«

Der Archäologin blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. »Genau so gings mir auch!«, stieß sie atemlos hervor. »Was soll ein Unsterblicher wie du mit einem langweiligen Mädchen wie mir?«

Wieder lachten sie beide, ein wenig hysterisch. Alaska schloss die Tür. Seine Finger begannen, auf der Suche nach dem Öffnungsmechanismus ihren Rocksaum zu bearbeiten.

In kürzester Zeit hatten sie sich von ihrer Kleidung befreit und auf das Bett begeben, wo sie ihren Wünschen freien Lauf ließen. In ihrem Liebesspiel bemerkten sie nicht, wie um sie herum in NESJOR die Hölle ausbrach.

Leopold

»Er geht nicht ran!«, rief Jaques de Funés hilflos.

»Versuche es in der Zentrale!«, befahl Leopold. »Sie müssen unbedingt die Wächter warnen.«

Jaques sah ihn hilflos an, wandte sich dann aber doch wieder dem Interkom zu. Ein Alysker namens Orthir meldete sich.

»Roggle!«, stieß er hervor. »Wir haben ihn beobachtet. Er hat die Fernsteuerung für einen Roboter gestohlen.«

Das Gesicht des Alyskers nahm einen gelangweilten Ausdruck an. »Na und?«

»Er will Rodrom befreien!«, brüllte der Geschäftsmann. Leopold bemerkte, wie Jaques Zornestränen in die Augen flossen. »Wir konnten ein Gespräch belauschen. Aus irgendeinem Grund ist er in der Lage, mentalen Kontakt mit Rodrom aufzunehmen, obwohl dieser im Koma liegt.«

Nun trat doch etwas wie Unsicherheit in Orthirs Mimik. Er rang sichtlich mit sich, dann sagte er: »In Ordnung, ich stelle euch zu Nora durch.«

Beide atmeten auf. Zumindest hatten sie so etwas wie einen Etappensieg erreicht.

Das Bild der Alyskerin erschien auf dem kleinen Bildschirm.

»Habt ihr euren kleinen Spitzeldienst immer noch nicht aufgegeben?«, eröffnete sie ohne Begrüßung das Gespräch.

»Es stimmt!«, rief der Terraner. »Er muss von Rodrom genaue Anweisungen erhalten haben, was er zu tun hat. Vermutlich ist gerade in diesem Moment ein Roboter dabei, sich seinen Weg zu Rodrom zu bahnen.«

»Jetzt hört ihr mir mal zu!«, entgegnete die Ortungschefin ungehalten. »Alaska Saedelaere hat euch verboten, weiterhin euren paranoiden Wahnvorstellungen zu folgen. Selbst wenn es dem Vorjul gelingen sollte, einen Roboter zu kontrollieren, kann er damit keinen Schaden anrichten. Rodrom wird von ausgebildeten Sicherheitskräften bewacht und liegt unter fünfdimensionalen Schirmfeldern. Da kommt kein Roboter so einfach durch. Außerdem haben uns die Vorjul damals nur besiegen können, weil sie die Transmitter für unsere eigentlichen Feinde geöffnet hatten. Zu mehr sind die Zwerge nicht in der Lage. Ein einzelner Behinderter schon gar nicht. Und jetzt kehrt in eure Kabinen zurück und lasst mich in Ruhe!«

Die Alyskerin schaltete ab. Drückende Stille breitete sich im Führerstand der Fähre aus. Keiner der beiden wusste, was er sagen sollte. Eine beklemmende Hilflosigkeit hatte sie befallen.

Irgendwann hielt es Ler Ok Poldm nicht mehr aus. »Diese Arroganz! Wie kann man nur so verblendet sein? Ihr verdammter Hochmut wird sie irgendwann in den Untergang reißen!«

»Er hat sie bereits in den Untergang gerissen!«, stellte Jaques de Funés klar. »Erinnere dich an Eorthors Erzählung. Erst der Fluch der Unsterblichkeit, dann der Verlust ihres Heimatplaneten und nun war schließlich dieser klägliche Rest des einstmals mächtigen Volkes gezwungen, seine eigene Galaxie zu vernichten.«

Wieder schwiegen beide. Nach endlos langen Minuten, während Leo gleich einer Maschine Roggles Gleiter folgte, wurde er plötzlich stutzig. Da stimmte doch etwas am Weg des Zweiköpfigen nicht!

»Jaques, er fliegt gar nicht zu seiner Kabine zurück!«, wies er den Terraner auf seine Beobachtung hin. »Er hätte dort vorn links abbiegen müssen. Stattdessen fliegt er geradeaus weiter.«

»Tatsächlich«, musste sein Gegenüber zugeben. »Was hat er bloß vor? Rodroms Gefängnis liegt auf jeden Fall nicht in dieser Richtung.«

Jaques de Funés rief eine holografische Übersicht von NESJOR auf. Lange Minuten vertiefte er sich in der Darstellung der Nesjor-Station, dann stieß er einen überraschten Schrei aus.

Leopold zuckte zusammen. Er sah zu dem Geschäftsmann hinüber und bemerkte, wie dieser atemlos auf ein bestimmtes Detail im Plan deutete.

»Was ist dort?«, wollte er wissen.

»Die Kraftwerke!«, stieß der Terraner hervor. »Dort sind die Reaktoren von NESJOR untergebracht. Gigantische Aggregate von vielen hundert Metern Durchmesser! Dort wird die gesamte Energie für die Station erzeugt.«

Leo hielt vor Schreck die Luft an. »Er will NESJOR vernichten …«

Wortlos griff Jaques de Funés erneut nach dem Interkom.

Diesmal meldete sich Nora sofort. Ihr Gesicht war bleich und schweißbedeckt. Ihre Augen strahlten ein Entsetzen aus, das Leopold frösteln ließ.

»Ihr hattet recht!«, gab die Ortungschefin atemlos von sich. »Zumindest teilweise. Roggle hat nicht einen, sondern Hunderte von Robotern geschickt! Es gibt bereits viele Tote. Wir müssen davon ausgehen, dass inzwischen mindestens ein Roboter durchgebrochen ist und Rodrom geweckt hat. Habt ihr verstanden? Rodrom ist wach!«

Leo fing an zu zittern, und auch de Funés brauchte einige Augenblicke, um die Hiobsbotschaft zu verdauen.

»Roggle fliegt zum Kraftwerk«, stieß der Handelsvertreter schließlich aus. »Er will wohl den Reaktor überlasten.«

»Haltet ihn auf!«, rief Nora ihnen zu. »Ich versuche, Alaska Saedelaere zu erreichen. Leider antwortet er nicht …« Sie verstummte und blickte zur Seite. Offenbar berichtete ihr gerade jemand, der nicht im Erfassungsbereich der Optik war. Die Alyskerin wurde noch bleicher. »Ich habe gerade eine kurze Sequenz einer Überwachungskamera bekommen. Ich schicke euch diese auf euren Interkom. Kommentieren muss man das wohl nicht mehr. Viel Glück!«

Der Kopf der Alyskerin verschwand. Stattdessen war nun ein Korridor zu erkennen. Leopold und de Funés drängten sich dicht zusammen, um etwas auf dem winzigen Bildschirm wahrnehmen zu können. Die Wände des Ganges waren rußgeschwärzt. Offenbar waren die Roboter mit aller Gewalt vorgegangen. Einige Alysker hatten sich im Korridor verteilt und mehrere Leichen lagen auf dem Boden verstreut.

Plötzlich betrat eine markante Gestalt das Bild. Rodrom trug wieder seine rote Rüstung, mit der sie ihn auch gefangen genommen hatten. Einige Schüsse der Wächter prallten an seinem Schutzschirm ab. Er hatte sich einen Beutel umgehängt, der prall gefüllt war. Jetzt griff er hinein, um etwas herauszuziehen.

Leopold beugte sich nach vorn, um den Gegenstand erkennen zu können. War es eine Gabel? Dann ging alles blitzschnell. Rodrom schleuderte das Besteck von sich. Zielsicher traf die Gabel das Auge eines Alyskers und drang so tief ein, dass nur noch wenige Zentimeter aus der Haut ragten. Das Opfer war sofort tot. Als ginge ihn das alles nichts an, schritt Rodrom weiter und schlitzte einem weiteren Wächter, der ihm zu nahe gekommen war, mit einem Messer die Kehle auf. Dann verschwand die Inkarnation MODRORS aus dem Bild.

Ler Ok Poldms Magen drehte sich um. In letzter Sekunde konnte er eine Luke öffnen, dann übergab er sich in den Tunnel.

Jaques de Funés verzichtete darauf, diese Aktion zu kommentieren. Der Terraner starrte weiter wie gebannt auf den Interkom, obwohl der Bildschirm längst erloschen war.

»Er … er benutzt das Besteck, das Roggle geholt hat!«, stammelte er schließlich. »Feste Materie durchdringt einfache Schutzschirme, weil sie nur Energiestrahlen auffangen. Offenbar tragen die Wächter keine HÜ-Schirme oder Paratrons. Warum sollten sie auch? Oh Gott, wer konnte denn mit so etwas rechnen?«

Er blickte zu dem Somer hinüber. Seine Gesichtsfarbe war ins Aschfahle gewechselt.

»Er wird sie alle töten«, vermutete Leopold düster. »Wenn er erst einmal an richtige Waffen herankommt, wird ihn niemand mehr aufhalten können. Nun rächt sich, dass wir die Station nicht restlos unter Kontrolle haben. Hoffentlich erkennen das die Alysker auch und fliehen, solange sie noch können.«

De Funés schüttelte den Kopf. Tränen liefen seine Wangen herab. »Dazu sind sie zu überheblich. Sie werden sicher sein, ihn wieder einfangen zu können. Ich vermute, dass Nora mit ihren Leuten schon längst auf dem Weg ist, um ihn aufzuhalten.«

Leo klopfte hilflos mit den Fingernägeln auf seinen Schnabel. »Aber was können wir tun?«

Jaques’ Unterlippe bebte, als er antwortete. »Genau das, was Nora gesagt hat: Roggle aufhalten!«

Sie nickten einander zu.

Leopold starb innerlich fast vor Angst, doch er versuchte, es so gut es ging zu unterdrücken. Er scheiterte. »Aber wir haben doch keine Waffen!«, rief er dem Terraner zu.

»Roggle auch nicht«, antwortete dieser. »Außerdem ist er nur knapp über einen Meter groß und wir sind zu zweit. Kampferfahrung haben wir beide nicht, Roggle aber vermutlich ebenso wenig. Außerdem hat sein Doppelbewusstsein Schwierigkeiten, den gemeinsamen Körper effizient zu bewegen.«

Ler Ok Poldm und Jaques de Funés gaben einander die Hand, um sich Mut zu machen.

In Fahrtrichtung sahen sie, dass Roggle inzwischen sein Ziel erreicht hatte. Der Zweiköpfige hatte den Gleiter gelandet. So schnell es ihm möglich war, rannte er ins Innere des gigantischen Reaktors.

»Viel Glück!«, sagte der Terraner leise.

»Viel Glück!«, gab der Somer zurück. Er spürte, wie seine Knie zitterten. Nie in seinem Leben hatte er solch eine Angst verspürt. Er wusste wirklich nicht, ob sie den anstehenden Kampf überleben würden.

Dann setzte der Gleiter auf.

Atlan

Ich konnte es immer noch nicht fassen. Nur wenige Schritte von uns entfernt war die Terranerin Sanna Breen erschienen. Die dunkelblonde Frau blickte uns lächelnd an, als würden die unzähligen Leichen der Philosophen, zwischen denen sie stand, für sie nicht existieren. Sie schien zu warten, bis wir sie ansprachen.

Ich rief mir in Erinnerung, was ich über die Botin DORGONS wusste. Die bildhübsche, 1264 NGZ geborene Breen hatte einige Jahre als Model gearbeitet, was sie aber innerlich nicht ausgefüllt hatte. So hatte sie Militär- und Wirtschaftswissenschaften studiert und beide Studiengänge durch Promotion abgeschlossen.

Danach hatte die frisch gebackene Doktorin eine Stelle in der LFT-Flotte angenommen und sich durch einen kometenhaften Aufstieg schließlich zur Rechten Hand des LFT-Kommissars Cistolo Khan hochgearbeitet.

Zunächst durch diese Position sehr angetan, hatte die damals 27-Jährige sehr schnell erkannt, dass dieser Job nur der einer hübschen Sekretärin an der Seite des Regierungschefs war. So hatte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, zugestimmt, als dieser sie in die Flotte nach M 100 einschleuste. Bei der Expedition in die Galaxie Dorgon sollte sie den Silbernen Ritter Cauthon Despair im Auge behalten, dessen unmittelbar davor stattgefundene Wandlung vom Drahtzieher der Terrororganisation Mordred zur guten Seite Khan nicht traute.

Sanna hatte Cauthon Despair – seit einem schweren Unfall, der ihn verunstaltet hatte, an seine Rüstung gefesselt – näher kennengelernt. Eine enge Freundschaft hatte sich entwickelt, Despair hatte sich sogar in Sanna verliebt, doch sie war sich damals ihrer Gefühle nicht sicher und distanzierte sich.

Im Kaiserreich Dorgon schließlich war sie auf den jungen Dorgonen Valerus gestoßen, der sie ganz anders als der verschlossene, oft brutale Despair zu faszinieren verstand. Später hatte Valerus um ihre Hand angehalten, doch dies hatte wieder Despair auf den Plan gerufen, der Valerus eifersüchtig herausgefordert hatte.

In der Kampfarena der dorgonischen Hauptstadt Dom hatte der Silberne Ritter den Dorgonen zum Duell herausgefordert, was dieser nur allzu gern angenommen hatte. Sanna Breen, die nicht ansehen konnte, dass die beiden bedeutendsten Männer in ihrem Leben sich gegenseitig zerfleischten, stürmte in die Kampfarena, um die Duellanten zu stoppen. Despair – auf den Schwertkampf fixiert – hatte die Terranerin mit seiner langen Waffe getroffen und tödlich verletzt.

Damit schien sich das Schicksal der jungen Frau erledigt zu haben, doch sieben Jahre später war sie unerwartet wieder aufgetaucht – DORGON höchstpersönlich hatte ihr Selbst aus dem sterbenden Körper gerettet und so ihre Seele in sich aufgenommen. Dafür trat sie nun als Konzept des Kosmotarchen auf und tat gleich einem Herold das kund, was die Entität von ihr verlangte.

Offensichtlich hatten wir es jetzt wieder mit so einer Situation zu tun. Das letzte Mal, dass ich Sanna Breen gesehen hatte, war auf der Brücke in die Unendlichkeit gewesen, als sie uns den Weg ins Kreuz der Galaxien gewiesen hatte. Ich bemühte mich, in ihr nicht die hübsche Terranerin zu sehen, sondern DORGON, wegen dem wir hierhin gereist waren.

»Wie du sehen kannst, DORGON«, sprach ich so den Kosmotarchen auch direkt an, »sind wir deinem Hilferuf gefolgt und haben deine Welt erreicht.«

Breen nickte. »Es war klug von euch, nicht mit der gesamten Nesjor-Station in die Galaxie einzufliegen. Dies hätte die Einheimischen nur zusätzlich aufgewühlt. Ohnehin wird euch NESJOR nicht bei dem helfen können, was ihr zu tun habt.«

Osiris trat vor. »Und was sollen wir jetzt tun? Nicht, dass ich unhöflich erscheinen möchte, aber seit Monaten sind wir nun schon unterwegs, um endlich zu erfahren, was genau momentan geschieht und was wir dagegen unternehmen könnten.«

Schau an!, schickte ich innerlich schmunzelnd eine Nachricht an meinen Extrasinn. Der Kemete weiß offenbar nicht, dass man Entitäten alles ganz langsam aus der Nase ziehen muss!

Woher sollte er auch?, gab dieser zurück. Sein Volk hatte nur mit dem Kosmokraten AMUN zu tun, und den kann man als ausgesprochen mitteilsam bezeichnen …

Ja, dieser AMUN ist wirklich die löbliche Ausnahme, musste ich ihm zustimmen. Dagegen haben wir immer nur schlechte Erfahrungen gemacht. Egal ob ES, ESTARTU, die Kaiserin von Therm oder wie sie alle heißen – immer geben sie nur Bruchstücke von Informationen preis, und das auch nur, wenn man lange genug ihre Handlanger und Boten bearbeitet.

Nun gut, konterte der Extrasinn, aber du musst zugeben, dass dich diese Dienerin durchaus auch interessiert. Sein Lachen hallte durch meinen Kopf. Was mich veranlasste, ihn zu ignorieren.

»Prosperoh ist das Problem«, verkündete die Botin in diesem Moment mit leiser Stimme.

»Prosperoh?«, hakte ich nach. Der Name oder die Bezeichnung war mir völlig unbekannt. Ein kurzer Seitenblick in Tolots und Osiris’ Gesichter zeigte mir, dass es ihnen ebenso erging.

»Er … ist … ein … Virus!«, gab Sanna stockend von sich und brach unvermittelt zusammen.

Sofort war ich bei ihr. Zusammen mit Osiris richtete ich ihren Oberkörper wieder auf. Sanna war völlig bleich geworden. Ihre Bewegungen wirkten fahrig und sie schien uns nicht wahrzunehmen. Wäre sie kein Konzept DORGONS, hätte ich auf einen Schwächeanfall oder Schockzustand getippt. Ich ignorierte den Drang, ihr entsprechend zu helfen und sie in die Schocklagerung zu bringen.

»Wie … wie ist das möglich?«, fragte ich verständnislos in die Runde. »Sie ist doch gar nicht körperlich! Warum kann sie so schwach und ausgezehrt sein?«

»Es ist der Hass!«, stieß Osiris zwischen den Zähnen hervor.

Ich sah ihn irritiert an, woraufhin er weitersprach.

»Ich kann es deutlich spüren. Seid ihr dazu nicht in der Lage?«

Ein Seitenblick zu Icho zeigte mir, dass der Haluter ebenfalls nichts wahrnahm.

»Es kam wie eine Welle über mich«, zischte der Kemete. »Genau in dem Moment, in dem Sanna Breen zusammenbrach. Der Hass überkommt mich, drängt sich mir auf, schiebt sich in die Ritzen meines Geistes. Nur mein starker Wille hindert mich daran, nicht ebenso wie die Philosophen hier über euch herzufallen.«

Ich verstand. Offenbar war dieser oder dieses Prosperoh der schädliche Einfluss, der für das Massaker verantwortlich war. Blieb die Frage, inwiefern Prosperoh mit MODROR in Verbindung stand. Außerdem sollten wir darüber nachdenken, warum ich und Tolot gar nichts spüren konnten. Ich teilte Osiris meine Überlegungen mit.

»Das …« Sanna war wieder zu sich gekommen. Jedoch hielt sie ein Hustenanfall davon ab, den Satz fortzusetzen. Geduldig warteten wir, bis sie sich beruhigt hatte. »Das ist der Grund, warum ihr hier seid. Ihr seid die einzigen verfügbaren Helfer, die DORGON auf die Schnelle auftreiben konnte. Alle anderen würden dem Einfluss Prosperohs unterliegen. Von daher könnt nur ihr ihm helfen. Versteht ihr? DORGON liegt im Sterben! Der Hass frisst ihn innerlich auf. Er ist einfach zu gut, um sich dagegen wehren zu können!«

Ich erschauderte. »Und was stellt dieser Prosperoh nun genau dar?«

»Prosperoh war im Jahr 1296 NGZ der Herrscher über das Volk der Zechonen«, begann Sanna Brenn zu berichten.

Ich stutzte. Zechonen sagte mir was. Hatte nicht der Ritter der Tiefe Gal’Arn diesen Namen mal erwähnt? Ja sicher, seine zeitweiligen weiblichen Besatzungsmitglieder Jaquine und Anica waren Zechoninnen gewesen. Anica war später in den Dunstkreis von Uwahn Jenmuhs, dem Oberhaupt der Arkoniden in Cartwheel, geraten. Ich wusste allerdings nicht, was aus ihr und der anderen Angehörigen ihres Volkes geworden war.

»Rodrom hat Prosperoh und die anderen Zechonen«, führte Sanna hustend weiter aus, »für seinen Herrn vergeistigt und in den letzten Jahren zu Waffen umprogrammiert, um damit MODRORS Bruder zu infizieren.«

Ich verstand. Die beiden Kosmotarchen bestanden anscheinend wie ES aus vergeistigten Individuen. MODROR musste das Volk praktisch verdaut und in seinem Sinne umgewandelt haben. Nun war dieser »Brocken« irgendwie in DORGON gelangt und tat dort genau das, was ein medizinischer Virus in einem menschlichen Körper anrichtete. Deshalb nannte Sanna Breen ihn so.

»Prosperoh beeinflusst die anderen Bewusstseine in DORGON und steckt sie mit seinem Hass an«, sprach ich meine Überlegungen laut aus. »Und wir sollen ihn stoppen und den Prozess umkehren.«

Sanna Breen nickte.

»Also müssen wir ebenfalls ein Teil von DORGON werden, um ihn innerhalb des Kosmotarchen bekämpfen zu können«, stellte Osiris fest und bewies damit, dass er ähnliche Überlegungen angestellt hatte. »Ohne mich! Wenn ich auf so etwas Wert legen würde, hätte ich ja schon längst Teil von KEMET werden können!«

»Ich bin ebenfalls nicht bereit, meine Körperlichkeit aufzugeben«, stellte ich klar. Auch Tolot nickte.

Die Botin stand mühsam auf und schüttelte energisch den Kopf.

»Nein, nein«, widersprach sie mit schwacher Stimme. »Ihr müsst eure Körperlichkeit nicht aufgeben. Ihr müsst lediglich für die Zeit eures Kampfes Teil von DORGON werden. Danach werdet ihr selbstverständlich in die engen Hüllen zurückkehren, die ihr eure Körper nennt.«

Spätestens der letzte Satz bohrte sich wie ein Dolch in mein Herz und bewies, dass das hübsche Ding vor uns nichts mehr mit einem Menschen gemein hatte. Umso energischer lehnte ich ab.

»Perry Rhodan war im Jahre 3588 für wenige Minuten Teil von ES gewesen. Ihn hatte das so stark beeindruckt, dass er kaum in das normale Leben zurückfand und sogar alte Traditionen über Bord warf – etwa die Zeitrechnung oder große Teile der Gesellschaftsstruktur!«

Mit Unbehagen erinnerte ich mich an die ganzen neuen Umgangsformen, die ich nach meiner langen Zeit als Orakel von Krandhor bei der Rückkehr in die Milchstraße lernen musste. Wäre ich dabei gewesen, hätte ich dem Primitivling solche Flausen schon aus dem Kopf getrieben. Aber über vierhundert Jahre später war es für solche Überlegungen zu spät gewesen.

Mit Unbehagen dachte ich an meine Zeit als Orakel zurück. Auch das war streng genommen eine Form von Körperlosigkeit gewesen. Jahrhunderte lang hatte ich geschlafen und im Traum unbewusst ganze Völker regiert. Unbehaglich blickte ich zu Osiris. Der Kemete hatte Ähnliches erlebt und war deshalb von dem Plan ebenso wenig angetan.

Sanna fixierte mich. Ihre braunen Augen schienen mich zu durchdringen. Die Frau wirkte so schwach, dass ich sie am liebsten in die Arme genommen und getröstet hätte. Ich versuchte, mich dieser weiblichen Beeinflussung zu entziehen.

»Bitte … Ich sterbe!«, hauchte sie schlicht und in mir krampfte sich etwas zusammen. Mühsam hielt ich die Tränen zurück.

Narr!, zischte der Extrasinn, doch er und ich wussten bereits, dass ich verloren hatte.

Ich seufzte ergeben. »Was müssen wir tun? Welche Garantien haben wir?«

Osiris funkelte mich wütend an, aber in Sannas Gesicht kehrte ein schwaches Lächeln zurück.

»Ihr müsst euch auf euch selbst konzentrieren«, sprach sie eindringlich. »Ihr seid eben kein Teil von DORGON und dürft es auch niemals werden! Nur so könnt ihr das tun, was DORGON selbst nicht kann – den Virus Prosperoh besiegen und damit DORGON das Leben retten! Sobald ihr euch erst einmal angepasst hättet, wärt ihr genauso vom Pazifismus DORGONS durchdrungen und damit nicht mehr in der Lage, des Problems Herr zu werden. Genau aus diesem Grund müsst ihr es tun. Niemand kann euch dabei helfen!«

Diesen Argumenten konnten sich jetzt auch die anderen beiden nicht mehr verschließen. Nur durch kurzes Nicken gab mir Osiris zu verstehen, dass er einverstanden war. Auch Icho Tolot gab seine Zustimmung. Ich nahm an, dass er zunächst alle Möglichkeiten in seinem Planhirn durchgerechnet hatte, bevor er seine Entscheidung traf.

»Folgt mir!«, trug uns Sanna Breen auf, kam auf die Füße und machte sich auf den Weg in den Tempel.

Sie wirkte immer noch sehr schwach und war wackelig auf den Beinen. Ich eilte zu ihr und sie hakte sich bei mir unter. Ihr dankbarer Blick bewies mir, dass sie die Stütze durchaus nötig hatte. Prosperoh schien DORGON wirklich schon sehr geschwächt zu haben, wenn es bereits so stark auf seine Inkarnationen übergriff.

Auch das Innere des Tempels war übersät von Leichen. Die kaum vorhandenen Fenster und die tropischen Temperaturen hatten bereits starke Verwesung einsetzen lassen. Der süßliche Geruch brachte mich beinahe um den Verstand, und an Sannas Seite konnte ich nicht das Prallfeld aktivieren, das mir den übelsten Geruch vom Leibe halten würde.

Das regenbogenfarbene Schimmern um Osiris bewies mir, dass der Kemete eben dies getan hatte. Er wirkte völlig in sich gekehrt und sehr mit sich selbst beschäftigt. Die Aussicht, wieder in eine Situation zurückkehren zu müssen, wie er sie Jahrtausende lang in seiner Hibernationskammer unterhalb der Großen Pyramiden von Gizeh ertragen hatte, schien ihn nicht gerade glücklich zu machen.

Sanna Breen blieb stehen. Das Konzept DORGONS hatte uns in eine geräumige Kammer geführt. Einige Spalten in der Decke spendeten diffuses Licht. Mehrere steinerne Liegen oder auch Altäre waren in dem Raum in Reihen angeordnet. Ich stellte erleichtert fest, dass zumindest hier keine Leichen lagen, sogar die Luft war einigermaßen erträglich. Auch schien das spärliche Inventar dieses Raumes, im Gegensatz zu den Gängen davor, unbeschädigt zu sein.

»Legt euch dort hin und versucht, in euch zu blicken und euch zu konzentrieren. Falls ihr Meditationstechniken beherrscht, wendet diese an, um euch zu entspannen. Ich werde jetzt das Tor nach DORGON öffnen.«

Ich legte mich wie angewiesen auf den kühlen Steinaltar, schloss die Augen und konzentrierte mich auf mein Selbst.

Eine Reise jenseits aller Vorstellungskraft begann.

*

Rodrom hieb auf die Kontrollen der Raumfähre. Er lachte und lachte.

»Endlich habt ihr das bekommen, was ihr verdient habt«, zischte er vor sich hin. »Alysker, ihr seid erbärmlich. Oder sollte ich sagen, ihr seid erbärmlich gewesen

Wieder bekam er einen Lachanfall.

Als die Raumfähre den Hangar verlassen hatte, schaltete er auf Autopilot und verließ die Zentrale. Einen besonderen Leckerbissen hatte er sich aufbewahrt.

Nora war an ein Gestänge in einer Unterkunft des Alysker-Schiffes gefesselt. Offenbar war sie gerade aus der Betäubung erwacht, denn die Ortungschefin blickte zu ihm auf, als er die Kabine betrat. Sie kauerte sich zusammen und wurde bleich vor Angst. Ihre Knie zitterten, wie Rodrom zufrieden feststellte. Er bemerkte, dass die devote Stellung ihm neues Leben einhauchte.

Der Rote Tod begann, seine Körperlichkeit nun doch zu genießen. Er packte vor den Augen der Frau einige der Spielzeuge aus, die er fantasievoll aus Roggles Besteck gebastelt hatte. Dann strich er liebevoll über die Klingen der Messer.

»Wir werden jetzt sehr viel Spaß miteinander haben«, sagte er zu der vor Angst völlig gelähmten Frau. »Wie heißt du?« Behutsam griff er unter ihr Kinn, hob ihr Gesicht, so dass sich ihre Blicke trafen. »Du musst dich doch nicht vor mir fürchten.«

Einen Lidschlag lang weiteten sich ihre Augen. Herrlich, er konnte es noch. Jetzt würde er ihr Vertrauen gewinnen und sie genussvoll zerstören. Schön genug war sie, eine würdige Gefährtin seiner Lust.

Ihre Schreie gellten durch das kleine Raumschiff, wurden zu einem Wimmern und verklangen nach endlos langen Stunden. Nur das lustvolle Stöhnen Rodroms war noch zu vernehmen.

Als er völlig befriedigt inmitten ihrer Leichenteile lag, sich von ihrem Unterleib erhob, zog er noch mal ihren Kopf an den Resten ihres langen Haares hoch. Er labte sich am Anblick des vor Schmerzen weit geöffneten linken Auges, das er ihr gelassen hatte. Gelassen brachte er den Schädel zum Schaukeln.

»Und jetzt, meine Liebe«, sprach er zu dem abgetrennten Kopf, »werden wir nach Aykon fliegen und noch mehr Spaß haben …«

Eine phantastische Reise

Atlan

Ich schob meinen Rücken in eine bequemere Stellung. Der Steinaltar, auf dem ich lag, war alles andere als gemütlich. Noch immer wusste ich nicht so recht, ob es das Richtige war, was wir im Begriff zu tun waren. Sanna Breen hatte uns gebeten, Teil von DORGON zu werden, um den durch Prosperoh und sein Volk der Zechonen ausgelösten schlechten Einfluss einzudämmen.

Ich seufzte leise. Teil von DORGON werden – dank meines fotografischen Gedächtnisses konnte ich mich an unzählige Begegnungen mit Menschen erinnern, die Teil einer Entität geworden waren und damit ihr Menschsein aufgegeben hatten. Sanna Breen, Perry Rhodan …

Mach nur so weiter, am besten verfalle noch in den Erzählzwang!, brachte mich mein Extrasinn zur Vernunft. Damit erreichst du ganz sicher, dass dir diese Reise erspart bleibt!

Ich würgte die Erinnerungen ab. Mein Logiksektor hatte recht. Selbst wenn mir die Aussicht nicht passte, blieb Icho Tolot, Osiris und mir doch nichts anderes übrig, als DORGON zu unterstützen und damit die Gefahr durch MODROR abzuwehren. DORGON war einfach zu gut und zu pazifistisch, um sich selbst helfen zu können. Daher musste er sich externe Hilfe suchen.

Ich zwang mich, gleichmäßig und ruhig zu atmen. Zusätzlich wandte ich einige Dagor-Techniken an, um mich komplett zu entspannen. Der unbequeme Untergrund war unwichtig – und damit vergessen. Der Geruch nach Verwesung, ausgelöst durch die vielen Leichen da draußen in den Gängen – vergessen. Der leichte Durst, der sich in meiner Kehle festgesetzt hatte – vergessen.

Urplötzlich begann es. Ich fühlte mich empor gerissen und in den Himmel katapultiert. Ich wollte die Augen aufreißen, doch da war nichts, was ich hätte sehen können. Hilflos wollte ich den Mund zu einem Schrei öffnen, doch da war nichts, mit dem ich hätte schreien können. Um mich herum war überhaupt nichts. Ich war überhaupt nichts. Nur das Gefühl der rasend schnellen Bewegung erfüllte mich.

Nach nur wenigen Augenblicken fand ich mich in einer weiten Savanne wieder. Ich tastete unwillkürlich nach meinem Körper, doch alles schien an seinem Platz zu sein.

Schnell erhob ich mich und schaute mich um. Unweit von mir lagen Icho Tolot und Osiris und begannen, sich zu regen. Etwas entfernt standen mehrere knorrige Bäume, hohes Gras – und einige Elefanten und Zebras!

Ich begann, an meinem Verstand zu zweifeln. Nach allem, was ich hier erkennen konnte, befanden wir uns eindeutig inmitten einer afrikanischen Landschaft und damit auf der über 187 Millionen Lichtjahre entfernten Erde, nicht mehr auf Aykon.

Innenillustration: Atlan und seine Gefährten in DORGON von John Buurman
Atlan und seine Gefährten in DORGON © John Buurman

Icho Tolot hatte seine drei Augen ausgefahren, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. »Was geht hier vor sich?«, stellte er die alles entscheidende Frage.

»Willkommen in DORGON!«

Ich wirbelte herum. Völlig unvermittelt war Sanna Breen aufgetaucht. Die hübsche, dunkelblonde Frau schien erneut mitten unter uns teleportiert zu sein. Ich zwang mich, mir wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass sie nur noch ein Konzept DORGONS und keine Terranerin aus Fleisch und Blut mehr war.

»Dies ist Afrika«, stellte ich fest und fixierte sie. »Wie ist das möglich?«

Sanna lächelte. »Ihr täuscht euch. Das hier ist nicht Afrika, sondern ihr befindet euch in einer der vielen Welten, die DORGON für seine Einwohner geschaffen hat. Ihr könnt immer dort sein, wo ihr wollt.«

Während ihrer letzten Worte wechselte die Umgebung abrupt. Wir standen auf einem Balkon und überblickten eine gigantische Stadt. Unmengen von Gleitern schoben sich in verschiedenen Fahrebenen durch die Hochhäuser.

Unmittelbar vor uns befand sich ein fünfhundert Meter hohes Gerüst aus Terkonit-Stahl. Lichtblitze, Farbflimmern und Spiegel tauchten den Turm in ein verwirrendes Farbspiel. Weiter oben konnte ich mehrere Aussichtsplattformen ausmachen. Dieses Bauwerk kannte ich seit Jahrhunderten – es war der Kybernetische Turm! Also waren wir in Terrania!

»Ich habe früher immer gern hier gestanden und den Turm betrachtet«, erzählte Sanna. »Mittlerweile mag die Solare Residenz das offizielle Wahrzeichen Terranias sein, doch für mich war es immer der Kybernetische Turm.«

Sanna Breen hat euch hierhin geführt, weil dieser Ort in ihrem früheren Leben eine besondere Bedeutung hatte, stellte mein Extrasinn fest.

»Du kannst dich als Bestandteil DORGONS also nach überall, wohin du möchtest, versetzen lassen?«, fragte ich die Terranerin.

Sie winkte ab. »Dies ist nicht das richtige Terrania, sondern nur ein Abbild, das durch die Gesamtheit der Konzepte erschaffen wurde. DORGON hat auch viele andere Völker in sich aufgenommen. Es gibt hier Regionen, die wie die Heimatplaneten der Dorgonen, der Saggittonen oder von Völkern aus der Milchstraße aussehen. Aber die Umgebung ist nicht alles hier, selbst das eigene Aussehen und die eigenen Fähigkeiten kann man ändern.«

Wie auf Kommando wurden wir wieder in eine fremde Wirklichkeit gerissen. Gigantische Pilze ragten um uns herum empor. Kleine Wesen mit libellenartigen Flügeln flatterten um die zahlreichen Blüten herum, deren Duft uns betörte.

Sanna Breen lachte übermütig und ließ aus ihrem Rücken ebenfalls ein paar dieser filigranen und durchscheinenden Flügel wachsen. Obwohl es physikalisch völlig unmöglich war und wir nicht den geringsten Lufthauch spüren konnten, versetzte sie ihre Flügel in Bewegung und flog ein paar Runden um die Pilze herum. Mir erschien es faszinierend, die eigene Lebensfreude so präsentieren zu können.

Schließlich kehrte Sanna zu uns zurück. Ihre Flügel schwangen noch einmal, dann hatten sie sich im Bruchteil einer Sekunde in Luft aufgelöst.

Osiris, der bisher geschwiegen hatte, meldete sich zu Wort. »Ich habe mir gerade intensiv vorgestellt, dass ich auf Kemet wäre. Aber nichts ist passiert.«

»Ihr könnt eure Umwelt nicht beeinflussen«, erklärte Sanna, »weil ihr kein Teil von DORGON seid.«

Ich nickte. Offensichtlich hatte die Entität tatsächlich Wort gehalten und uns nicht völlig assimiliert.

»Trotzdem will DORGON euch zeigen, wie es ist, zu ihm zu gehören«, fuhr sie fort. »Nehmt dies als kleines Dankeschön für eure Arbeit entgegen und schaut, wie schön es ist, Teil von DORGON zu sein!«

Bevor ich den Sinn dieser Worte erfassen konnte, wurde es dunkel um mich und ich hatte wieder das Gefühl, mich rasend schnell zu bewegen.

Glücksmomente

Osiris

Der Kemete fand sich übergangslos völlig allein in einer weiten Landschaft voller Seen und Wälder wieder. Er brauchte keine Sekunde, um sich klarzuwerden, wo er sich befand. Sein Blick suchte und fand Gebäude, die sich perfekt in die Landschaft einfügten. Er ließ seine Augen über die Straßenzüge wandern und erspähte schließlich eine große Pyramide, wie er es erwartet hatte.

»Du hast mich nach Hause geschickt, Sanna«, murmelte er vor sich hin. »Wie lange habe ich Atum und die Amun-Ré Pyramide schon nicht mehr erblickt.«

Er ignorierte den rationalen Gedanken, dass dies alles nur eine Illusion und nicht die Wirklichkeit war, und machte sich auf den Weg zur Pyramide. Auf dem Weg verglich er jedes Detail mit seiner Erinnerung – und konnte nicht einen einzigen Widerspruch entdecken. Mehr und mehr überkam ihn das Gefühl, wirklich auf seiner Heimatwelt Kemet zu sein.

Nach wenigen Minuten hatte er die Pyramide erreicht. Mit einer Kantenlänge von 3000 Metern und einer Höhe von 1852,35 Metern war sie nicht nur das mit Abstand größte Gebäude der Hauptstadt Atum, sondern auch das Zentrum des einstigen Sternenreiches der Kemeten. Jetzt, wo sich die letzten Kemeten mitsamt ihrem Sonnensystem in eine Hyperraumblase zurückgezogen hatten, wirkte dieses Zeichen einstiger Macht ein wenig archaisch, doch solche Gedanken ließ Osiris gar nicht erst aufkommen.

Als er sich dem Eingang näherte, entdeckte er, dass er dort von jemandem erwartet wurde. Zunächst sicher, dass es sich dabei nur um Sanna Breen oder Atlan handeln könnte, stellte er beim Näherkommen fest, dass diese Gestalt keinen humanoiden Kopf aufwies.

Auf den Schultern des ansonsten völlig menschlichen Körpers befand sich etwas, das man am ehesten noch mit dem Kopf eines irdischen Esels vergleichen konnte. Wild stand das schwarze Fell in alle Richtungen ab. Die rotgelben Augen darin schienen, Osiris zu verhöhnen.

»Seth!«, zischte Osiris abfällig, als er auf Sprechweite herangekommen war. »Dich hätte ich hier am wenigsten erwartet, Mörder!«

Als der Angesprochene sich in Bewegung setzte, nahm Osiris instinktiv Kampfstellung ein, doch sein intriganter Bruder tat etwas, mit dem Osiris nie gerechnet hätte – er fiel vor ihm auf die Knie.

»Vergib mir«, flehte Seth. »Ich weiß, dass ich viel Unheil gebracht habe und bereue alles.«

Osiris lachte auf, doch keine Freude lag darin. »Du hast nicht nur Unzählige unseres Volkes getötet, sondern auch deiner eigenen Frau den Zellaktivator geraubt, das Volk der Seshuren verraten, uns selbst nach Terra verbannt und mich für dreißigtausend Jahre in die Tiefschlafkammer gesperrt. Nein, du hast selbst danach noch keine Reue gezeigt und du hättest mich getötet, wenn mir DORGON nicht geholfen hätte. Und jetzt soll ich dir vergeben?«

Osiris war mit jedem Satz etwas lauter geworden. Die letzten Worte hatte er geschrien. Seth hingegen war bei jedem Wort zusammengezuckt wie unter einem Peitschenschlag.

»Du weißt, dass mich die Superintelligenz Seth-Apophis beeinflusst hat«, begann er.

»Seth-Apophis gab es bei unserer Wiedererweckung vor einigen Jahren aber nicht mehr!«

Seth ließ ein gequältes Jaulen vernehmen. »Ich … ich … ich habe es nicht ertragen, Nephtys getötet zu haben und wollte einfach nur Rache.«

»Den Tod von Nephtys hast allein du zu verantworten! Wie konntest du nur so etwas Widerliches tun und ihr den Zellaktivator abnehmen?«

»Sie hat ihn mir freiwillig gegeben!« Seth heulte weiter und wand sich auf dem Boden. »Mir war mein eigener gestohlen worden und ich wollte ihr nur helfen. Alles auf Seshur ist schief gegangen, alles!«

»Das ist auch gut so. Wenn Apophis und du eure schändlichen Pläne hättet durchführen können …«

»Das war alles Apophis gewesen!« Die Tränen flossen Seth inzwischen in schneller Folge in sein Kopffell. »Er hat mir bewiesen, dass mein Leben auch etwas wert ist und wir für Seth-Apophis einen Auftrag erfüllen können. Ich habe mich immer nur minderwertig gefühlt.« Er riss seinen Kopf hoch, suchte Osiris’ Blick und umfasste seine Nüstern mit den Händen. »Schau mich doch an! So eine Missgeburt.«

Osiris musste schlucken. So hatte er seinen Bruder noch nie reden hören. Verzweifelt suchte er nach einer passenden Antwort, doch Seth sprach bereits weiter.

»Apophis hat mir erzählt, dass du mit Nephtys Anubis gezeugt hast, weil meine Gene zu minderwertig sind.«

Osiris fühlte sich überrumpelt. »Das stimmt so nicht«, stammelte er. »Es stimmt, dass mein Sperma für eine künstliche Befruchtung benutzt wurde, aber ich hätte sie nie angerührt.«

»Und deshalb soll ich dich nicht hassen?«, fragte Seth verzweifelt.

Osiris ging nun ebenfalls in die Hocke und legte Seth seine Hände auf die Schultern. »Hat dir Apophis nie erzählt, dass du aufgrund deiner teilweisen Abstammung von Hersi’Thor unfruchtbar bist?«

Seths Mund bebte. Er schien etwas sagen zu wollen, brachte aber nichts über die Schnauze.

Osiris bemerkte, wie Seths tiefe Traurigkeit auf ihn übergriff. Letztendlich war er doch immer noch sein Bruder, egal was er getan hatte. Und er war immer noch ein Kemete, ob nun zur Hälfte Hersi’Thor oder nicht. Seth war immer Stolz gewesen, ein Kemete zu sein, und hatte sich auch dem Himmelfahrtskommando angeschlossen, mit dem sie sich letztendlich die Zellaktivatoren verdient hatten.

»Ich vergebe dir«, flüsterte Osiris Seth zu, dessen Augen ihn nur zu verschlucken schienen. »Ich vergebe dir, Bruder.«

Seth stieß ein weiteres Jaulen aus und Osiris konnte nicht anders, als ihn in die Arme zu nehmen und fest zu drücken. Nie in seinem Leben hatte er sich so erfüllt gefühlt.

»Das genügt«, vernahm er die Stimme Sanna Breens in seinem Rücken und Seth in seinen Armen löste sich in Luft auf. Bevor Osiris sich dessen völlig bewusst werden konnte, versank seine Umgebung in Dunkelheit und nur das Gefühl endlosen Fallens blieb.

Atlan

Eben noch war diese völlige Dunkelheit um mich gewesen, nun befand ich mich übergangslos in einem Raumschiffskorridor unmittelbar vor einem geschlossenen Schott.

»Die Dame ist bereit, Sie zu empfangen, Sir.«

Ich blickte mich überrascht um. Neben mir stand ein hochgewachsener Terraner. Mein fotografisches Gedächtnis brachte sofort seinen Namen in mein Bewusstsein: Sergeant Dowen Connery. Neben ihm standen zwei Terranerinnen in Mannschaftsdienstgraden, die mit Paketen beladen waren.

Plötzlich wusste ich, wo und wann ich mich befand. Ich sah, wie sich Dowens Hand der Schaltfläche neben dem Schott näherte, mit der man sich als Besucher ankündigen konnte. Genau dieselbe Geste hatte ich vor Jahrtausenden schon einmal gesehen.

Das Schott schwang auf, und dann stand sie vor mir. Sie trug eine Montur, die aus einem einzigen Stück metallisch schimmernden Stoff zu bestehen schien. So eng, dass kein Detail ihres schönen Körpers verborgen blieb.

Ihr pechschwarzes Haar hatte sie glatt zurückgekämmt und im Nacken zu einer kunstvollen Frisur verflochten, die ihr bis zu den Schultern reichte. Ihr Gesicht trug eurasische Züge und war in seiner Schönheit so perfekt, wie man es vielleicht nur einmal unter Millionen von Menschen bewundern konnte. Ihr Mund war groß und von vollen, roten Lippen umrahmt. Die dunklen Augen nahmen mich vollkommen gefangen.

»Vergessen Sie nicht, meine beiden Begleiter ebenfalls zu dieser Besprechung einzuladen«, sagte sie statt einer Begrüßung auf Tefrodisch.

»Ich beuge mich Eurem Wunsch, Maghan«, entfuhr es mir wider Willen.

Narr!, rief der Extrasinn mir zu. Diese Szene hat sich vor vielen Jahrtausenden abgespielt und ist Vergangenheit. DORGON hat in deinen Erinnerungen gewühlt und gibt dir genau das, was du sehen willst.

Aber es ist schön!, entgegnete ich zornig. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, sie noch einmal erblicken zu können.

Meine Füße bewegten sich ganz von allein nach vorn. Mein Herz schlug plötzlich viel, viel schneller und meine Körpertemperatur schien spontan um mindestens fünf Grad gestiegen zu sein. Die Härte zwischen meinen Beinen nahm mein Bewusstsein in Beschlag. Ohne zu irgendeiner anderen Aktion fähig zu sein, nahm ich die Tefroderin in die Arme und küsste sie.

»Mirona Thetin, wie habe ich dich vermisst«, hauchte ich ihr ins Ohr.

Sie schmiegte sich an mich. Die anderen anwesenden Personen waren völlig vergessen.

»So hat es begonnen, Atlan«, flüsterte sie und gab mir einen weiteren Kuss. »So hätte es auch weitergehen können, wenn du mich nicht getötet hättest.«

Ich umfasste ihre Schultern und drückte sie auf Armlänge von mir, damit ich ihr in die Augen sehen konnte.

»Ich musste es tun«, sagte ich und bemerkte, wie mir die Tränen in die Augen flossen. »Du warst Faktor I der Meister der Insel. Du hast so viel Leid verursacht, dass man es kaum erfassen kann.« Ich stockte und versuchte, dem Kloß im Hals Herr zu werden. »Und doch kann ich nicht anders, als dich immer noch zu lieben. Selbst nach all der langen Zeit …«

Sie entwand sich mir und schritt zu der Picknickdecke, die sie unter den Bäumen ausgebreitet hatte. Dabei zeigte sie mir dieses bezaubernde Lächeln, das ich auch ohne fotografisches Gedächtnis nie vergessen hätte. Nicht eine Sekunde wunderte ich mich darüber, dass wir uns plötzlich auf einer sonnendurchfluteten Waldlichtung und nicht mehr an Bord der IMPERATOR befanden.

Dies ist nur eine Illusion, mit der DORGON dich zu manipulieren versucht!, stach der Extrasinn erneut in meine Gedanken, doch ich ignorierte ihn.

»Wie geht es nun weiter?«, fragte ich Mirona.

Sie reichte mir ein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit. Ich zögerte nicht eine Sekunde. Das Getränk schmeckte vorzüglich.

»Du hast mich damals auf Tamanium gebeten, als Herrscherin über Andromeda abzudanken und mich für meine Taten zu verantworten. Ich hatte das abgelehnt, weil ich mir meiner Macht zu sicher war. Ohne diesen Trick mit dem Speer hättest du mich auch nie besiegen können.«

Sie schmunzelte und ich konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern.

»Nun, heute weiß ich, dass dieser Weg falsch war«, sprach sie weiter. »Meine Herrschaft – obwohl über dreißigtausend Jahre gefestigt – war nach dem Auftauchen der Terraner nicht mehr zu halten. Die Zeitreise, um ihren Aufbruch zu den Sternen zu verhindern, funktionierte nicht. Aber selbst wenn es geklappt hätte, so hätte ich nie Andromeda gegen Eindringlinge von außen verteidigen können.« Sie sah mich beschwörend an. »Mein Reich war zu sehr auf Gewalt gebaut – früher oder später wäre es vorbei gewesen.«

Ich nickte. Diese Worte passten zwar nicht im Geringsten zu der skrupellosen Mirona, die ich kennengelernt hatte, aber genau zu der Mirona, in die ich mich verliebt hatte.

»Es hätte zwischen uns klappen können«, flüsterte ich und nahm einen weiteren Schluck.

Sie lächelte wieder. »Zwei Unsterbliche mit der Lebenserfahrung von Jahrtausenden – auch oder gerade in Liebesdingen.«

Meine Hand fuhr automatisch in ihren Ausschnitt, ihre Hand suchte und fand meine Hosenknöpfe. Wir schmiegten uns immer weiter aneinander, während wir uns entkleideten.

»Das genügt«, vernahm ich plötzlich die Stimme Sanna Breens hinter mir. Genau in diesem Moment griffen meine Hände, die gerade den üppigen Busen Mirona Thetins liebkost hatten, ins Leere. Die Umgebung versank in Dunkelheit und nur das Gefühl endlosen Fallens blieb.

Icho Tolot

Als sich Icho Tolot seiner Umgebung wieder bewusst wurde, befand er sich in einer großen Lagerhalle. Direkt vor ihm lag ein Haluterkind. Sofort ging er in die Hocke, um es zu untersuchen. Er atmete unbewusst auf, als er feststellte, dass alles in Ordnung war. Von der Größe her musste es ein Neugeborenes sein. Irritiert schaute er sich um, ob ein anderer Haluter in der Nähe war, der als Elter in Frage kam.

»Wir müssen weg!«, vernahm er eine laute Stimme aus dem Nebenraum. Tolot erkannte die Stimme von Alaska Saedelaere.

»Noch ein paar Minuten!«, schrie Gucky zurück. Gucky?

»Versuche, sie aufzuhalten.«

Tolot war nun völlig irritiert. Er zog sein Planhirn zurate, kam aber nur zu dem Schluss, dass DORGON ihm offensichtlich etwas zeigen wollte.

Behutsam nahm er den neugeborenen Haluter in die Hände. Er hatte wie alle Angehörigen seines eingeschlechtlichen Volkes einen ausgeprägten Mutterinstinkt, der sich nicht nur auf Haluter, sondern auf fast alle intelligenten Lebewesen bezog, die kleiner als Haluter waren.

Während er sich auf den Weg zu dem Durchgang machte, aus dem er die Stimmen gehört hatte, vernahm er wieder einen Ruf Alaskas: »Was ist mit Olw?«

»Bereits gestartet«, antwortete Gucky genauso laut. »Wir haben nur noch den Transmitter.«

Icho zerbrach sich den Kopf darüber, wer noch mal Olw gewesen war. Er befand sich bereits im Korridor, als es ihm wieder einfiel. Olw war einer der zwölf Spezialisten der Nacht gewesen. Diese künstlich geschaffenen Wesen waren die eigentlichen Herren des Konzils der Sieben gewesen, das von 3459 an für über einhundert Jahre die Milchstraße unterjocht hatte.

Ein Thermoschuss riss ihn aus seinen Gedanken. Wäre er nur ein wenig schneller gegangen, hätte der Schuss genau das Neugeborene getroffen. Er versuchte, das Kind mit seinen Brustarmen zu schützen und verfestigte seine Körperstruktur. Erst danach blickte er auf.

Vor ihm waren einige Humanoide in den Gang eingedrungen. Sie waren deutlich kleiner als Terraner, aber dafür um einiges kompakter gebaut. Ihre rostroten Haare hatten sie zu vogelnestartigen Frisuren aufgetürmt. Laren!

Icho Tolot wunderte sich nicht eine Sekunde darüber, hier auf Laren zu stoßen. Er brüllte auf und stürmte wie ein Eisbrecher durch die Angreifer, die gerade wieder auf ihn anlegten. Sie wurden von seiner Körpermasse zur Seite geschleudert und blieben benommen liegen.

Nun hatte der Haluter endlich den Ort erreicht, von wo aus er die Stimmen von Alaska und Gucky vernommen hatte. Die beiden waren fieberhaft damit beschäftigt, einen transportablen Transmitter aufzustellen. Icho fiel auf, dass Alaska eine Gesichtsmaske trug. Befand er sich tatsächlich in der Vergangenheit? Wieso war ihm nicht bewusst, jemals hier gewesen zu sein? Und was wollte DORGON ihm mit dem Haluterkind sagen?

Alaska Saedelaere hatte ihn entdeckt. Er wandte sich Tolot zu und hob die Hände, als wollte er ihn umarmen.

»Tolotos«, rief er feierlich. »Meinen herzlichen Glückwunsch.«

»Glückwunsch wofür?«, fragte der Haluter irritiert nach.

Gucky fing an zu lachen. »Du bist Elter geworden! Deshalb warst du die ganze Zeit so merkwürdig.«

Icho Tolot hob das Haluterkind an. »Ich weiß nicht, was ihr vermutet, aber dieses Kind habe ich dort hinten im Gang gefunden.«

Alaska stemmte die nach wie vor erhobenen Arme in die Hüften. »Tolotos, Sie sollten dieses Spielchen jetzt endlich aufgeben. Mir hat es nicht gepasst, nichts sagen zu dürfen, aber ich habe mich daran gehalten. Jetzt, wo Ihr Kind da ist, sollten Sie allerdings dazu stehen!«

»Aber das ist nicht mein Kind«, beteuerte Icho, nach wie vor irritiert.

»Die Laren kommen«, piepste Gucky. »Schnell durch den Transmitter!«

Gucky und Alaska rannten, so schnell sie konnten, auf den Transmitterbogen zu.

»Tolotos, komm!«, rief Gucky dem Haluter noch zu, bevor er entmaterialisierte.

Da ihm nichts Besseres einfiel, setzte sich Icho Tolot ebenfalls in Richtung des Transmitters in Bewegung. Kurz bevor er ihn erreichte, zuckten die Strahlen von Thermostrahlern und Desintegratoren um ihn herum. Mit einem Sprung rettete er sich ins Abstrahlfeld, dabei das Kind nach wie vor eng umklammert.

»Das genügt«, vernahm er plötzlich die Stimme Sanna Breens hinter sich. Die Welt um ihn verschwand und nur das Gefühl endlosen Fallens blieb.

Ein Graf und sein Gesinde

Atlan

Als ich mir meiner Umgebung wieder bewusst wurde, stand ich auf einer Waldlichtung inmitten eines Steinkreises aus Menhiren. Sanna Breen, Osiris und Icho Tolot waren ebenfalls anwesend. Der sonst so resolute Kemete zwinkerte eine Träne weg, während der Haluter sichtlich irritiert wirkte. Offenbar hatten die beiden ähnlich aufwühlende Situationen wie ich erlebt.

»DORGON hat euch einen inneren Konflikt verarbeiten lassen«, erklärte Sanna Breen. »Ich hoffe, ihr versteht jetzt, dass DORGON mehr ist als wir, als die Summe seiner Teile. Jeder von uns kann jede beliebige Situation erleben und in allen Einzelheiten durchspielen. Jedoch sind alle Gegebenheiten immer positiv.

Euch wurden absichtlich Szenen gezeigt, die für euch nicht angenehm gewesen waren, doch nun glücklich geendet haben, egal ob es böse Erinnerungen«, sie schaute Icho Tolot und mich an, »oder ungelöste Konflikte waren.« Ein Blick streifte Osiris.

Icho Tolot räusperte sich. Es klang wie ein aufziehendes Unwetter. Ich konnte gerade noch einen Kontrollblick zum Himmel unterdrücken.

»Da scheint ein Missverständnis vorzuliegen«, sagte er. »Ich habe eine Situation durchlebt, die so nie stattgefunden haben kann.«

Sanna nickte. »Natürlich haben die Szenen sich so nie abgespielt. Aber ihr hättet euch gewünscht, dass es so gewesen wäre.«

Ich schluckte. Damit hatte sie genau ins Schwarze getroffen.

»Ich habe offenbar irgendetwas aus der Zeit der Odyssee der SOL im 36. Jahrhundert alter Zeitrechnung erlebt«, berichtete der Haluter. »Dabei habe ich ein Haluterkind vor Laren gerettet. Das kann so nicht passiert sein, da es dort außer mir keinen Haluter gab.«

»Es war dein Kind«, erklärte Sanna schlicht.

Ich blickte überrascht auf. Tolot hatte damals ein Kind geboren?

Doch er streckte alle vier Handflächen abwehrend nach vorn. »Das stimmt nicht. Ich habe nie ein Kind geboren. Haluter tun das nur, wenn sie ihr nahes Lebensende verspüren.« Er lachte unterdrückt. »Das trifft auf mich als Zellaktivatorträger ja wohl kaum zu.«

Sanna schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre Haare umher wirbelten. »Es hat damals diese Geburt gegeben! Das Kind ist jedoch von den Laren getötet worden. Das ist deine traumatische Erinnerung. Vielleicht hast du sie verdrängt. Aber sie hat stattgefunden. DORGON macht keine Fehler!«

Letzteres würde ich nicht unterschreiben, doch Tolot schien nun endgültig verwirrt zu sein. Er wandte sich mir zu.

»Atlanos, habe ich jemals ein Kind bekommen?«, flüsterte er.

Ich zuckte bedauernd die Schultern. »Ich kann dir das nicht sagen. Ich war damals in der Provcon-Faust und habe das Neue Einsteinsche Imperium regiert, falls du dich erinnerst. Du müsstest jemanden fragen, der damals mit dir auf der SOL war. Leider sind die momentan nicht hier.« Ich seufzte. »Alaska Saedelaere hätte es sicherlich gewusst, doch der hält auf NESJOR die Stellung.«

Icho Tolot taumelte einen Schritt zurück. »Alaska … Ich habe mich damals mit Alaska über irgendetwas gestritten. Extrem gestritten. Aber warum? Weswegen? Ich weiß es nicht mehr …« Bei den letzten Worten war er immer leiser geworden.

Jii’Nevever!, stach der Extrasinn in meine Gedanken. Überlege, was die Träumerin von Puydor und Shabazza damals mit Michael Rhodan gemacht haben. Sie hatten ihm eine falsche Erinnerung eingeimpft und ihn dadurch zu Torric, den Herrn der Zeiten gemacht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Tolots Erinnerungen ebenfalls manipuliert wurden.

»Tolotos«, wandte ich mich an den Haluter. »Ist es möglich, dass Jii’Nevever dir diese Erinnerung gestohlen hat?«

Er taumelte noch ein paar Schritte rückwärts. »Nein«, brüllte er in vollster Lautstärke, zu der ein Haluter fähig war. Und das war einiges. »Nein, nein!«

Stille!

Irritiert nahm ich die Hände herunter, die ich auf die Ohren gepresst hatte. Warum war der Haluter urplötzlich ruhig geworden?

»Ich habe mit meinem Planhirn das Ordinärhirn unterdrückt«, erklärte Icho Tolot mit monotoner Stimme. »Die Aufgewühltheit ist momentan zu groß. Ich bin so nicht von Nutzen.«

Ich erschauerte. Auch nach all den Jahrtausenden war mir der Haluter immer noch unheimlich.

Sanna Breen räusperte sich schüchtern und zog dadurch wieder alle Aufmerksamkeit auf sich. »Ich möchte euch nun einige ›Bewohner‹ von DORGON vorstellen, die schon sehr lange Teil von ihm sind. Sie sind sich dessen nicht bewusst, haben aber dennoch Teil am Gemeinwohl und DORGONS Stärke.«

Sie verließ den Steinkreis und betrat einen Waldpfad. Icho Tolot stampfte ihr teilnahmslos und mechanisch hinterher. Er wollte gerade einige Zweige abbrechen, die seinem großen Körper im Weg waren, da stoppte ihn Sanna mit einer Handbewegung.

»Moment«, sagte sie. »Die Einwohner des Dorfes kennen keine Außerirdischen.«

Sie schnippte mit den Fingern und Icho Tolot schrumpfte zusammen. Zwei seiner Arme zogen sich in den Körper zurück und sein Stirnauge schloss sich und verschwand. Augenblicke später stand ein Hüne mit blonden Haarzöpfen und Vollbart vor uns, der mich unwillkürlich an einen terranischen Wikinger erinnerte.

»Schon viel besser«, lachte Sanna. »So wirst du nicht auffallen. Siehst so auch viel schöner aus.«

Sie gab Icho Tolot einen Kuss. Dieser nahm ihn ohne irgendeine Regung entgegen.

»Das ist logisch«, sagte er teilnahmslos. »Ich bin allerdings in dieser Erscheinungsform körperlich weniger leistungsfähig und durch den fremden Körper werden meine Reflexe leiden.«

Offenbar dachte Tolot auch in Menschengestalt immer noch mit seinem Planhirn, obwohl es rein anatomisch nicht mehr vorhanden sein durfte.

Sanna Breen und Icho Tolot setzten sich wieder in Bewegung. Ich wollte ihnen folgen, doch Osiris hielt mich zurück.

»Wir müssen auf Icho Tolot aufpassen«, raunte er mir zu. »Egal, ob die Geschichte mit der verschwundenen Erinnerung an das Kind stimmt oder nicht – sie sorgt dafür, dass er psychisch ausgesprochen labil reagiert. Man muss kein Exopsychologe sein, um zu erkennen, dass es da noch einen gewaltigen Knall geben wird.«

Ich nickte. »Aber solange Icho Tolotson mit seinem Planhirn denkt, wird nichts passieren.«

Der skandinavische Name war mir unwillkürlich über die Lippen gekommen. Ich musste grinsen.

»Ich finde das nicht komisch«, entgegnete Osiris ärgerlich und ließ mich stehen.

Diese ungewohnte Situation macht allen zu schaffen, meldete sich der Extrasinn. Pass auch du auf, dass du dich von diesen »Traumwelten« nicht wieder einlullen lässt.

Keine Sorge, gab ich schmunzelnd zurück. Wenn Mirona mir das nächste Mal über den Weg läuft, weiß ich Bescheid.

Der Extrasinn verzichtete auf eine Antwort, doch kurz aufflammende Kopfschmerzen bewiesen mir, wie sehr ihm meine Antwort gefallen hatte.

*

Einige Zeit später erreichten wir den Waldrand. Vor uns lag ein Dorf inmitten von Feldern, auf denen einige Bauern beschäftigt waren. Ich erblickte einen großen Wehrhof und unzählige schlichte Holzhäuser. Unweit der Häuser verlief ein Strom, auf dem ich einige Lastkähne ausmachen konnte. Alles machte einen hinterwäldlerischen und mittelalterlichen Eindruck.

Sanna Breen trat demonstrativ einen Schritt zur Seite. »Geht und lernt die Einwohner kennen. Macht euch keine Sorgen wegen der Sprache, denn so etwas spielt hier keine Rolle.«

Ich nickte und machte mich auf den Weg. Mit Völkern auf dieser Entwicklungsstufe kannte ich mich aus.

Als wir näher kamen, konnte ich erkennen, dass es außer dem Wehrhof, der von einer hohen Mauer umgeben war, gerade einmal zwei weitere Steingebäude gab. Das eine war eindeutig zuzuordnen, denn die Schläge von Metall und der qualmende Kamin wiesen es als Schmiede aus.

Allerdings wirkte das andere Gebäude irritierend. Es besaß einen quadratischen Grundriss und ebenfalls einen Kamin, doch war dieser gewaltig und befand sich exakt im Zentrum des Bauwerkes.

Direkt daneben schloss sich ein Verschlag mit Gänsen an, offenbar als lebender Vorrat. Die üppige Bemalung mit Familienszenen und die verzierten Ecken gaben dem Bauwerk einen spirituellen Hauch. Ein Tempel? Wurde hier eine Gottheit verehrt, deren Heiligtum ein Herd war?

Warum denn nicht?, stellte der Extrasinn eine Gegenfrage. Überlege mal, was die Römer alles als Gott angebetet haben. Wenn es Menschen schaffen, für Saufen und Sex einen Tempel zu bauen, ist dies bestimmt auch für die Zubereitung von Essen möglich. Wobei dir vermutlich ersteres besser gefallen würde.

Bei ersterem hatte er recht und zu seinem letzten Satz verbiss ich mir einen Kommentar, was mir nur einen Lacher einbrachte. Außerdem war es für uns auch völlig unbedeutend, wie das Weltbild dieser Leute aussah.

Einige Kinder hatten uns entdeckt und kamen auf uns zu gelaufen. Sie wirkten alle sehr vom Wetter gezeichnet. Offenbar waren die Winter hier rau.

»Kommt ihr aus dem Überwals?«, wollte ein rothaariger Bursche wissen.

So viel also zum Thema, es wird keine Verständigungsschwierigkeiten geben, dachte ich sarkastisch.

»Nein«, widersprach ich und hoffte, damit in kein Fettnäpfchen getreten zu sein. »Wir kommen aus einer weit entfernten Stadt, die Nesjor genannt wird.«

»Liegt das noch weiter weg als Brinbaum?«, fragte der Junge weiter.

»Weiter weg«, versicherte ich. »Viel weiter weg, als ihr euch vorstellen könnt.«

Das Kind zuckte mit den Schultern. »Ich kann mir sowieso nichts vorstellen, was weiter weg ist als Brinbaum. Ihr solltet euch an den Herrn Grafen wenden. Er möchte immer Bescheid wissen, wenn Besucher kommen.«

Ich nickte und wandte mich dem Wehrhof zu. Ein Graf also. Sonderlich wohlhabend schien dieser Graf allerdings nicht zu sein, wenn er sich nicht einmal eine Burg leisten konnte.

Als ich das Hoftor erreicht hatte, wandte ich mich um. Osiris stand direkt hinter mir und gab mir durch eine Geste zu verstehen, dass ich anklopfen sollte. Icho Tolotson, unser Haluter in Wikingergestalt, starrte weiterhin apathisch vor sich hin und Sanna Breen hielt sich lächelnd im Hintergrund. Dahinter – unweit eines mächtigen Prangers – lungerten die Kinder herum, die vor Neugier schier zu platzen schienen.

Entschlossen klopfte ich an. Mal schauen, welche neue Aufgabe DORGON für uns vorgesehen hatte.

Als das Tor geöffnet wurde, blieb mir das Herz stehen. Vor uns stand die Schönheit in Person. Strahlend blaue, große Augen nahmen meinen Blick gefangen. Darunter – nur durch ein süßes Stupsnäschen getrennt – befanden sich volle, rote Lippen, die ich zu gern einmal berührt hätte.

Das absolut ebenmäßige Gesicht rahmten hüftlange Haare ein, die wie ein Wasserfall aus purem Gold auf die Schultern dieses schlanken und wohlproportionierten Körpers fielen. Volle Brüste und Hüften, die sie auch unter der Kleidung einer Magd nicht verbergen konnte, rundeten die junge Frau im wahrsten Sinne des Wortes ab. Ich schätzte sie auf achtzehn, höchstens zwanzig Jahre.

Aufwachen, Beuteterraner!, fauchte der Extrasinn. Bringe einmal, ein einziges Mal deine Hormone unter Kontrolle. Dein Verhalten ist eines Arkoniden mit deinem Lebensalter völlig unwürdig.

Ich schloss den Mund wieder und hoffte, dass ich nicht wie ein sabbernder Idiot ausgesehen hatte. Ein falscher erster Eindruck konnte schnell viel kaputt machen.

»Seid gegrüßt«, sagte ich und stellte mich und meine Begleitung vor. »Wir möchten Euren Grafen sprechen.«

Das Mädchen nickte und lächelte schüchtern. Ein Anblick, der Männerherzen zum Schmelzen bringen konnte. »Mein Name ist Hesinja Nagraski. Bitte folgt mir.«

Sie wandte sich um und ging auf das Hauptgebäude zu. Mein Blick saugte sich an ihren wiegenden Hüften fest. Hesinja trug ein indigofarbenes Kleid, dass ihren Körper betonte und einen einzigartigen Kontrast zu ihrem goldenen Haar bildete, das in der Sonne zu glitzern schien.

Etwas traf mich in die Seite. Ich blickte auf. Osiris musterte mich böse und schüttelte den Kopf.

Richtig so!, kommentierte der Extrasinn. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich es genauso gemacht.

Ich seufzte innerlich. Hatten sich jetzt Osiris und mein innerer Quälgeist zusammengetan, um mich zu stören? Da erschien mir die leibhaftige Venus, und ich konnte nicht einmal ihren Anblick genießen.

»Würden die Herrschaften bitte hier Platz nehmen?«, vernahm ich Hesinjas Stimme.

Wieder nahm mich ihr schüchternes Lächeln gefangen. War so ein hübsches Ding – ob nun Magd oder nicht – wohl bereits vergeben?

Nachdem wir in den bereitstehenden Sesseln Platz genommen hatten, eilte die Schönheit durch eine Tür und kam nur wenige Augenblicke später mit einem Tablett wieder, auf der sich einige kleine Tonkrüge und eine Flasche befanden. Als sie mir einen der Tonkrüge überreichte, berührten sich unsere Hände. Ihre Haut fühlte sich gut an, so weich und sanft. Hesinja hätte mir pures Gift einschenken können, ich hätte es ohne zu zögern getrunken.

»Ich werde nun den Majordomus informieren«, erklärte sie und ein Schatten glitt über ihr Gesicht. Offenbar schien sie Differenzen mit dem Hausverwalter zu haben. Sie huschte die Treppe hinauf und verschwand aus meinem Blickfeld.

»Na dann mal Prost«, sagte ich und hob meinen Krug in Richtung der anderen.

Osiris schüttelte den Kopf und leerte sein Trinkgefäß in einem Zug – nur um unmittelbar danach knallrot anzulaufen. Gepresst stieß er die Luft aus.

Ich hatte mein Getränk zwischenzeitlich ebenfalls herunter gekippt. Das Zeug brannte wie Feuer in meinem Rachen. In meiner Zeit als Einsamer der Zeit hatte ich schon einige üble Schnäpse trinken müssen – vor allem der Ratzeputz war mir nach wie vor in schmerzhafter Erinnerung –, aber das hier ließ selbst diesen wie Mineralwasser erscheinen.

Keine Ahnung, was die Leute hier als Basis verwendeten, aber das Endergebnis schien nur aus purem Alkohol und Säure, gewürzt mit Unmengen Pfeffer zu bestehen. Mir schossen die Tränen in die Augen und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mindestens einen Liter Wasser hinterher kippen zu können.

Ich langte nach der Flasche auf dem Tablett, goss schnell meinen Krug voll und leere ihn in einem Zug. Das hätte ich lieber nicht tun sollen, denn sie enthielt nur noch mehr von dem Giftzeug. Aus allen Poren brach mir der Schweiß aus. Der Zellaktivator in meiner Schulter begann, heftig zu pochen – vermutlich, um eine Alkoholvergiftung zu verhindern.

Ein Lachen in tiefem Bass riss mich in die Realität zurück. Ich bemühte mich, die Augen zu öffnen, konnte jedoch aufgrund der Tränen mein Gegenüber nur schemenhaft erkennen. War das der Majordomus oder bereits der Graf?

»Ihr scheint nicht aus dieser Gegend zu kommen, Herr Atlan«, sagte mein Gegenüber mit der tiefen Stimme. »Offenbar bekommt Euch unsere Torkelbeerenessenz nicht.«

Torkelbeeren? Die trugen ihren Namen offensichtlich zurecht!

»Nein«, stieß ich hervor. »Wasser!«

Einige Augenblicke später drückte mir jemand einen größeren Krug in die Hand. Die goldenen Haare waren unverkennbar. Während ich trank, legte ich Hesinja meine Hand auf die Hüfte. Leider entwand sie sich mir direkt wieder, aber zumindest brachte das Wasser Linderung. Endlich hörte das Brennen auf, das sich mittlerweile die Speiseröhre hinabgearbeitet hatte.

Ich wischte die Tränen aus den Augen und musterte mit meinem nun geklärten Blick mein Gegenüber. Zu meiner Überraschung stand dort nicht ein, sondern standen dort zwei Männer neben der hübschen Hesinja. Einer war ein etwa ein Meter sechzig großes Männchen, das nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Seine Haut spannte sich wie bei einer Mumie über den völlig haarlosen Schädel. Sein Aussehen war mir sofort unsympathisch.

Der andere Mann erinnerte mich beinahe an einen Ertruser, da er fast genauso breit wie hoch war. Jedoch lag es nicht an seinen Muskeln, sondern eher an dem stattlichen Wohlstandsbauch, der seine Leibesmitte umfasste. Die Hauptattraktionen seines Kopfes bestanden aus einem schütteren Haarkranz aus angegrauten, roten Haaren, einem Mopsgesicht, einem Stiernacken und einem Doppelkinn. Offenbar war das der Sprecher, und aus seiner Leibesfülle schloss ich, dass ich wohl den Grafen vor mir hatte.

»Habt vielen Dank, Hochwohlgeboren!«, sprach ich ihn direkt an. »Ich freue mich, Euch kennenzulernen.«

»Ich bin Graf Joost von Salsweiler, der örtliche Bronnjar. Ich nehme an, Ihr seid von Stand?«

Bronnjar? Unwillkürlich fühlte ich mich an die russischen Bojaren erinnert, die in ihrem Land während des Mittelalters die absolute Herrschaft ausgeübt hatten. Ob die Ähnlichkeit des Titels Zufall war? Sicherlich nicht, denn schließlich war das nur eine weitere von DORGONS Welten. Wer wusste schon, wo diese Menschen herkamen.

Ich glaubte, ich riskierte nichts, wenn ich mich als Adliger im niedrigsten Rang ausgab. Dies konnte uns einige Türen öffnen. Dem stimmte auch mein Extrasinn zu.

»Ich bin Junker auf Wanderschaft«, eröffnete ich dem Grafen. »Ebenso wie mein Jagdkamerad Osiris hier. Icho Tolotson und Sanna Breen sind unser Gefolge.«

»Ein wandernder Junker also …« Die Miene des Grafen verfinsterte sich. Offenbar war meine Antwort doch nicht so geschickt gewesen. Doch dann wandte er sich Hesinja zu. »Du weißt, was das bedeutet. Bereite für die Herrschaften ein angemessenes Abendessen vor!«

Meine Göttin nickte und huschte durch dieselbe Tür, durch die sie auch schon vorhin verschwunden war, um den starken Schnaps zu holen.

Joost wandte sich an die Mumie. »Mew, du zeigst den Junkern unsere Gästezimmer.« Dann blickte er wieder mich an. »Da Wohlgeboren die Jagd erwähnt hat, wäre es mir eine Ehre, Euch heute Abend meine Trophäen präsentieren zu dürfen.«

Ich nickte automatisch. Das war sicherlich eine Gelegenheit, den Grafen zum Reden zu bekommen.

Während Joost von Salsweiler sich ächzend die Treppe hochwuchtete, blickte ich Sanna Breen an, doch die Botin DORGONS lächelte nach wie vor wissend, ohne einen Ton von sich zu geben. Ich seufzte. Was auch immer wir hier zu tun hatten, wir würden es allein herausfinden müssen. Zum ungezählten Male verwünschte ich die kosmischen Entitäten für ihre Geheimniskrämerei.

»Wenn die Herrschaften mir folgen würden«, vernahm ich eine Reibeisenstimme. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Das mumienhafte Männchen hatte gesprochen. Es wandte sich um und schritt die Treppe hinauf, ohne weiter von uns Notiz zu nehmen.

Hier schienen sich ja wirklich merkwürdige Gestalten aufzuhalten. Wenn Hesinja nicht gewesen wäre, hätte ich sicherlich schon längst das Weite gesucht, denn die Abneigung, die der Graf und sein Majordomus uns entgegenbrachten, war praktisch körperlich zu spüren.

Der tiefgründige Blick, den Osiris mir zuwarf, zeigte mir, dass es dem Kemeten ebenso erging. Diese beiden Gestalten schienen absolut nicht zu den euphorisch friedlichen Lebewesen zu gehören, wie wir sie bisher in DORGON kennengelernt hatten. Hesinja und die Kinder passten dagegen genau in das von Sanna vermittelte Bild.

Wir hatten inzwischen das erste Stockwerk erreicht. Der Gnom wandte sich in dem anschließenden Korridor nach links. Ich folgte ihm. Vor einer Tür blieb er stehen und streckte seine Hand aus. Sein knochiger, langer Finger, der in einem ansehnlichen Nagel endete, wies auf die geschlossene Tür.

»Gästezimmer für einen der beiden Herrschaften«, erklang seine kratzige Stimme, ohne dass er uns angesehen hätte. Ebenso wenig hielt er es für nötig, uns überhaupt einen Blick in den Raum werfen zu lassen, sondern ging einfach weiter. Vor der nächsten Tür blieb er stehen. Wieder kam sein unheimlicher Finger zum Einsatz.

»Gästezimmer für den anderen der Herrschaften«, leierte er herunter, als hätte er es bereits unzählige Male aufgesagt. »Der Schlafsaal für das Gesinde befindet sich eine Tür weiter. Sollten die Herrschaften Waschgelegenheiten, Getränke oder ähnliches benötigen, so mögen sie sich an die Magd Hesinja wenden.«

Den Namen hatte er förmlich ausgespien. Ich ballte die Hände in meinen Hosentaschen zu Fäusten. Wie konnte er nur?

Er wandte sich um und schritt – wiederum ohne uns eines Blickes zu würdigen – die Treppe in den zweiten Stock hinauf.

Ich schüttelte mich, als der schaurige Hausverwalter verschwunden war.

»Was für ein herzlicher Empfang«, kommentierte Osiris ironisch.

Ich nickte langsam. »Wir sollten unsere Räume aufsuchen und uns etwas ausruhen. Wer weiß, was uns hier in diesem reizenden Haus noch alles bevorsteht.«

»Das Verhalten des Grafen und seines Hausverwalters passt nicht zu DORGON«, meldete sich Icho Tolot zu Wort.

Ich wandte mich dem blonden Hünen zu und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ach, hat unser halutischer Wikinger das auch schon gemerkt?«, fragte ich sarkastisch. »Das war ja wohl nicht zu übersehen.«

Icho Tolot blickte mich ohne jegliche Gefühlsregung an und mir fiel wieder ein, dass er vorhin sein Ordinärhirn und damit seine Emotionen unterdrückt hatte.

»Tolotos, du solltest dein Ordinärhirn wieder aktivieren«, redete ich auf ihn ein. »So bist du ja nicht auszuhalten. Da war ja sogar der Karx auf Brocsan noch euphorischer.«

»Ich werde das momentan nicht tun«, widersprach Tolot mit monotoner Stimme. »Das Ordinärhirn ist immer noch zu stark angeschlagen. Sobald ich es die Oberhand gewinnen lasse, wird mir wieder der Tod meines Kindes und der Verlust der Erinnerung daran zu schaffen machen. Momentan also unpassend.«

Ich verdrehte die Augen und wusste doch, dass er recht hatte. Kopfschüttelnd öffnete ich eine der beiden Türen. Mein Blick fiel auf ein üppig ausgestattetes Himmelbett, das die Kammer dominierte. Gegenüber dem Bett befand sich eine Kommode mit unzähligen Schubladen, auf der eine Waschschüssel und ein Wasserkrug abgestellt waren. Darüber hinaus befanden sich nur noch eine Truhe für persönliche Gegenstände und ein kleiner Kamin in dem Raum.

»Ich weiß nicht, was ihr macht«, sagte ich über die Schulter zu meinen Gefährten, »doch ich werde mir jetzt erst einmal ein wenig Ruhe gönnen.«

Ohne auf eine Reaktion zu warten, schloss ich die Tür und warf mich auf das Bett.

*

Eine Stunde später war meine Geduld erschöpft. Ich hielt es nicht mehr aus. Unser mysteriöser Auftrag konnte auch noch etwas warten.

Ich schlich zur Tür und öffnete sie, so leise es mir möglich war. Zu meinem Glück war die Luft rein. Vorsichtig schloss ich die Tür hinter mir und huschte zur Treppe ins Erdgeschoss. Dort angekommen konnte ich das Klappern von Töpfen vernehmen. Mir wurde warm ums Herz.

Zaghaft klopfte ich an den Türrahmen der Küche. Hesinja zuckte heftig zusammen und ließ vor Schreck das Kaninchen fallen, das sie gerade häutete. Blitzschnell packte ich zu und bekam unser Abendessen zu fassen, bevor es zu Boden fallen konnte.

Hesinja fiel auf die Knie und streckte mir flehend ihre Hände entgegen. Sie blickte starr auf den Boden und begann zu weinen.

»Bitte, edler Herr«, stammelte sie. »Vergebt mir dieses Ungeschick und schlagt mich nicht! Es wird nie wieder vorkommen!«

Ich legte das Kaninchen auf den Küchentisch zurück und ergriff Hesinjas Schultern. Sanft holte ich sie auf die Füße zurück und wischte die Tränen aus ihrem Gesicht.

»Warum sollte ich dich schlagen wollen?«, fragte ich sachte. »Ich habe dich erschreckt. Es ist also höchstens meine Schuld.«

Ungläubig blickte sie mich an. Eine einzelne Träne kullerte aus dem linken ihrer herrlich blauen Augen. Ihre Unterlippe bebte.

»Herr, was tut Ihr?«, flüsterte sie, als sich unsere Lippen suchten und fanden. Sanft schob sie mich wieder weg. »Wohlgeboren, ich bin nur eine einfache Magd, die außer zum Kochen zu nichts imstande ist.«

Ich legte ihr meinen Zeigefinger auf die Lippen und brachte sie dadurch zum Schweigen.

»Da, wo ich herkomme, ist so etwas nicht von Belang«, erklärte ich ihr. »Niemand darf einen anderen Menschen einfach schlagen, selbst wenn er gesellschaftlich höher gestellt ist.«

Als ich ihren Rücken zu streicheln begann, wagte sie einen erneuten Widerspruch: »Aber das ist gegen die gottgegebene Ordnung!«

Ich schüttelte den Kopf und wollte sie erneut küssen, doch sie presste ihren Kopf auf meine Brust und begann wieder zu weinen. So nahm ich sie in die Arme und wartete, bis sie sich beruhigt hatte.

»Wäre der Herr Graf doch so wie Ihr«, würgte sie schließlich hervor. »Nie schaut er mich an, nie hat er ein gutes Wort für mich. Nie … nie darf ich in seiner Nähe sein!«

Ich schluckte. Die Kleine hatte sich doch nicht etwa in ihren Herrn verguckt? Ausgerechnet in ihn?

»Als er mich als Magd aufnahm, schien ein Traum für mich wahr zu werden«, bestätigte sie meine Befürchtungen. »Anfangs war er nett zu mir und schlug mich auch nicht, als ich mich als unfähig zu Dingen wie Bettenmachen und Putzen erwies. Er erkannte mein Talent fürs Kochen und ließ mich ihn voll und ganz verwöhnen. Dafür schenkte er mir dieses wundervolle Kleid.«

Ein Lächeln huschte bei ihren letzten Worten über ihr Gesicht und ließ mich frösteln. Sicherheitshalber zog ich mit dem Fuß einen Hocker heran und ließ mich darauf sinken. Hesinja, die sich immer noch in meinen Armen befand, wurde dadurch auf meinen Schoß gezogen. Vielleicht erhöhte das ja meine Chancen.

»Sogar Mew Wulfski war anfangs, wenn nicht gerade nett, doch zumindest neutral zu mir«, plapperte sie weiter, als wäre nichts geschehen.

Mehr und mehr kam in mir das Gefühl auf, meine Tochter und nicht eine Geliebte in den Armen zu halten. Der Extrasinn quittierte das mit einem Lachen und einem Narr, komm endlich zu dir!, doch ich begann, ihren Rücken zu streicheln und mich dabei langsam aber sicher immer weiter ihrem herrlichen Busen zu nähern.

»Doch dann wurden sie plötzlich anders.« Sie schaute mich so tiefgründig an, dass ich für einen Moment im Streicheln innehielt. »Der liebe Herr Graf scheucht mich nur noch durch die Gegend und der Herr Wulfski ist richtig böse geworden.«

Sie klammerte sich an mich und schluchzte erneut auf. Da nichts anderes in Reichweite war, setzte ich ihr einen dicken Kuss auf die Stirn. Endlich kuschelte sie sich an mich. Ihr Kopf rückte empor und ihre Lippen suchten die meinen.

»Macht mich glücklich, Herr«, hauchte sie. »Lasst es mich vergessen.«

Ich ließ uns beide zu Boden gleiten und schob den Saum ihres Kleides nach oben. Schon bekamen meine suchenden Hände ihren Intimbereich zu fassen …

»Atlan!«, vernahm ich einen Ruf aus Richtung der Tür, der uns beiden den Herzschlag aussetzen ließ.

Mit einem entsetzten Schrei sprang Hesinja auf, ordnete Kleid und Schürze und hatte in null Komma nichts wieder Kaninchen und Messer in der Hand.

Ich erhob mich bedächtiger und blickte Sanna Breen genau in die Augen. Keine Wut war dort zu erkennen, sondern grenzenlose Enttäuschung, die mich erschauern ließ.

»Du hast einen Auftrag!«, ermahnte sie mich. »Vergiss nicht, dass Milliarden von Leben auf dem Spiel stehen.«

Ich schluckte. Hesinja war praktisch sofort aus meinen Gedanken verbannt.

»Ich glaube, ich weiß, was hier vorgeht«, eröffnete ich ihr. »Der Virus Prosperoh greift um sich. Er sorgt dafür, dass die Menschen sich verändern, böser und aggressiver werden.«

Das Lächeln kehrte in Sanna Breens Gesicht zurück. »Du hast es verstanden. Wir sind hier fertig.«

Bevor die Welt um mich herum verschwinden konnte, erhaschte ich noch einen kurzen Blick auf Hesinja Nagraski. In ihren Augen war nur grenzenlose Traurigkeit und Resignation zu erkennen. Hier gab es definitiv noch einiges zu klären, doch das war eine andere Geschichte.

Dann wurde die Umgebung dunkel und nur das Gefühl endlosen Fallens blieb.

Die Schwarzen Lande

Wir kamen alle vier inmitten einer weiten Ebene zu uns, die rechts und links von Gebirgen eingefasst wurde. Ich erklärte Icho Tolot, der nach wie vor die Gestalt des blonden Hünen aufwies, und Osiris, was ich erlebt hatte. Natürlich ließ ich pikante Details aus, doch Osiris’ Miene verfinsterte sich. Offenbar konnte er sich seinen Teil denken. Ich fluchte innerlich. Hatte der Kerl denn keinerlei sexuelles Empfinden?

Mein Blick wanderte weiter zu Icho Tolot. Seine Augen waren nach wie vor teilnahmslos, aber in die Ferne gerichtet. Ich folgte seinem Blick und erstarrte.

Unweit von uns breitete sich eine gigantische Mauer aus, die das gesamte Tal durchzog und in zwei Teile trennte. Jedoch war sie die reinste Manifestation der Unnatürlichkeit. Schleimig glänzend und mit Schuppen bedeckt, erinnerte sie eher an ein Lebewesen als an eine Verteidigungslinie. Auf dem Rücken des Bollwerks waren in regelmäßigen Abständen Pfosten errichtet, die abwechselnd Fackeln oder aufgespießte Schädel trugen. Finster aussehende Krieger patrouillierten dazwischen.

»Was ist das?«, entfuhr es mir entsetzt.

»Dahinter beginnt Prosperohs Machtbereich«, erklärte Sanna Breen. Ihre Stimme klang ziemlich ausgelaugt. »Wir nennen ihn die Schwarzen Lande. Dort kann ich euch nicht mehr helfen, sondern euch nur noch als einfache Terranerin begleiten. Hinter dem Wall beginnt eure eigentliche Aufgabe.«

»Und wie kommen wir dort hinüber?«, fragte ich sie, doch Sanna zuckte nur hilflos mit den Schultern.

»Man kann die Aggressivität förmlich spüren, die von diesen Schwarzen Landen ausgeht«, zischte Osiris, dessen schwache empathische Gabe sich offenbar gerade wieder gemeldet hatte.

Mein militärischer Sachverstand meldete sich zu Wort. »Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder verkleiden wir uns wie diese Söldner dort drüben, oder wir versuchen, uns durch das Gebirge zu schlagen.«

»Verkleiden fünfzig Prozent, Gebirge zweiundvierzig Prozent«, kommentierte Icho Tolot emotionslos.

»Danke für deine motivierenden Worte«, entgegnete ich sarkastisch. »Sanna, kannst du uns neue Kleidung verschaffen?«

Die Angesprochene nickte. »Hier ja, aber hinter dem Wall nicht mehr.«

Sie konzentrierte sich kurz, dann waren wir alle in die schwarze Kluft der Söldner gehüllt. Entschlossen schritt ich voran und vergewisserte mich, dass die drei anderen folgten.

*

»Halt! Wohin des Weges?«, fragte einer der Krieger, der unmittelbar vor dem Wall seinen Dienst tat.

»Wir sind Zechonen«, gab ich uns als Angehörige von Prosperohs Volk aus, »und wollen zum Herrn Prosperoh.«

Anstatt zu antworten, hob der Söldner seine Fäuste und stürmte auf mich zu. Ich fluchte. Anscheinend hatten wir doch zu viel riskiert. Ich ging in Abwehrstellung und fegte meinen Angreifer mit einer blitzschnellen Bewegung zu Boden. Meinen Fuß setzte ich auf seinen Kopf, um ihn am Boden festzunageln. Dann blickte ich auf die Mauer. Wie würden die anderen reagieren?

»Ihr könnt passieren«, rief uns einer der Posten zu meiner Überraschung zu. »Wer sich wehrt, kann keiner von DORGONS Kreaturen sein.«

Ich tauschte mit den anderen vielsagende Blicke, doch dann wurde uns tatsächlich eine Strickleiter herabgelassen. Ich ließ den von mir besiegten Söldner liegen und griff nach den Sprossen. Die Mauer sah nicht nur schleimig aus, sie war es auch. Angewidert kletterte ich nach oben und bemühte mich, nicht das schuppige Gestein zu berühren.

Oben angekommen grinsten mir die Posten zu, machten aber keinerlei Anstalten, mich aufzuhalten. Schnell, aber nicht zu hastig stieg ich die Treppe auf der anderen Seite des Bollwerks hinunter. Erst als ich unten war, erlaubte ich mir, durchzuatmen und auf die anderen zu warten. Das war noch einmal gut gegangen, doch würde es ab jetzt mit Sicherheit nicht immer so glimpflich ausgehen.

Nach und nach trafen die anderen ein. Sanna wischte sich angeekelt etwas Schleim von ihrer Kleidung.

»Mir gefällt diese Gegend jetzt schon nicht mehr«, kommentierte sie ihr Tun.

»Oh, du redest ja plötzlich normal«, erkannte ich staunend.

»Wie schon gesagt«, antwortete sie traurig, »hat DORGON hier keinen Einfluss mehr, dadurch bin ich praktisch abgenabelt und nur noch ganz allein.«

»Und jetzt?«, stellte Osiris die alles entscheidende Frage.

Ich deutete auf die Überreste einer wohl einstmals prächtigen Straße. »Die wird schon irgendwo hinführen. Wenn wir Glück haben, direkt zu Prosperoh.«

Osiris blickte die Straße entlang und schwieg lange.

»Du hast recht«, sagte er schließlich. »Die Aggressivität nimmt in dieser Richtung zu.«

»Ich kann es auch spüren«, flüsterte Sanna und erschauderte.

Ich hob die Hände. »Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als genau dort hinzugehen. Also los!«

*

Gegen Abend erreichten wir nach stundenlangem Fußmarsch ein Dorf. Mir taten durch die lange Wanderung in der unbequemen Rüstung mittlerweile so ziemlich alle Körperteile weh. Der Gesichtsausdruck meiner Gefährten bewies, dass es ihnen ebenso erging. Sogar Tolots bärtigem Gesicht war die Erschöpfung anzusehen.

»Eins verstehe ich nicht«, keuchte Osiris. »Wir sind doch nicht körperlich. Warum kann mir dann mein Körper so weh tun?«

»Du hast es immer noch nicht verstanden«, gab Sanna Breen mit schwacher Stimme zurück. »Du bist hier, was du sein willst. Wenn dein Unterbewusstsein dir vorgaukelt, erschöpft sein zu müssen, dann bist du es auch! Du kannst hier auch altern und sterben, wenn du dir nicht ständig bewusst machst, dass du es eben nicht kannst.«

»Wie, sterben?«, fragte ich verständnislos nach. »Was passiert denn mit den Toten?«

»Nichts«, antwortete Sanna. »Da nur noch unser Bewusstsein existiert, sind wir alle unsterblich und kehren nach unserem ›Tod‹ wieder zurück. Zumindest, sobald die Knochen verscharrt wurden, denn das Bewusstsein ist mit diesem Körper hier verbunden. Erinnert euch an die Kinder, die ihr im anderen Dorf getroffen habt. Das sind alles Personen, die kurz zuvor an Altersschwäche gestorben waren. Krankheiten und Kriege gibt es hier natürlich nicht. Oder besser, gab es bisher nicht …«

Ich folgte ihrem Blick und erstarrte angesichts dessen, was wir in dem Dorf beobachten mussten. Einige in schäbige Lumpen gekleidete Bewohner waren dabei, Knochen auf einen Karren zu laden. Ich schauderte, als ich sie als eindeutig menschlich identifizierte.

Schweigend betraten wir das Gasthaus dieses Dorfes. Ich versuchte, die unangenehmen Bilder aus meinen Gedanken zu verbannen. Das Innere des Gebäudes war in absolut heruntergekommenem Zustand. Es gab keinen Tisch oder Stuhl, der nicht irgendwo eingekerbt oder schief war. Alles war mit Unrat und Dreck übersät. Ich tat mich schwer damit, den beißenden Gestank nach Verwesung und Exkrementen zu ignorieren.

Erschöpft ließ sich Osiris auf einen freien Stuhl sinken und öffnete die Halterungen seiner Lederrüstung. Er ließ die Rüstungsteile einfach so zu Boden fallen.

»Mir ist es ganz egal, wie es hier aussieht, solange ich nur etwas zu essen und ein Bett bekomme«, meinte er lakonisch.

Ich nickte und tat es ihm gleich. Auch Icho Tolot und Sanna Breen ließen sich am Tisch nieder. Letztere erst, nachdem sie mit einem Zipfel ihres Kleides den Schemel abgewischt hatte. Im Gegensatz zu uns war sie nicht als Kriegerin verkleidet, sondern trug eine deutlich bequemere schwarze Kutte mit Spitzhut und einem schulterhohen Holzstab, wie wir sie bereits einige Male bei Prosperohs Leuten gesehen hatten.

Ein Wirt eilte an unseren Tisch. Er trug lediglich Lumpen und roch genauso wie unsere Umgebung. Sein Körper wirkte völlig unterernährt und ausgemergelt, das Gesicht ausgelaugt und blass. Ich bemerkte, dass seine Knie zitterten und er den Kopf eingezogen hatte.

»Die Herrschaften wünschen?«, fragte er ängstlich.

»Eine ordentliche Mahlzeit und ein Bett für die Nacht, falls ihr das entbehren könnt«, antwortete ich freundlich.

»Natürlich«, sagte der Wirt hastig und verbeugte sich so tief, dass seine Stirn beinahe auf den Tisch schlug. »Wir werden für Prosperohs Kämpfer alles tun, was immer sie wünschen.«

Er flüchtete in die Küche.

Ich tauschte eindeutige Blicke mit den anderen.

»Prosperoh herrscht durch reinen Terror«, stellte ich fest.

»Der Wirt ist kein Zechone«, sagte Sanna. »Ich kann das spüren. Langsam, aber sicher vergiften die Zechonen seinen Geist. Irgendwann wird er schwach werden und sich ihnen anschließen, oder aber …« Sie blickte vielsagend nach draußen, wo immer noch Knochen aufgeladen wurden.

Der magere Wirt tauchte wieder auf und stellte uns Humpen und einen Krug voll mit schäumendem Bier auf den Tisch, dann war er auch schon wieder verschwunden.

Misstrauisch goss ich mir etwas ein und nippte an dem Glas. Das Bier wies eine irritierende Pfefferminznote auf, war aber ansonsten genießbar. Ich füllte den anderen die Gläser und sie griffen gierig zu.

Sanna Breen verzog nach einigen Schlucken angewidert das Gesicht. »Was ist das

»Einheimisches Pfefferminzbier«, antwortete ich achselzuckend.

»Haben die hier kein Wasser?«

Ich lächelte. Langsam wurde Sanna immer menschlicher.

»Wieso sammelt Prosperoh wohl die Knochen ein?«, kam ich auf ein ernstes Thema zu sprechen.

»Wie ich es vorhin erklärt habe«, antwortete Sanna und schob ihren Krug von sich. »Solange noch etwas der alten Körper vorhanden ist, können sich die Personen nicht neu manifestieren oder wiedergeboren werden. Offensichtlich hat er irgendetwas mit den Bewusstseinen vor.«

»Was passiert eigentlich, wenn wir hier sterben?«, wollte Osiris wissen.

»Ihr seid kein Teil von DORGON …« Ihr trauriger Blick sagte mehr als tausend Worte.

Plötzlich kam der Wirt mit einem Krug voller Wasser herangestürmt und entschuldigte sich bestimmt ein Dutzend Mal, während er rückwärts in die Küche zurückeilte. Bevor wir reagieren konnten, kam er auch schon mit einem Suppentopf und Schüsseln wieder. Großzügig schenkte er jedem von uns ein. Es handelte sich um eine rötlichgraue Brühe mit Klößen.

Beherzt griffen wir zu. Irgendetwas am Geschmack irritierte mich, sodass ich den Wirt zu mir rief. »Was ist das für eine Suppe?«

Der Wirt wand sich sichtlich, schließlich antwortete er mit einem verschwitzten Lächeln: »Fürst Prosperoh verlangt alle Knochen der Toten von uns, aber er hat nicht gesagt, dass wir sie vorher nicht noch auskochen dürfen.«

Absolut synchron spuckten wir aus, sogar Icho Tolot.

»Ihr habt eure eigenen Toten zu Marksuppe verarbeitet?«, fragte ich fassungslos.

Der Wirt warf sich zu Boden und streckte mir seine gefalteten Hände entgegen. »Habe ich etwas Unrechtes getan? Vergebt mir, Herr! Wir haben doch kaum noch etwas zu essen, seit der Krieg angefangen hat.«

Das Aufreißen der Eingangstür enthob mich einer Antwort. Hinein kamen einige von Prosperohs Söldnern, laut lachend und lärmend.

»Wirt, Bier für uns, aber zack zack!«, brüllte einer von ihnen. »Hast du eine Frau oder Töchter? Dann bringe sie auch direkt mit. Wir wollen uns amüsieren!«

Der Angesprochene schlich wie ein geprügelter Hund davon.

Die Zechonen traten einige Stühle zur Seite und ließen sich dann an einem Tisch am anderen Ende des Speisesaals nieder, dabei immer noch grölend. Einige winkten uns amüsiert zu. Der Rufer, offensichtlich ihr Anführer, fixierte mich, deutete auf Sanna und machte eine obszöne Geste, dann lachte er schallend.

Sanna wurde knallrot. Beruhigend legte ich ihr meine Hand auf den Oberschenkel.

»Keine Sorge«, grölte der Zechone. »Kannst sie behalten. Wir haben ja unseren Spaß schon bestellt.«

Tatsächlich betraten zwei abgemagerte Mädchen mit Bier den Schankraum. Die jüngere war gerade erst in der Pubertät angekommen und auch die ältere war eindeutig noch minderjährig. Mit zitternden Händen und vor Angst schlotternd schenkten sie den Söldnern ein und wurden dabei von ihnen betatscht.

Als die ältere der beiden bei dem lautesten Zechonen angekommen war, sagte der: »Schön hast du das gemacht. Und nun heb schön den Rock und bück dich!«

Die Wirtstochter tat wie befohlen und streckte den Söldnern ihren blanken Hintern entgegen. Ihr Gesicht war aschfahl, die Augen geschlossen und der Mund zusammengepresst. Ich sah einen Blutstropfen aus ihrem Mundwinkel fließen. Offenbar hatte sie sich auf die Unterlippe gebissen, um keinen Ton von sich zu geben. Sie machte den Eindruck, als wüsste sie genau, was nun kommen würde. Ebenso erging es ihrer Schwester, die mit zitternden Knien und kreidebleich daneben stand und sich ebenfalls zu entkleiden begann.

»So, dann wollen wir mal«, rief der Söldner fröhlich und packte die Hüfte der Älteren mit seinen Pranken. Dann begann er, seine Hose zu öffnen.

Sanna Breen wollte aufspringen, doch ich hielt sie zurück. Bedauernd schüttelte ich den Kopf. Einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. Sie schien zu verstehen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, dann riss sie sich los und rannte nach draußen. So leid es mir tat, aber wir durften unsere Tarnung nicht riskieren – noch nicht.

Die nächsten zwanzig Minuten waren die Hölle. Ich hatte meinen Stuhl absichtlich so gedreht, dass sich das, was die Söldner taten, in meinem Rücken abspielte, aber dennoch hörte ich ihr Grölen und Keuchen, und die erstickten, dann gellenden Schreie der Mädchen. Ich verwünschte mein fotografisches Gedächtnis, denn von nun an würde ich mich mein gesamtes Leben an diesen Moment erinnern müssen.

Osiris hielt seinen Blick fest auf seine Schüssel fixiert. Irgendwann begann er sogar wieder, die Suppe zu löffeln. Offenbar bot ihm das eine gewisse Ablenkung. Ich wünschte, wir hätten das Lokal, wie Sanna, rechtzeitig verlassen können, doch das hätte uns nur zusätzlich verdächtig gemacht.

Icho Tolot war der Einzige, der der Vergewaltigung zusah. Regungslos. Ich wünschte, ich könnte meine Emotionen auch einfach so ausblenden, wie es dem Haluter mit seinem Planhirn möglich war. Aber selbst er würde sich aufgrund seines Mutterinstinkts irgendwann dem, was er da gerade beobachtete, stellen müssen.

Ich ballte die Fäuste. Wie gern hätte ich die Söldner zusammengeschlagen, doch damit hätten wir alles aufs Spiel gesetzt. Noch wussten die Zechonen nicht, dass wir als »Externe« angekommen waren und Prosperoh ausschalten wollten. So lange wir nicht erkannt wurden, konnten wir unseren Überraschungsangriff vorbereiten.

Nach einer Ewigkeit war es dann endlich vorbei. Die beiden Mädchen – mit blauen Flecken und blutenden Schrammen übersät und nur noch mit Fetzen am Leib – schleppten sich einander stützend aus dem Raum. Dann hörte ich das Aneinanderschlagen von Bierhumpen.

»Auf MODROR und Fürst Prosperoh!«, grölten die Zechonen im Chor.

Ich traute mich wieder, hinter mich zu blicken. Das machte den Söldnerführer – inzwischen hatte ich aufgeschnappt, dass er Hackibrai hieß – auf uns aufmerksam.

»Was ist denn mit euch Langweilern los?«, fragte er lachend, während er seine Hose wieder anzog. »Wollt ihr keinen Spaß haben? Vielleicht sollten wir die Dunkelblonde wieder reinholen. Also, ich könnte durchaus noch mal …«

Osiris ballte die Hände zu Fäusten. Seine Knöchel traten weiß und spitz hervor. Doch er schaffte es, sich zusammenzureißen und nicht auf Hackibrai loszugehen.

»Wisst ihr, ihr Ausländer könnt das vielleicht nicht nachvollziehen«, redete Hackibrai weiter. »Als der Rote Tod kam, ließ Fürst Prosperoh uns alle hier hinrichten. Eigentlich sollte ich ihn dafür hassen, aber in Wirklichkeit bin ich ihm dankbar, denn seitdem sind wir im Himmel. Das hier ist das reinste Paradies. Ich verstehe nicht, warum ihr euch so schwer damit tut. Ich könnt tun, was immer ihr wollt. Niemand zieht euch zur Verantwortung!«

Ich fluchte leise. Offenbar waren wir trotz unserer Kleidung eindeutig als Nicht-Zechonen zu erkennen. Das verschlechterte unsere Chancen erheblich.

Lachend ging Hackibrai in die Küche. Ich hörte einen Schrei, dann kam der Wirt herausgelaufen. Hackibrai trat ihm brutal in die Kniekehlen, sodass er zu Boden ging. Anschließend griff sich Hackibrai einen Stuhl und schlug so lange auf den Kopf des Wehrlosen ein, bis dieser sich nicht mehr rührte.

»Ihr könnt tun, was immer ihr wollt«, wiederholte der Zechone seine Worte. Die Söldner grölten begeistert dazu. »Niemand zieht euch zur Verantwortung.«

Nun war das Maß voll! Ich stürmte nach draußen und atmete tief durch. So eine sinnlose Anwendung von Gewalt hatte ich selbst im dekadentesten Rom nicht erlebt.

»Das war ein plötzlicher Schub von Brutalität!«, keuchte Osiris hinter mir.

Ich drehte mich um. Der Kemete war bleich im Gesicht. Offensichtlich hatte ihn der brutale Mord ebenfalls nicht kalt gelassen.

»Diese Zusammenballung von Aggression habe ich nur bei einem erlebt«, sprach er weiter. »Bei Rodrom!«

Ich schüttelte den Kopf. »Unmöglich! Rodrom wurde durch Eorthors Verstofflicher festgesetzt und liegt in NESJOR im Koma!«

»Es war Rodrom!«, schrie Osiris mich an. »Eindeutig!«

War der Kemete von allen guten Geistern verlassen? Ich ballte die Fäuste.

»Auch wenn das in deinen Schädel nicht reingeht«, sagte ich langsam, als würde ich mit einem Kind sprechen. »Rodrom kann nicht hier sein!«

Osiris ballte nun ebenfalls die Fäuste. Ich nahm Kampfstellung ein. »Es war Rodrom, du blöder Arkonide!«

»Aufhören!«, kreischte Sanna Breen. Die Terranerin kam herbeigerannt und stellte sich zwischen uns. »Merkt ihr nicht, dass die Aggressivität bereits auf euch übergreift?«

Ich ließ die Fäuste sinken. Was war gerade in mich gefahren?

»Ich kann Rodrom so deutlich spüren, als würde ich direkt vor ihm stehen«, fuhr Osiris, nun deutlich ruhiger, fort. »Egal, ob du mir glauben willst oder nicht. Ich werde ihn suchen gehen. Kümmert ihr euch darum, dass Prosperoh ausgeschaltet wird!«

Ich seufzte ergeben, hatte allerdings nichts in der Hand, um Osiris aufzuhalten. Tatenlos musste ich zusehen, wie Osiris zielstrebig fortging.

Wir wollten uns gerade wieder in die Herberge begeben, da kamen die Söldner herausgestürmt und kreisten uns ein.

»Ihr wollt also den Fürsten ausschalten?« Hackibrais Stimme klang bedrohlich.

Offensichtlich hatten die Zechonen zumindest den letzten Teil unseres Gespräches mitbekommen. Damit war unsere Tarnung hinfällig. Ich ging in Kampfstellung, während sich Sanna Breen besorgt hinter mich stellte. Nichts war mehr davon zu spüren, dass sie einige Stunden zuvor noch DORGONS Botin gewesen war.

Unsere Reaktion rief bei den Kriegern nur ein müdes Lächeln hervor. Auf Hackibrais Kommando zogen alle ihren Säbel. Ich fluchte. Dem hatte ich nichts entgegen zu setzen. Hoffentlich konnte zumindest Osiris fliehen, denn Hackibrai hatte dem Kemeten einige seiner Leute hinterher geschickt. Wo blieb bloß Tolot?

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu kapitulieren. Gegen sieben Kämpfer anzukommen, war schon fast unmöglich, aber das unbewaffnet zu tun, während unsere Gegner Säbel trugen, war Selbstmord. Für Icho Tolot – vor allem in seiner eigentlichen Gestalt – wären unsere Gegner kein Thema gewesen, aber von dem blonden Hünen war nichts zu sehen. Was hatten die Zechonen bloß mit ihm angestellt?

»Ihr werdet jetzt mitkommen«, befahl Hackibrai. »Fürst Prosperohs Burg hat sehr schöne Kerker. Die werden euch sicherlich gefallen.«

Unter dem hämischen Gelächter der Kämpfer mussten wir uns fesseln lassen. Ich überlegte fieberhaft, wie wir aus dieser Lage wieder herauskommen konnten, doch leider war die Situation reichlich aussichtslos.

Ende

Atlan, Osiris und Icho Tolot sind in DORGON aufgegangen, um den Virus aufzuhalten, der den Kosmotarchen zu töten droht. Zum Showdown kommt es in Band 104 von Aki Alexandra Nofftz und Jürgen Freier

DER VIRUS PROSPEROH

GLOSSAR

Brocsan – System

Galaxie: Manjardon

Sonne: Brocs, blauer Zwerg mit der zweieinhalbfachen Masse der Sol

Planeten: 12, davon 1 Trans-Jupiter in der Lebenszone


Das System des blauen Zwergsterns Brocs ist das erste System, das Atlan und seine Gefährten in der Galaxie Manjardon, der Heimat des Kosmotarchen DORGON, näher untersuchen. Das System besteht aus zwölf Planeten, die um den blauen Zentralstern mit der zweieinhalbfachen Masse der Sonne kreisen.

Astronomisch hat das System die Besonderheit, dass die Lebenszone durch einen Riesenplaneten mit der vierfachen Masse des solaren Jupiters dominiert wird. Icho Tolot ermittelt durch eine Sonde, dass es sich um einen sogenannten Exo-Wasserplaneten handelt, also eine Welt, die zum überwiegenden Teil aus Wasser besteht.

Unter den exotischen Bedingungen eines Planeten mit mindestens der achtfachen Anziehungskraft der Erde bildet das Wasser einen neuen Aggregatzustand, ähnlich wie Kohlenstoff sich unter hohem Druck in Diamant verwandelt. Die Bedingungen solcher Welten sind so bizarr, dass sie bisher von der Forschung weitgehend ignoriert werden, der Aufwand wäre viel zu hoch.

Um diesen planetaren Riesen hat sich ein Subsystem aus elf erdgroßen Monden gebildet, die sich alle ebenfalls innerhalb der Lebenszone befinden. Dieses System bildet das Zentrum der Zivilisation der Manjarden, die die beherrschende Rasse von DORGONS Heimatgalaxie sind.

Das System der elf Mondplaneten scheint jedoch nicht auf natürlichem Wege entstanden zu sein, sondern Ergebnis einer hoch entwickelten Technologie. Jeder der Monde ist in ein Verbindungsgerüst eingebettet, das gleichzeitig als Trägersystem für das interne Transportmittel zwischen den Moden dient. Besucher müssen ihre Raumschiffe am Rand dieses Verbindungsgerüstes »parken«, der Besuch eines Mondplaneten ist nur durch die Benutzung der interplanetaren »Rohrbahn« möglich.

Konzepte

Die Menschheit ist im Laufe ihrer kosmischen Geschichte mehrmals mit »Konzepten« in Berührung gekommen, z. B. bei der Aufnahme der Bewusstseine aller zwanzig Milliarden Menschen Terras durch ES, bevor die Erde 3582 in den Schlund stürzte.

ES setzt in der Folgezeit die aus sieben Bewusstseinen gebildeten Konzepte, die äußerlich normalen Menschen glichen, in vielfältiger Weise ein. Die aus den Terranern hervorgegangenen Konzepte verschwinden dann im 13. Jahrhundert NGZ bei der Durchführung des Planes der Vollendung aus unserem Universum und wechseln auf die negative Seite des Standarduniversums, das Arresum. Was dort aus ihnen wird, ist unbekannt.

Auch die Kosmotarchen MODROR und DORGON benutzen Konzepte, um in den »niederen Gefilden« handlungsfähig zu sein. Im Unterschied zu den ursprünglichen Konzepten, die auf ES zurückgehen, werden die Konzepte der beiden Kosmotarchen nur aus einem Bewusstsein gebildet. Eine Besonderheit stellt Rodrom als Konzept dar, der inzwischen den Status einer negativen Superintelligenz erreicht hat und über ein Konzept seiner früheren körperlichen Existenz physisch angreifbar geworden ist.

DORGON hat u. a. die Bewusstseine von Nadine Schneider und Sanna Breen in sich aufgenommen und setzt beide als Konzepte ein. Ob die Bewusstseine der von ihm aufgenommenen Saggittonen ebenfalls als Konzepte eingesetzt werden, ist unbekannt.

Manjardon

Galaxie im Sternbild des Phönix mit der Katalognummer IC 5328. 187 Mio. Lichtjahre von der Milchstraße, 297 Mio. Lichtjahre vom Kreuz der Galaxien, 187 Mio. Lichtjahre von M 100 Dorgon und sogar 500 Mio. Lichtjahre von der Galaxie Shagor entfernt. Manjardon ist offenbar die Heimatgalaxie von DORGON.

Sanna Breen

Geburtsjahr: 18. Juli 1264 NGZ

Geburtsort: Terrania City, Terra

Größe: 1,70 Meter

Gewicht: ca. 57 Kilogramm

Augenfarbe: grün


Sanna Breen wird auf Terra geboren und verlebt eine normale Kindheit. Mit kaum 18 Jahren beginnt sie eine Karriere als Model, was ihr viel Geld und Anerkennung einbringt, jedoch nicht ausfüllt. Mit 20 entschließt sich Sanna, ein fünfjähriges Studium auf einer der besten Universitäten in Terrania City zu absolvieren.

Andere mochten das Modeln als Traumberuf ansehen, für sie ist es nur öde. Ihr Freundeskreis verändert sich drastisch. Viele ihrer alten Freunde mochten sie offenbar nur ihres unbestreitbar schönen Körpers wegen und gaben damit an, ein Model zu kennen. Eine Verhaltensweise, die sie nicht schätzt. Neue Freunde zu finden, erweist sich allerdings als nicht eben einfach. Trotzdem macht sie mit ihrem Wirtschafts- und Militärstudium weiter.

Im Jahre 1289 NGZ schließt sie ihr Studium erfolgreich als Doktorin für Wirtschafts- und Militärwissenschaften ab. Sie tritt in die LFT-Sternenflotte ein und bringt es bis auf das Flaggschiff des LFT-Kommissars Cistolo Khan, die PAPERMOON, wo dieser auf die emsige und intelligente Frau aufmerksam wird.

Sie entwickelt sich zur Assistentin von Khan und wird als Profilerin auf die Mordred angesetzt. Sie soll Khan – jenseits des Terranischen Liga-Dienstes – mit Informationen über die Mordred versorgen. Während ihrer Arbeit entwickelt Sanna ein großes Interesse an dem Silbernen Ritter Cauthon Despair. Es gelingt ihr, zu Despair durchzustoßen und eine emotionale Bindung zu ihm aufzubauen. Sanna Breen ist maßgeblich daran beteiligt, dass Despair die Mordred verrät und Wirsal Cell tötet.

Sie hilft dem Silbernen Ritter bei der Resozialisierung und nimmt 1292/93 NGZ an der Expedition nach M 100 teil. Als sie sich jedoch in den Dorgonen Valerus verliebt, kommt es zu Spannungen zwischen ihr und Despair. Als Despair in der Arena gegen Valerus kämpft, will Breen dazwischen gehen und läuft dabei unglücklich in Despairs Schwert. Sie stirbt.

Doch ihr Geist wird von DORGON aufgenommen. Jahre später besucht sie Despair und redet ihm ins Gewissen – vergeblich. Als Abgesandte DORGONS hilft Sanna seit 1305 NGZ Atlan und seinen Gefährten auf ihrer Mission.

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