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Band 86

Quarterium-Zyklus


Elyn

Nach dem gescheiterten kosmischen Projekt ins Exil


Roman Schleifer



Was bisher geschah Hauptpersonen des Romans
Es herrscht Krieg! Die alliierten Kräfte der Saggittonen, Akonen und der Geheimorganisation USO kämpfen um die Freiheit der estartischen Galaxien. Ihre Gegner sind das dorgonische Kaiserreich und das Quarterium.

Mitte 1306 NGZ sieht die Situation alles andere als gut aus – fast die gesamten Galaxien ESTARTUs stehen unter Kontrolle des Quarteriums und der Dorgonen. Außerdem droht MODROR, seine Klauen nun auch nach der Lokalen Gruppe auszustrecken.

Fernab vom Geschehen erfahren Atlan und seine Gefährten die phantastische Geschichte eines uralten, kosmischen Volkes. Sie brachten ein kosmisches Projekt zum Scheitern und wurden mit Unsterblichkeit bestraft – um seit Jahrmillionen zu bereuen.

Nach Äonen müssen die Alysker nun Position beziehen und kämpfen an der Seite DORGONs gegen MODROR und seine finsteren Armeen. Eine von ihnen ist ELYN …
Eorthor – Der Alysker kämpft gegen die Inkarnation MODRORs.

Rodrom – Die Inkarnation MODRORs.

DORGON – Die Entität tritt in Kontakt mit Eorthor.

Elyn – Eorthors Tochter.

Lyrata – Die Cyragonin plaudert.

Tuoer – Der Zievohne kennt keine Skrupel.

Elyn

Gegenwart

»Ich erzähle dir von zwei kosmischen Geschwistern …«, begann Eorthor. Roggles Winseln unterbrach ihn. Der kleine Humanoide mit den zwei Köpfen, der rechts von Icho Tolots massivem Körper schlief, bewegte sich unruhig. Offenbar träumte er gerade schlecht.

Als Eorthor sich mir wieder zuwandte, hatte ich den Eindruck, dass der Alysker seine Wut nur mühsam unter Kontrolle bekam.

Der Schein trügt nicht! Vergiss nicht: Vor mehreren Stunden wollte er uns wegen Roggle töten!

Er hat noch nichts Gegenteiliges von sich gegeben!, erinnerte ich meinen Extrasinn an die immer noch geltende Morddrohung. Ich hatte in Eorthor auf Anhieb einen Unsterblichen erkannt, er mit Alaska und Icho zwei Zellaktivatorträger identifiziert. Daraufhin war er umgänglich geworden. Ohne weitere Worte hatte er sich zu uns in die Zelle gesetzt und die Geschichte seines Volkes erzählt. Wobei der Begriff »eigene Lebensgeschichte« wohl besser passte. Immerhin hatte sich alles in seiner Erzählung um ihn selbst gedreht, während die Alysker als Volk zur Randerscheinung verblassten.

Dennoch oder vielleicht gerade deswegen war es eine interessante Geschichte gewesen, voller Emotionen und Leiden.

Das Schicksal aller Langlebigen!

Mir entging die semantische Feinheit nicht, mit der mein Extrasinn das Wort »Unsterblichkeit« umschiffte. Welchen Begriff man auch nahm – hundertneunzig Millionen Jahre waren ein Zeitraum, den selbst ich mir nicht vorstellen konnte.

»Also«, sagte Eorthor und lenkte erneut meine Aufmerksamkeit auf sich, »beginnen wir in der näheren Vergangenheit …«

Damals … vor 75 Millionen Jahren

Eorthor trottete in sein Schlafzimmer, plumpste bäuchlings ins Bett und schloss die Augen. Vier durchwachte Nächte, in denen er an einem Experiment gefeilt hatte, hinterließen ihre Spuren. Doch das Ergebnis war die Strapazen wert gewesen.

Eorthor verdrängte den Triumph über das abgeschlossene Projekt und gab sich völlig der Müdigkeit hin. Sie kroch aus ihrem Gefängnis, breitete sich aus, verdrängte seine bewussten Gedanken und schickte ihm einen Traum.

Die Dunkelheit der geschlossenen Augenlider wich der Helligkeit des Tages. Er stand am Strand, vor ihm das Meer, türkisblau, darüber die Sonne, die bereits den Horizont berührte.

In dieser Bucht hatte er vor Millionen von Jahren mit Enomina abgerechnet. Warum träumte er davon?

Kaum am Ende des Gedankens angelangt, bemerkte er, dass die Geräusche fehlten. Keine Tierschreie drangen an sein Ohr, keine Vogelstimmen erfüllten die Luft, die Blätter raschelten nicht und selbst das Wasser knabberte stumm am Strand.

Gespenstisch!

Der unsichtbare Schöpfer der Szenerie musste sich seine Kritik zu Herzen genommen haben, denn er passte seine Kreation an die Realität an. Sogar an einen walähnlichen Meeresbewohner hatte er gedacht, der in einiger Entfernung aus den Fluten emporstieg und wieder darin versank.

Eorthors Blick kehrte zum ufernahen Bereich zurück. Knapp unter der Wasseroberfläche bewegte sich das Meer. Rund um einen Kreis von einem halben Meter stiegen Atemblasen empor und zerplatzten an der Luft.

Dann stieg die Frau seiner Träume aus dem Wasser. Ihre Figur war makellos, die Proportionen wie bei einem Kunstwerk, das Gesicht zu hundert Prozent symmetrisch, ihr Lächeln anziehend und umwerfend zugleich. Die Haare fielen schwungvoll um ihr Gesicht und rahmten es ein. Das Schönste jedoch waren die Augen. Eorthor glaubte in ihnen die Weite des Kosmos zu erkennen.

Er wollte ihr zurufen, sie auf sich aufmerksam machen, doch seine Stimmbänder gehorchten nicht. Er wollte ihr entgegenlaufen, doch seine Beine reagierten nicht. Er war bewegungslos und konnte sie nur anhimmeln.

Bei ihren ersten Schritten auf dem Sand bewunderte er den anmutigen Gang. Er suchte nach einem Vergleich und fand ihn in der Grazie einer schleichenden Katze. Gebannt begleitete er jeden ihrer Schritte mit innerem Jubel.

Sie blieb vor ihm stehen, blickte ihm in die Augen, schenkte ihm ein Lächeln und umrundete ihn, nicht ohne ihm einen Klaps auf die Pobacken zu geben.

Jetzt erst bemerkte Eorthor, dass auch er nackt war. Er unterdrückte den Impuls, seine Genitalien zu bedecken und wandte sich wieder ihr zu. Ihre körperliche und mentale Präsenz nahm ihn gefangen. Sie kroch in seine Gedanken, nahm sein Wissen auf, nickte anerkennend, streichelte ihn und zog sich wieder zurück.

Dann trat sie so nahe an ihn heran, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte. Das Wasser tropfte von ihren langen Haaren und traf seine Brust, seine Oberschenkeln und seine Zehen. Ihre Fingerspitzen, die über seinen Oberkörper glitten, schienen aus Energie zu bestehen. Zumindest fühlte es sich so an.

Atmung und Herzschlag beschleunigten sich. Er vergaß alles um sich bis auf diese Frau. Nichts gab es mehr außer ihr. Sein Mund öffnete sich und er schloss die Augen. In wenigen Augenblicken würden sich ihre Lippen …

In seinem Bewusstsein entstand das Bild eines Mannes mit weißem, langen Bart.

Eorthor stieß die Frau von sich, öffnete die Augenlider und sah, wie sie rücklings in den Sand plumpste.

»Verdammt!« Er ärgerte sich. »Seit wann trittst du als Frau auf?«

»Jeder sieht mich so, wie er mich sehen möchte!«

»Mich kannst du nicht beeinflussen, DORGON!«, gab er trotzig zurück.

In einer einzigen, schnellen Bewegung sprang sie auf. »Sicher?«

Er fühlte, wie sie ihn mit geistigen Fingern umgarnte. Eorthor schüttelte den Kopf, hob abwehrend die Hände und trat einen Schritt zurück. »Falls du ein neues Hilfsvolk suchst: Vergiss es!«

»Wir sind verwandt!«

»Sind wir das nicht alle?«

»Spürst du nicht, dass eines deiner Kinder Hilfe benötigt?«

Er wischte ihre Frage mit einer Handbewegung bei Seite. »Ich liebe es nicht, mich zu wiederholen!«

»Warum bist du so widerlich?« Sie kam näher.

»Du nennst mich widerlich, ich nenne es ergebnisorientiert!«

»Eorthor, selbst nach einhundertfünfzehn Millionen Jahren ist es für dich noch nicht zu spät, dich zu ändern!«

»Komm zur Sache!«

»Du meinst emotionslos? Ohne Beschönigungen?«

Er nickte. Er würde es ertragen, egal was sie ihm erzählte.

»MODROR wird seine Inkarnation aussenden, um die vier Galaxien in sein Reich einzugliedern. Und kein Volk wird die Kraft aufbringen, sich ihm wirksam entgegenzustellen!«

»Die Alysker werden …«

»… ihm nichts anhaben!«

»Niemals! Wir werden kämpfen und ihn aus der Galaxis jagen!«, beharrte Eorthor.

Sie schwieg und er verstand, was sie meinte. Doch er glaubte ihr nicht! Die Alysker würden sich nicht in ihr Schicksal ergeben! Nicht, solange er ihr Oberster Ratssprecher war! Nicht, solange er es verhindern konnte!

»Was wir erschaffen haben, können wir auch zerstören!«, beharrte er.

DORGON lachte und Eorthor fühlte sich, als ob diese Frau ihn für einen kleinen, törichten Jungen hielte.

»Hochmut kommt vor dem Fall!«

DORGON wandte sich um und ging zurück ins Meer. Kaum war ihre Gestalt in den Fluten verschwunden, verblasste auch die Umgebung und Eorthor war wieder in Dunkelheit gehüllt.

Damals … vor 50 Millionen Jahren

Eorthor donnerte mit der Faust auf den Tisch.

»Pretor, setz dich!«, brüllte er den Ratssprecher für Gegenwartsgeschichte an. Pretor zuckte zusammen und flüchtete geradezu in den Sitz. Mit empörtem Gesicht blickte er Eorthor an. Der wusste, dass seine Vorgehensweise auch die anderen Ratskollegen echauffierte. Es kümmerte ihn nicht.

»Werte Ratsmitglieder! Ich eröffne hiermit die 987.428.739.524ste Sitzung des Alyskischen Rats. Der Kosmos gebe uns die Kraft für die richtigen Entscheidungen.«

Nach der traditionellen Antwort der Ratssprecher war dem Gesetz genüge getan.

»Das alyskische Volk verurteilt das Vorgehen der Eindringlinge auf Schärfste und stellt sich moralisch hinter die Völker der Galaxis!« Eorthor schwenkte ein Blatt Papier in der rechten Hand. »Mehr als diese Unterstützungserklärung haben wir in neun Sitzungen nicht erreicht. Das ist einem Kriegervolk unwürdig. Wir müssen endlich etwas Handfestes unternehmen! Wir müssen kämpfen!«

Täuschte er sich oder zuckten Pretors Lippen. Eorthor wartete, doch niemand raffte sich auf, ihm zu widersprechen.

»Die Eindringlinge haben die Hälfte der Galaxis erobert und die Völker regelrecht abgeschlachtet. Und die Alysker? Alles, was wir zustandebringen, ist heiße Luft zu produzieren!«

Gerade Clauco, der Ratssprecher für Kommunikation meldete sich – allerdings zaghaft – zu Wort. Umständlich stand er auf. Eorthor seufzte. Dieser Verbalkünstler hatte ihm gerade noch gefehlt.

»Liebe Ratskollegen, werter Oberster Ratssprecher!«

Sie nickten ihm dankbar zu, da er die Anstandsformen wahrte.

»Ich protestierte energisch gegen den rüden Umgangston, in dem der Oberste Ratssprecher unser geschätztes Ratsmitglied Pretor zum Platznehmen aufgefordert hat!«

Eorthor ließ Claucos Worte an sich vorbeigehen. Genauso wie das zustimmende Gemurmel. Er war dieses Gelaber, wie er es im Stillen bezeichnete, gewohnt.

Hatte DORGON recht gehabt? Hatten die Alysker den Weg aller alten Zivilisationen beschritten? Waren sie ein Volk von Rednern und Zerrednern geworden?

Eorthor verzog nachdenklich die Lippen. Die jetzige Krise schien es zu bestätigen. Anstatt sich den Horden von MODROR mutig entgegenzuwerfen, feilte man am Wortlaut von Unterstützungsmanifesten und entwarf illusorische Friedenspläne. Eorthor spürte eine nie gekannte Müdigkeit. Resignierte er? Hatte die Labertruppe es geschafft, ihn ebenfalls zu verweichlichen?

Er schüttelte den Kopf.

»… wichtig, den Eindringlingen zu zeigen, dass wir Verständnis für ihre Eroberungswut und ihre Probleme haben. Wir müssen diesem … diesem …«

»Rodrom«, half ihm Eorthor. Es war bezeichnend, dass Clauco nicht einmal den Namen des gegnerischen Kommandeurs kannte.

»Danke, werter Oberster Ratssprecher! Was ich sagen wollte, war, dass wir mit Rodrom reden müssen! Wir müssen ihn zu Verhandlungen einladen und …«

Es reichte.

»Verdrängst du die aktuellen Aufnahmen der mordenden Horden bewusst oder kennst du sie nicht?« Am liebsten wäre er zu Clauco hinabgestiegen und hätte ihn wachgerüttelt. »Sieh dir an, wie das Blut Unschuldiger spritzt! Sieh dir an, wie die Shugs den intelligenten Lebewesen die Köpfe abhacken! Flieg in die besetzten Gebiete und hör dir die Todesschreie der Völker an!«

Abwehrende Hände. Entsetzte Mienen. Verneinende Worte.

Eorthor sprang auf. Er hielt es nicht mehr aus.

»Warum verschließt ihr die Augen? Warum wollt ihr mit Worten gegen Strahler kämpfen?«

Niemand antwortete ihm.

»Verdammt, mit Rodrom kannst du nicht reden!« Seine Stimme weckte auch den letzten verschlafenen Ratssprecher. Er erntete erzürnte und verständnislose Blicke. »Er würde dir zuhören, um in dir Hoffnungen zu wecken und dich dann genüsslich in Streifen schneiden. Bei lebendigen Leibe, damit du schön laut brüllst! Habt ihr noch nicht begriffen, dass Rodrom die Inkarnation MODRORs ist? Dieses Wesen will …«

Clauco sah ihn belehrend an.

»Auch Rodrom ist ein Geschöpf des Kosmos und als solches durchaus in der Lage, Argumente zu akzeptieren, die seiner Überzeugung entgegenstehen. Bieten wir ihm auf Alysk ein Forum des Kennenlernens und der Aussprache. Er soll seine Ziele artikulieren und wir finden eine Lösung!«

»Exakt!« Betan hatte so viel Elan aufgebracht, sich zu erheben. Welch unglaubliche Kraftanstrengung nach knapp zweitausendfünfzig Sitzungen! Eorthor war nahe daran, ihm den alyskischen Verdienstorden zu verleihen. »Wir Alysker dürfen nicht – wie von unserem werten Obersten Ratssprecher unberechtigt gefordert – diese Blutlüsternheit unterstützen! Wir müssen die Völker auf den Weg des Friedens leiten!«

Eorthor platzte der Kragen. Er konnte und wollte sich nicht mehr zurückhalten.

»Ihr seid ein Haufen seniler, alter Säcke!«, schmetterte er seinen Ratskollegen entgegen. »Die letzten vierzig Millionen Jahre haben euer Gehirn zerfressen! Ihr seid inaktiv, degeneriert und bald nicht mehr überlebensfähig!«

»Eorthor, ich weise diese düsteren Schatten, die du an die Wand malst, aufs Heftigste von …«

»Halt dein Maul!«

Vor Schrecken fiel Clauco in seinen Sessel.

Sich anzulügen hatte keinen Sinn. Die Alysker waren am Ende! All die Programme, mit denen er versucht hatte, die Alysker aktiv zu halten, waren gescheitert. Eorthor beschloss, dass es Zeit war zu handeln. Er hatte ohnehin viel zu lange gewartet.

»Ich beende die Sitzung!«

Es ging nicht mehr um Gesetzestexte. Diese Zeit war vorbei. Endgültig. Der Feind war da.

*

Er schritt auf den erstarrten Egil zu, dem der Schock ins Gesicht geschrieben stand.

»Warum winselt ihr im Angesicht des Todes immer um Gnade?«, fragte Rodrom und seufzte frustriert. Wie üblich hatte es ihm der Gegner viel zu einfach gemacht. Der Freude am Kampf war schnell die Ernüchterung der Überlegenheit gefolgt. Verärgert zog er Egil, ein von Reptilien abstammendes Wesen, am Schwanz hoch und ließ ihn in der Luft zappeln. Da ihn die schrillen Schreie langweilten, rammte er ihm einen faustgroßen Stein in die Genitalien. Gleichzeitig drückte er ihm die Nasenöffnungen zu.

»Schreien und Luftholen in einem ist eine Herausforderung sondergleichen, nicht wahr?«, höhnte er.

Rodroms geistige Finger glitten in Egils Bewusstsein und quetschen es langsam zusammen. Die erstickten Angst- und Schmerzensschreie waren Balsam für seine Seele. Er riss den Geist aus Egils Körper und schob ihn in Richtung des Todes. Spaßeshalber ließ er ihn ausbrechen, verfolgte ihn und brachte ihn durch eine Tracht Prügel wieder auf die Straße der Verdammnis. Jetzt machte es Spaß. Er grinste über den Widerstand, der immer verzweifelter wurde, je näher sein Opfer dem Exitus kam. Hätte Egil gewusst, dass sich sein Peiniger daran labte, hätte er sich wohl in sein Schicksal ergeben.

Doch die Wesen der unteren Ebene waren alle gleich. Sie fürchteten den Tod und kämpfen dagegen an. Dabei gab es für sie ohnehin nichts, was ihrem Leben einen Sinn gegeben hätte. Allesamt waren sie verachtenswerte Kreaturen, die nicht einmal die Struktur des Universums erfassten, geschweige denn begriffen. Ihr einziger Zweck bestand darin, den hohen Wesen zu dienen.

Oder sie zu unterhalten – so wie dieser hier. Doch es wurde langweilig. Mit einem Schlag beförderte er Egil über die Schwelle des Todes. Gierig sog Rodrom seine verwehenden Impulse auf.

Dann wurde er abgelenkt. Etwas pochte gegen seinen Geist. Er wischte es beiseite und vernahm es bald darauf erneut – intensiver und drängender. Er hörte genauer hin und identifizierte es als Ruf.

Rodrom löste sich aus den geistigen Sphären, in denen er sich gesuhlt hatte. Er öffnete die Augen und blickte in das holografische Gesicht von Dut, dem Schiffskommandanten.

»Was?«

Seine Stimme genügte, um Dut zusammenzucken zu lassen. Er hatte immer darauf geachtet, dass seine Untergebenen in Furcht vor ihm lebten. Niemand sollte sich der Gnade des Lebens in seiner Gegenwart allzu sicher sein. Er gefiel sich in der Rolle des Unberechenbaren, der tötete, wann es ihm gefiel.

»Sektorflotte 28 wurde aufgerieben!«

»Sag das noch mal!«

Pflichtbewusst wiederholte der Shug seine Worte.

Rodrom deaktivierte das Hologramm, während die Wut in ihm hoch kroch. Wer wagte es, seine Schiffe aus dem All zu fegen?

Er erhob sich aus der Meditationsstellung und strich mit den Fingerspitzen über seinen lebenden, blutroten Umhang. In ihn hatte er die Bewusstseine seiner Opfer verwebt. Er legte ihn an und vernahm die vielen Impulse noch deutlicher. Rodrom berauschte sich an den Schreien. Mit seinen Geisteskräften drang er in den Mantel, roch den Schweiß seiner Opfer kurz vor dem Moment des Todes, fühlte ihre Furcht und hörte ihre entsetzten Schreie. Rodrom inhalierte das Verwehen ihrer Seelen, folgte ihnen und versetzte ihnen einen letzten Stoß, um sie durch die Pforte der Hölle zu schleudern, nur um sie wieder herauszuziehen.

Während er nach seinem Helm griff, suchte er das Bewusstsein jener weiblichen Morz, die ihm die Wunde quer über das Gesicht zugefügt hatte. Sein Geist legte sich um den ihren wie ein Schraubstock. Er wollte sie leiden hören! Immerhin war es ihre Schuld, dass er seit Jahrmillionen gezwungen war, diesen Helm zu tragen, weil er sich nicht die Blöße einer Verletzung geben wollte.

Als er zufrieden war, gönnte er ihrem Geist Ruhe und verließ die Kabine. Mit jedem Schritt steigerte sich sein Hass auf den Angreifer, der seine Schiffe zerstört hatte. An ein paar zufällig vorbeieilenden Shugs ließ er seinen Zorn aus. Ohne zu überlegen, zerquetschte er ihre Gehirne. Niemand würde sie vermissen, da er immer zehn Prozente mehr Besatzungsmitglieder an Bord nahm, als für die Einsatzbereitschaft notwendig. Schließlich wollte er nicht auf seine Tötungsorgien verzichten.

Rodrom betrat die Zentrale und sah mit Genugtuung, dass alle den Kopf einzogen. Nur der zweite Funker war um Sekunden zu langsam. Rodrom schlug seinen Kopf gegen die Wand und er brach zusammen. Dem Medorobot, der ihm zu Hilfe eilte, versetzte er einen mentalen Tritt und schleuderte ihn über die Köpfe der Shugs durch die Zentrale.

»Eine unserer Flotten wurde also aufgerieben!«, sagte Rodrom langsam und setzte sich in den Kommandantensessel.

Dut beeilte sich zu antworten: »Außenflotte 28! 3250 Schiffe! Keine Überlebenden!«

Seit Jahrzehntausenden hielt sich der Shug bereits als Kommandant des Flaggschiffes, weil er wusste, was Rodrom von ihm verlangte. Präzise Zahlen und Fakten in knappen Sätzen. Die Zahl der eigenen gefallenen Besatzungsmitglieder zum Beispiel interessierte Rodrom nicht.

»Außenflotte 28 … der Kommandant hieß Lop. Bis jetzt ein guter Shug, aber nicht gut genug. Sonst wäre er noch am Leben!«, sinnierte Rodrom. »Was sagen die Aufzeichnungen?«

Anstelle einer Antwort blendete der Shug ein Hologramm ein. Die eigenen Schiffe schwebten in loser Anordnung und auseinandergezogen im All. Auf die Sekunde genau stürzten zehntausend Schiffe aus dem Hyperraum und vernichteten die Flotte mit einem Paukenschlag.

»Eintrittsvektor?«

Der Shug war vorbereitet, wie erwartet.

»Die Schiffe kamen aus dem Leerraum.«

»Wieso konnten sie uns diese Flottenbewegung verheimlichen?«, murmelte Rodrom und betrachtete eine Aufnahme der gegnerischen Aufmarschgebiete vor dem Angriff. Nirgends fand er eine Lücke von zehntausend Schiffen. Also hatte sie der unbekannte Befehlshaber sukzessive abgezogen. Woraus folgte, dass seine Ortungsleute geschlafen hatten!

»Waffenanalyse?«

»Unbekannte, sechsdimensional wirkende Waffe!«

»Damit meinst du, dass sie noch nicht in Erscheinung getreten ist!«

»Exakt! Und sie entspricht nicht dem technischen Niveau der Gegner.«

Zu dumm, dass der Shug sein Lächeln nicht sehen konnte. Rodrom wusste, aus welchem Arsenal die Waffe stammte. Er hatte sich schon gefragt, wann dieses alte Volk in die Kämpfe eingreifen würde. Nun war es soweit. Und der Krieg gewann endlich an Spannung. Bis jetzt war er nicht gefordert worden.

Er hatte zwar vor ein paar Tagen bemerkt, dass die gegnerischen Flotten taktisch besser gruppiert waren als bisher, aber er hatte es ignoriert. Schließlich bedeutete mehr Widerstand auch mehr Tote. Und Rodrom war der Letzte, der so etwas verhindert hätte.

»Sonst noch etwas Wichtiges?«, fragte er gelangweilt.

»Die Gegner haben eine Funknachricht hinterlassen!«

Der Shug ging vor Rodrom in die Knie. Nicht freiwillig, da Rodrom ihm mit seinen Geistesgaben die Kehle zudrückte.

»Du weißt, warum dir die Ehre zu Teil wird, dass ich mich an dir vergreife?«

Dut röchelte. Rodrom wertete es als Zustimmung und verstärkte seinen geistigen Würgegriff.

»Abspielen«, befahl er, während er dem Shug gerade so viel Luft ließ, um den Tod auf Distanz zu halten.

Vor ihm im Hologramm entstand das Bild eines hochgewachsenen, durchtrainierten Mannes. Seine langen, braunen Haare reichten ihm bis knapp über die Schulter. In den blauen Augen spiegelte sich die Langlebigkeit und sein Gesicht zeigte einen arroganten Ausdruck.

Rodrom fühlte sich herausgefordert. Er schwor sich, dass dieser Anblick der Grimasse des Todes weichen würde.

»Wer immer die fremde Flotte anführt: Dein leichtes Leben auf diesem Feldzug ist zu Ende!«

Die Stimme klang fest und duldete keinen Widerstand. Hatte Rodrom endlich einen gleichwertigen Gegner gefunden?

»Entweder du verlässt diese Galaxis freiwillig oder wir jagen dich und deine Horden hinaus. Bis morgen hoffen wir auf deine Einsicht, danach ist Gnade für uns ein Fremdwort! Nutze die Zeit!«

In einem anderen Universum wären sie wohl Freunde geworden. Hier jedoch waren sie Feinde. Und Rodrom würde ihm den Hochmut austreiben.

»Eorthor, du hast dich nicht verändert … ganz im Gegensatz zu deinem Volk!«

*

Dut räusperte sich. »System eingekesselt!«

Die Shugs hatten Rodroms Befehle schnell und präzise ausgeführt. Achtzigtausend Schiffe – seine halbe Flotte – hatten sich im Planetensystem der Alysker verteilt und verhinderten jeden unbemerkten Ein- und Ausflug.

»Wir sind bereit!«

Rodrom blickte in die Aufnahmefelder.

»Eorthor, ich gebe dir vierundzwanzig Stunden, um mich auf Alysk zu empfangen. Anderenfalls benötigst du einen neuen Heimatplaneten!«

Kurz, prägnant und auf das Wesentliche konzentriert. So schüchtert man Gegner ein.

»Funkspruch!«

Für Eorthor war es zu früh! Nicht aber für die anderen Alysker. Deutlich hatte er gespürt, wie einige von ihnen vor Schrecken gestorben waren, nachdem die Flotte in das System eingefallen war. Er grinste.

Mit einem Nicken zeigte er dem Shug, dass er die Botschaft hören wollte.

»Hier spricht Clauco, der Oberste Ratssprecher für Kommunikation!«

Der Alysker war ihm sofort unsympathisch. Die Stimme viel zu hoch, der Körper von den Annehmlichkeiten verweichlicht und der Gesichtsausdruck hochnäsig. Rodrom musste sich überwinden, um diesem Nichts zuzuhören. Aber er tröstete sich mit der Vorstellung, dass Clauco den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben würde.

»Was?«, schnauzte er ihn an.

»In meiner Funktion als Repräsentant des alyskischen Rates ersuche ich euch um Aufklärung: Was ist der Grund für diesen Flottenaufmarsch?«

Waren das wirklich die Krieger, vor denen das Universum gezittert hatte? Rodrom konnte es nicht glauben.

»Wir verneigen uns vor dem großen Volk der Alysker!«, verhöhnte er Clauco.

»Dann ist es keine Drohgebärde?«

Der Mann beleidigte seine Intelligenz. Aber noch beherrschte sich Rodrom.

»Was führt dich zu diesem Schluss?«

»Nun, die Anzahl der Schiffe … die aktivierten Waffen …«

»Reine Vorsichtsmaßnahme! Dies ist eine gefährliche Galaxis! Erst gestern wurden über dreitausend Schiffe Opfer eines Hinterhalts.«

Ging es nach dem Gesichtsausdruck des Alyskers, so war er schockiert. »Dreitausend …«, wiederholte er stockend.

»Über dreitausend!«, korrigierte ihn Rodrom und hatte gleichzeitig eine Idee. »Clauco, ich lade dich ein, die Unterhaltung an Bord meines Schiffes von Angesicht zu Angesicht fortzusetzen. Ich möchte mit dem alyskischen Volk einen Friedensplan für diese Galaxis entwerfen.«

Der Alysker strahlte über das ganze Gesicht. Er freute sich, keine Frage.

»Ich nehme im Namen meines Volkes dankend an!«

Rodrom strich mit seinen Geisteskräften über seinen Umhang. Ein kurzer geistiger Befehl genügte, um den Fiktivtransmitter seines Schiffes zu aktivieren. Clauco wechselte den Standort.

Sichtlich irritiert glotzte der Alysker ihn an. Rodrom konnte es kaum mehr erwarten, ihn seine Präsenz spüren zu lassen. Noch aber schottete er sich ab.

»Clauco«, sagte er, »auch wir besitzen Fiktivtransmitter!« Rodrom bezweifelte, dass der Alysker die Ironie an seiner Stimme und an der Rosafärbung seines Sichtschlitzes erkannte. Es kümmerte ihn auch nicht.

»Anhand deiner Zellaura erkenne ich, dass du ein Nachgeborener bist, einer, der bei dem legendären Experiment nicht dabei war! Dennoch wirst du in die Annalen deines Volkes eingehen.« Rodrom erhob sich und schritt die Stufen zu dem Alysker hinab, der immer noch schwieg und ihn anstarrte.

»Ich lasse dir die Ehre zuteil werden«, sagte Rodrom und öffnete seinen Geist, »mein erstes alyskisches Opfer zu sein!«

Clauco röchelte und ging in die Knie. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, als Rodrom in sein Bewusstsein griff. Leicht, fast zärtlich drückte Rodrom zu und schlug ihm einige Mordmethoden vor. In mannigfaltigen Farben und ausführlichen Beschreibungen beschrieb er sie ihm. Das alleine genügte, um den Alysker an die Schwelle des Todes zu bringen. Rodrom seufzte. So machte es keinen Spaß!

Er zerquetschte Claucos Bewusstsein, als zermatsche er ein lästiges Insekt.

Hoffentlich ist Eorthor widerstandsfähiger, dachte Rodrom und kontrollierte die verbleibende Zeit.

*

Zwanzig Sekunden bis zum Fristende!

Eorthor ignorierte die Gesichter seiner Artgenossen. Worte waren genug gewechselt worden, jetzt zählten Taten. Umringt von aufgebrachten Ratssprechern wartete er im Ratshaus auf den Ablauf der Frist. Dann aktivierte er den tragbaren Funkempfänger.

»Du wolltest mich sprechen?«, fragte er den Kommandanten der Fremden. Er war etwas größer als Eorthor, verhüllte seinen Körper mit einem blutroten Mantel und trug einen roten Helm als Sichtschutz. Der Schlitz in der Mitte des Helms leuchtete hellgelb.

Eorthor wusste, dass sein Abbild projiziert wurde.

»Alysk!«, sagte der Verhüllte. »Lange ist es her!«

Keine Höflichkeiten, kein Wort des Grußes. Der Fremde lag auf seiner Wellenlänge, von der Tatsache abgesehen, dass er für die falsche Seite kämpfte.

»Wie heißt du?«

»Erkennst mich wohl nicht, Eorthor!«

Was meinte er? Und bedeutete die dunkelgelbe Farbe im Sichtschlitz Belustigung oder Spott?

»Sollte ich?«, fragte Eorthor.

»Mein Name ist Rodrom!«, antwortete der Verhüllte.

Eorthors wiederholte in Gedanken den Satz und wurde blass. Es konnte und durfte nicht wahr sein!

»Du … du lügst!«

»Der Ableitungsfehler führt zu einer Katastrophe!, waren die Worte, mit denen du deine Ausführungen beendet hast. Dummerweise hat dir niemand geglaubt – nicht einmal dein Vater!«

Eorthor benötigte keinen Beweis mehr. Der Fremde im Hologramm war nicht nur ein Alysker. Er war auch der einzige Wissenschaftler, vor dem Eorthor in seiner Jugend Respekt gehabt hatte.

»Wie?«

»Nach dem Desaster hat mich ein mächtiges Wesen gestreift, meinen Geist aus dem Körper gerissen und mir eine zweite Chance gegeben!«

Die Farbe des Sichtschlitzes wechselte kurz ins Blaue. Was hatte das schon wieder zu bedeuten?

»Aber …«

»Genug der Höflichkeiten. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen!«, schnitt ihm Rodrom das Wort ab. »Ich habe ein Geschenk für dich!« Die Inkarnation MODRORs verschwand aus dem Hologramm, nur um Sekundenbruchteile später vor Eorthor zu materialisieren. »Hier!«, sagte Rodrom und warf ihm ein rundliches Etwas zu.

Claucos Schädel!

Eorthor wich aus und der Kopf landete irgendwo hinter ihm.

Die Schreie und das Schluchzen einiger Ratskollegen ignorierte Eorthor ebenso wie die Brechgeräusche. Es war offensichtlich, dass sich Rodrom in ihrem Ekel suhlte.

»Du hast es gewagt, meine Flotte anzugreifen und sie auch noch zu zerstören! Wer denkst du, dass du bist?«

Wortlos ging Eorthor in eine Kampfstellung über.

»Du willst kämpfen?«

Die Farbe in Rodroms Sichtschlitz wechselte von gelb nach orange. War er belustigt?

Eorthor sprang, zielte mit dem Fuß auf Rodroms linke Körperhälfte, traf und glitt gleichzeitig durch den Körper des Anderen. Mit einer Rolle fing er sich am Boden ab und wirbelte herum.

Rodrom lachte kurz. Der geistige Sturm zerrte an Eorthor, doch er stemmte sich dagegen und verhinderte, dass er in die Knie ging. Allerdings hatte er keine Kraft, die Schweißperlen von seiner Stirn zu wischen.

»Du bist stark«, sagte Rodrom. »Zumindest stärker als deine Ratskollegen. Einst große Wissenschaftler und Kämpfer, nun nichts anderes als sterbende Würmer! Nicht mehr lebensfähig.«

Eorthor war geneigt, ihm zuzustimmen. Keiner hatte Rodroms erste Attacke überlebt. Alle lagen tot zwischen den Stühlen des Ratssaales.

»Warum kämpfst du unfair?«, fragte er Rodrom.

»Ich konzentriere mich auf meine Stärken!«

Prompt wurde Eorthor hochgerissen und gegen die Wand geschleudert. Obwohl sein Rücken schmerzte, richtete er sich auf. Er presste einen Sensor auf seinem Multifunktionsarmband.

»Dann werden wir deine Stärken einschränken!«, kommentierte er die Bewegung. Unter dem Boden liefen eilends installierte Parablocker an.

Eorthor griff über seinen Kopf in die Luft, fasste in eine Hyperraumblase und holte sein Caritschwert heraus. Einst hatte es seinem Vater gehört, der damit gegen den Chaotarchen SAMORGH gekämpft hatte.

»Dieses Schwert hat schon die Vorfahren deines Meisters in Bedrängnis gebracht!«, sagte er, drehte sein rechtes Handgelenk und damit auch das Schwert. Er fasste den Griff mit beiden Händen, links über rechts, wie er es in unzähligen Übungstagen gelernt hatte, und stieg über die toten Leiber seiner Ratskollegen. Rodroms Sichtschlitz leuchtete hellrot. Vermutlich, weil er gerade bemerkt hatte, dass seine Geisteskräfte neutralisiert waren.

Eorthor verkniff sich das Lächeln nicht, während er auf Rodrom zustampfte. Glaubte sein Gegner wirklich, dass er sich nicht vorbereitet hatte? Unterschätzte er ihn wirklich derart?

Zwei Meter vor Rodrom machte er einen Ausfallschritt. Rodrom zuckte nach hinten. Sein Sichtschlitz war immer noch rot. Er besaß nun fast die Farbe seines Umhangs.

»Zeig mir, wie gut du wirklich bist!«, forderte Eorthor seinen Gegner auf. Es irritierte ihn, dass er die Körpersprache Rodroms durch den kompletten Körperumhang und die Maske nicht lesen konnte. Aber er vertraute auf seine außergewöhnlichen Fähigkeiten, auch wenn ihn sein Gegner um einen halben Kopf überragte. Eorthor hatte schon weit größere Gegner bezwungen.

An zwei Stellen von Rodroms Oberkörper wurde der Umhang durchlässig, links und rechts. Mit einem Mal ragten zwei Arme heraus und hielten ein Schwert, das jenem von Eorthor sicher ebenbürtig war.

Rodrom war knapp einen halben Kopf größer als Eorthor. Also würde es ein fairer Kampf werden.

»Lass uns spielen!«, rief Rodrom und drang auf ihn ein.

Als sich die Cartitschwerter berührten, ertönte ein heller Ton und Funken sprühten. Eorthor wehrte eine Hiebserie ab und ging zum Angriff über.

Eine Täuschung, ein Sprung, ein Ausfallschritt und Eorthor stieß mit der Schwertspitze in Rodroms Mantel. Er ließ das Schwert von links nach rechts und wieder zurückwandern, bevor er es zurückzog und auf Distanz ging.

Rodrom schmaler, kaum zwei Zentimeter großer Sichtschlitz weitete sich. Blitze zuckten darin. Rodrom schrie. Offenbar war er verletzt.

Eorthors triumphierte. Er hatte der Inkarnation von MODROR Schmerzen zugefügt!

Sofort preschte er nach vorne, das Schwert zum finalen Schlag angewinkelt.

Die Hitze des mannsdicken Waffenstrahls, der vor ihm in den Boden schoss, verbrannte ihm fast das Gesicht. Er sprang zurück, während die Geräte, mit denen er Rodroms Geisteskräfte lahmgelegt hatte, zerbarsten. Offenbar hatte Rodrom von seinem Flaggschiff Hilfe angefordert.

Sekunden später traf ihn Rodroms mentaler Angriff. Er fegte seine Abwehrmauern hinweg wie der Wind lose Blätter von einer Herbstwiese. Eiserne Finger legten sich um seinen Hals, während eine stahlharte Faust auf seinen Geist drosch. Immer und immer wieder.

»Du verfluchter Hund!«

Rodroms Stimme ließ keinen Zweifel an seiner Absicht. Er wollte töten! Und er würde es auch.

Eorthor sank zu Boden, röchelte und schrie verzweifelt nach Hilfe. Doch niemand rettete ihn vor Rodroms Attacken.

Und es wurde schlimmer.

»Eorthor, obwohl du erst am Anfang deines Leidens bist, gewähre ich dir einen Einblick in das Ende!«

Eorthor erkannte, dass Rodroms Umhang lebte. Millionen Bewusstseine prasselten auf ihn ein und erzählten ihm die Geschichte ihres Todes. Trotz der Vielzahl hörte er sie alle. Er verstand sie nicht nur, er erlebte auch ihren Tod.

Jenen von Tihomir. Rodrom hatte ihn bei lebendigem Leibe gehäutet.

Jenen von K’zeng. Rodrom hatte sie bei lebendigem Leibe filetiert.

Jenen von Chtulu. Rodrom hatte ihn bei lebendigem Leibe verspeist.

Jenen von Rzazuu. Rodrom hatte es bei lebendigem Leibe verbrannt.

Jenen von Libysta. Rodrom hatte sie bei lebendigem Leibe ausgeweidet.

Und Eorthor starb gemeinsam mit ihnen. Einmal, zweimal, dreimal. Millionen Male.

Und doch lebte er, auch wenn er immer noch in kalter Dunkelheit schwebte.

»Du solltest dich wimmern hören, Eorthor!«

Ein Schmerz zuckte durch seinen Unterkörper. Hatte ihn Rodrom getreten? Und warum fühlte er seinen Körper wieder?

Etwas griff in seine Haare und zerrte ihn aus der Ratshalle. Täuschte er sich oder bebte der Boden?

»Ihr Alysker seid nichts anderes als Würmer! Und weißt du, was ich mit Würmern mache, Eorthor?«

Er schwieg und schien dem Klang seiner Stimme zu lauschen.

»Ich zertrete sie, so wie ich in diesem Augenblick Millionen von Alyskern töte!«

Eorthor fühlte sich, als wurde er aufgehoben.

»Ich lasse dich an ihrem Schmerz teilhaben«, sagte Rodrom. Todgeweihte Seelen umgaben Eorthor, drangen in ihn ein und versuchten, ihn als Anker zu verwenden. Doch sie verloren den Kampf gegen Rodrom.

Eorthor krümmte sich, zuckte, schrie und wimmerte.

»Sieh es positiv«, schlug Rodrom vor. »Du musst dich nie wieder über deine degenerierten Alysker ärgern!«

Eorthor brüllte immer noch.

»Der kümmerliche Rest stirbt durch den Aufprall von Smis, deinem Mond!«

Er hörte Rodrom lachen. Sehen konnte er ihn nicht in dieser alles umhüllenden Dunkelheit.

»Damit entferne ich die alyskischen Kunstgeschöpfe aus dem Universum!«

Kunstgeschöpfe?

Rodrom lachte. Offenbar las er seine Gedanken.

»Glaubst du wirklich, die Alysker sind durch einfache Evolution zu so genialen Wissenschaftlern geworden?«

Eorthor wollte widersprechen. Es blieb bei dem Versuch.

»Die Kosmokraten haben euch gezüchtet, um einen einzigen Auftrag auszuführen! Sie haben euch aus dem Urschlamm geholt und mit höherem Wissen ausgestattet als irgend jemanden sonst in diesem Universum! Und was macht ihr?«

Diesmal traf ihn etwas im Gesicht.

»Ihr verbockt es!«

Blitze zerrissen die Dunkelheit. Zuerst vereinzelt, dann immer mehr.

»Übrigens, Eorthor, du bist nur deshalb aktiv geblieben, weil sie gedacht haben, sie benötigen dich noch!«

Es wurde heller. Eorthor erkannte bereits schemenhafte Umrisse.

»Du hältst dich für genial, dabei bist du nichts anderes als eine Marionette!«

Eorthor hatte schlagartig seinen Körper wieder. Er blinzelte. Er lag am Platz der Ahnen. Rodrom stand vor ihm. Der Umhang zeigte keine Einschnitte mehr. »Willkommen auf einem sterbenden Planeten!«, begrüßte ihn Rodrom. »Keine Sorge, Smis hat Alysk auf der anderen Planetenseite getroffen. Es dauert seine Zeit, bis auch hier die Lavaströme an die Oberfläche treten!«

Erneut traf ihn ein mentaler Schlag, der ihn in die Dunkelheit zurückbeförderte. Eorthor wollte nur noch sterben.

»Nein, Eorthor, ich gönne dir die Gnade des schnellen Todes nicht. Du wirst den Untergang deines Planeten miterleben bis dich sein heißes Inneres verschlingt!«

Eorthor spürte das Beben unter seinem Körper.

»Ich verlasse dich jetzt, da die restliche Galaxis darauf wartet, von mir erobert zu werden!«

Ein Tritt folgte, dann wurde Rodroms übermächtige Präsenz schwächer und verschwand, genauso wie der Druck, der auf Eorthor lastete. Dennoch blieb er in der Dunkelheit. Wie ein Endlosband kreisten die Worte Rodroms durch seinen Geist. In der Ferne winkten ihm der Wahnsinn und der Tod und schritten auf direktem Weg auf ihn zu. Sie schienen Eorthor wie ein wohliges Bett nach mehreren durchwachten Nächten. Der einzige Ausweg aus seiner jetzigen Lage.

Sein Leben, eine einzige Lüge. Ersonnen von Wesen, die über ihm thronten und die ihn wie eine Marionette bewegten, immer wenn sie an den Schnüren zupften. All die Mühe, mit der er Jahrmillionen lang geforscht hatte, war vorgegeben gewesen! Waren es seine eigenen Gedanken oder hatten sie ihm die Geistesimpulse in das Gehirn gelegt?

Dachte er jetzt überhaupt selbst? War er überhaupt real? Falls ja, entschied er sich dann selbst für den Tod oder erfüllte er erneut einen Zweck, litt er als Figur eines Spiels?

Egal!

Die Gestalt des Todes war näher gekommen. Eorthor fühlte bereits die Kälte, die sie ausstrahlte. Darüber konnte ihr freundliches Lächeln nicht hinwegtäuschen. Ja, er, der den Tod immer als nicht relevant begriffen hatte, sehnte ihn nun herbei. Der Tod löschte die Demütigungen aus, bestrich sie mit Dunkelheit, bedeutete Vergessen.

Die Erde bebte. Smis, der Mond, sein Mond war auf der anderen Planetenhälfte eingeschlagen und hatte die Erdkruste aufgerissen. Eorthor glaubte die Hitze der Lava zu spüren, die aus dem Planeteninneren an die Oberfläche trat. Alysk würde sterben. So wie er.

Kraftlos ließ er seinen Kopf zurück auf den Boden fallen. Doch statt Beton fühlte er Sand unter seiner Haut. Er hätte dieser plötzlichen Änderung des Untergrunds keine Bedeutung zugemessen, wäre da nicht auch dieses aufmunternde Gefühl in ihm.

Er hob den Kopf. Vor ihm saß jene Schönheit, die ihn vor Jahrmillionen schon einmal zu sich geholt hatte, die er wie Abschaum behandelt hatte.

»Verzeih«, murmelte er.

Sie lächelte. Ihr Geist drang in sein Bewusstsein und sandte ihm beruhigende Impulse. Sie vergab ihm! Ein schwacher Trost, aber immerhin! Sie war, was er in all den Jahrmillionen gesucht und nie gefunden hatte: die perfekte Frau.

Er seufzte. Er hatte nie verstanden, warum es zwischen Enomina und ihm nicht geklappt hatte. Dabei hatte er sich so bemüht.

»Du hast sie geliebt, wie niemanden anderen davor und danach!«

Sie las seine innersten Gedanken, doch es war ihm gleichgültig.

»Ja«, flüsterte er.

»Du warst zu hart zu dir selbst, Eorthor. Und zu all den anderen, die deine Nähe gesucht haben!«

Er nickte. Doch es war zu spät. Er hatte all die Jahrmillionen verschenkt, weil er nach Perfektionismus gestrebt hatte und nie mit dem Erreichten zufrieden war.

»Es ist niemals zu spät, Eorthor!«

»Für mich schon!«

»Eorthor, ich blicke in die Zukunft und sehe dich glücklich!«

Er lächelte gequält.

»Manchmal benötigt man einen Dämpfer, um alles besser verstehen zu können! Du wirst dein Glück finden, vertraue mir!«

»Mein Glück«, raffte er sich auf, »liegt in den Armen des Todes!« Er fragte sich, warum sie sein Ende verzögerte. Irritiert bemerkte er ihre Hand auf seiner Schulter und die belebenden Impulse, die sie ihm schenkte.

»Du darfst ihm keinen Glauben schenken!«

»Wem?«, fragte Eorthor. Alles war so weit weg.

»Rodrom!« Sie lächelte. »Interessiert dich die Wahrheit?«

»Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters«, zitierte Eorthor seinen ehemaligen Lehrer Shaojun. Es war bezeichnend, dass ihm ein Toter einfiel.

»Denk nicht an die Vergangenheit! Orientiere dich an der Zukunft!« Ihre Stimme hüllte ihn ein, richtete ihn auf und holte seine Aufmerksamkeit zurück. Wozu?

»Sowohl MODROR als auch ich benötigen diese Galaxis. Nur hier, am Ort unserer Entstehung können wir reifen.«

Eorthor blickte sie verständnislos an. Was meinte sie mit reifen?

»Du und ich, Eorthor, sind gleich alt. Ich habe diese Zeit genutzt, um Bereiche des Universums zu erforschen, die du nicht einmal dem Namen nach kennst. Ich habe Dinge gesehen, die selbst einen wachen und flexiblen Geist wie dich an den Rand des Wahnsinns treiben würden.«

Er wollte sich gar nicht vorstellen, was das gewesen sein könnte. An einem anderen Ort und vor allem zu einer anderen Zeit – ja. Hier und jetzt hatte er keine Kraft dazu.

»Egal, wie weit ich in den Kosmos eingedrungen bin, es gab immer einen Anker. Dieser Anker befindet sich hier, Eorthor! In dieser Galaxis, ja sogar in diesem System!«

Dann ist auch MODROR hier verankert!

Er wusste nicht warum, aber er dachte mit.

»Wann immer ich kurz davor war, aufzugeben, bin ich hierher zurückgekommen, in meine Geburtsgalaxis. Ich habe mich von den Strahlen des Kerns wärmen und berieseln lassen und ich habe gespürt, dass ich eines fernen Tages an den Ort meiner Geburt zurückkehre – zurückkehren muss!«

Eorthor nickte.

»Zumindest, um zu vollem Potential zu reifen und neue Höhen zu erklimmen. Neue Höhen, von denen selbst die Kosmokraten und Chaotarchen nur träumen können!«

Er fühlte ihre Vorfreude.

»Und MODROR will dasselbe …« Langsam dämmerte es Eorthor, dass sein Lebenswille zurückkehrte.

»Du hast recht!« Sie wirkte betrübt. »Er benötigt zwar den selben Ort, doch andere Voraussetzungen!«

»Eine entvölkerte Galaxis!«

»Ich sehe, du erkennst!« Sie lächelte. »In all den Jahrmillionen habe ich gehofft, dass unter der Anleitung der Alysker eine blühende Welteninsel voller Völker entsteht, die aus den Galaxien herausragt! Im Gegensatz zu MODROR benötige ich das Leben, um einen weiteren Schritt machen zu können.«

»Und wir haben versagt. Zweimal!«

Er merkte, wie sie seinen Frust neutralisierte.

»Du bist zu hart zu deinem Volk! Ihr habt vom zweiten Auftrag nichts gewusst. Es war mein Fehler, ich habe immer nur gehofft, anstatt es euch zu sagen. Aber mir waren die Hände gebunden. Bis jetzt!«

Wie um ihre Worte zu unterstreichen, schlug sie mit der Faust in den Sand.

»Unsere Entstehungsgalaxis war Tabu, doch MODROR hat die Abmachung mit der Invasion gebrochen!«

Eorthor stützte sich auf die Oberarme. Sie hatte sein Interesse geweckt.

»Du, Eorthor, bist mein Trumpf!«

»Ich?«

»Ich sagte bereits, dass Rodrom sich nicht präzise ausgedrückt hat! Es stimmt, dass die Kosmokraten die Galaxis bewusst für ihr Experiment ausgewählt haben. Und es stimmt, dass sie spezielle On- und Noon-Quanten ausgestreut haben. Aber alles andere haben sie nicht beeinflusst, weder die Entstehung des besten Wissenschaftsvolkes dieses Universums, noch deine Genialität!«

Eorthor wollte abwinken, doch sie unterbrach ihn.

»Erinnerst du dich an den kosmischen Applaus?«

Er nickte. Wie hätte er ihn jemals vergessen können?

»Oh, Eorthor, de facto hast du ihn vergessen! Nein, schüttle nicht den Kopf! Wann hast du ihn zuletzt gespürt?«

DORGON hatte recht. Er hatte sich so daran gewöhnt, dass er es nicht mehr wahrnahm.

Augenblicklich konzentrierte er sich darauf. Das leise Wispern, das seinen ganzen Körper ausfüllte, schwoll an. Zuerst langsam, dann immer schneller und immer lauter. Wieder glaubte er auf einer Bühne zu stehen, geblendet vom Scheinwerferlicht und nur den Applaus hörend.

Er straffte sich.

Verdammt, er war etwas Besonderes! Er war das Jahrmillionengenie! Und er würde nicht resignieren! Vor nichts und niemandem! Und schon gar nicht vor der verfluchten Inkarnation einer Entität!

Rodrom … ohne die Alysker würdest du nicht einmal existieren!

»Ich sehe, du bist wieder der alte!«

»Erst, wenn ich mir jemanden vorgeknöpft habe!« Er sprang auf und blickte auf DORGON hinab.

»Was willst du tun?«

Sein Blick fiel auf die Sonne, die hinter ihr im Meer versank.

»Du weißt, was ich Enomina damals in dieser Bucht vor ihrem Tod gesagt habe?«

»Dass sie mit dem Lächeln unrecht hatte …«

»Dass das Farbenzusammenspiel zwischen Sonne und Meer aussieht, als ob jeden Augenblick etwas Dramatisches passieren würde!«

Sie nickte kurz.

»Du vergisst, dass auch ich auf diese Galaxis angewiesen bin!«

Natürlich kannte sie seine Gedanken! Doch es interessierte ihn nicht. Sie war um nichts besser als MODROR. Auch wenn sie humaner vorging, hatte sie Völker manipuliert, um ihre Ziele zu erreichen. Sie sah in den Lebewesen einen Nährboden, um höhere Sphären erklimmen zu können.

Was nützte es den Alyskern oder irgendeinem anderen Volk, wenn sie sich weiterentwickelte?

»Es tut mir leid«, sagte er. »Jetzt ist es persönlich!«

Sie stand auf und schenkte ihm jenes bezaubernde Lächeln, das ihn fast um den Verstand brachte. Aber er schottete sich dagegen ab.

»Tu, was du tun musst!«, sagte sie und verschwand. Mit ihr der Strand, die Palmen und die Bucht.

Eorthor war nach Alysk zurückgekehrt. Auf einen sterbenden Planeten, dessen Himmel voller Raumschiffe hing. Im Angesicht des Todes hatten die Alysker ihre Lethargie abgeschüttelt und waren aktiv geworden. Sie flohen.

Auch er würde Alysk verlassen. Nicht um zu fliehen, sondern um Rache zu nehmen. Um einen Krieg zu gewinnen! Eorthor sprang auf. Der kürzeste Weg in sein Raumschiff führte über den Transmitter im Ratshaus. Sein Plan stand fest …

*

Festen Schrittes ging der Alysker durch den Raum und trat hinter die Konsole, bevor sein Schiff den Hyperraum verließ. Er ignorierte alle Funkanrufe der Shugs und steuerte direkt auf das Flaggschiff zu. Niemand hinderte ihn daran. Vermutlich hatte Rodrom entsprechende Befehle erteilt.

Eorthor aktivierte den Funk. Er stellte sich vor, wie sein Abbild direkt vor Rodrom aus dem Nichts entstand. Im Gegenzug zeigte ihm ein Hologramm das rot flammende Energiewesen, wie es in einem Sessel thronte.

»Rodrom, du hast zwei Stunden, um deine Flotte zu retten!«, sagte Eorthor anstelle einer Begrüßung.

Der schmale, in sattem gelb leuchtende Sichtstreifen färbte sich sekundenlang rot. Sonst blieb er regungslos, zeigte keine Gefühle. War die Inkarnation MODRORs überrascht oder verärgert?

»Ich sorge dafür, dass MODROR diese Galaxis nicht als Sprungbrett für seine Entwicklung nutzen kann. In einer Stunde neunundfünfzig Minuten und …«, Eorthor kontrollierte den Countdown, »und siebenundzwanzig Sekunden explodiert eine Bombe, die alles im Umkreis von zwanzig Millionen Lichtjahren vernichtet!« Nach einem Sensordruck jagte ein Dateipaket in die Empfänger von Rodroms Schiff. »Bevor du dich unnötig bemühst: Die Bombe ist nicht zu orten! Daher schicke ich dir eine Simulation der Bombenwirkung.«

Erneut leuchtete der Sichtschlitz blutrot auf.

»Auch DORGON benötigt diese Galaxis!«

Als Antwort zuckte Eorthor mit den Achseln.

»Das wagst du nicht!«

Eorthor schwieg.

»Du willst vier Galaxien und das Leben darin vernichten, bevor es in MODRORs Hände fällt?«, fragte Rodrom kalt.

»Es gibt keinen Unterschied, ob ich alle Lebewesen zum jetzigen Zeitpunkt töte oder ob MODROR es tut, nachdem du die Galaxis eingenommen hast. Tot ist tot!«

Eorthor schaltete grußlos ab. Er hatte gesagt, was es zu sagen gab. Dann setzte er sich auf den Boden und begann zu meditieren. Er löste seinen Geist vom Körper, erweiterte ihn und wurde eins mit dem Kosmos. Der Alysker spürte die Hintergrundstrahlung, jene Nachwehen der Geburt des Universums, den Hauch der Sonnenimpulse, den heißen Atem der Schwarzen Löcher, die Kämpfe der Superintelligenzen und das Kräftemessen der Kosmokraten und Chaotarchen. Ein letztes Mal tauchte er ein in den kosmischen Applaus, der ihm entgegenschlug. Er verbeugte sich, lächelte in die Scheinwerfer und trat ab.

Als er die Augen öffnete, blieb ihm noch eine Minute.

Rodrom hatte alle Schiffe bis auf sein eigenes abgezogen. Dreißig Sekunden vor Ablauf des Countdown beschleunigte Rodroms Flaggschiff und raste dem Hyperraumeintrittspunkt entgegen. Als die Zahl Null erschien, lächelte Eorthor.

Und Aus!, dachte er.

Doch nicht passierte. Alles blieb unverändert.

Eorthor sprang auf. Nach den Daten in den Konsolen hatte die Bombe gezündet. Warum zur Hölle war er noch am Leben?

»Nettes Bömbchen!«

Eorthor wirbelte herum, als er Rodroms Stimme hinter sich hörte. Die Inkarnation MODRORs stand mitten in der Zentrale der SMIS.

»Du hattest unrecht! Die Bombe ist ortbar. Zwar erst nach der Zündung, aber danach bleiben Bruchteile von Sekunden, die ich, mein Bester, nützen kann.«

Der Schrei blieb Eorthor in der Kehle stecken. Er starrte Rodrom an.

»Ich habe ihre Wirkung modifiziert!«, erklärte der Rote mit einem gehässigen Unterton in der Stimme, während sein gelb leuchtender Sehschlitz sich blau färbte.

»Viel Spaß im neuen Kreuz der Galaxien!«

Rodrom verschwand so schnell wie er gekommen war. Sein Schiff wechselte in den Hyperraum und das Chaos begann. Eorthor studierte die Amplituden der Bombenwirkung und musste sich an einer der Konsolen abstützen. Er verstand, was Rodrom getan hatte. Dann brach er zusammen und schlug auf dem Boden auf.

*

Hart, kalt und überhaupt nicht kuschelig!

Halb aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, nahm Eorthor immerhin den Boden unter seinem Körper wahr. Er lag inmitten der Zentrale seines Raumschiffes, weil sein Geist die Auswirkungen der Bombenexplosion nicht ertragen hatte.

Eorthor, der genialste aller Alysker, war ohnmächtig geworden!

Nicht auszudenken, wenn das bekannt werden würde! Niemand durfte von seiner Ohnmacht erfahren!

Eorthor beruhigte sich, da nur der Bordcomputer Zeuge dieser persönlichen Niederlage gewesen war. Ein paar gezielte Eingriffe in die Software und sein Sturz war nie passiert.

Etwas zischte.

Eorthor öffnete die Augen. Ein Medoroboter hatte ihm soeben irgendein Medikament injiziert. Vermutlich ein Kombinationspräparat, kreislaufstärkend und beruhigend zugleich.

Mit einem Satz sprang Eorthor auf die Füße, hebelte die Maschine mit einem Schlag aus und fegte sie mit einem gezielten Wurf an die Wand. Knapp vor dem Aufprall erzeugte der Roboter ein Prallfeld, das ihn bremste. Eorthors Angriff verhöhnend schwebte er auf ihn zu.

»Verzieh dich!«, herrschte Eorthor den hartnäckigen Medoroboter an, der sofort die Richtung wechselte. Der Alyske dehnte die Schultern.

»Hologramme aus!«, befahl er, bevor er sich zu den Hauptkonsolen umdrehte. Er wollte Schritt für Schritt überprüfen, ob seine Befürchtungen mit der Realität übereinstimmten.

Das Pult lag dunkel vor ihm. Nur einige Farbkleckse signalisierten die hundertprozentige Einsatzbereitschaft der SMIS. Nach dem Antippen mehrerer Sensoren bildete sich ein Hologramm vor ihm. Es zeigte Zahlen und Diagramme, in denen eine konkrete Emissionslinie fehlte.

Er seufzte. Wie befürchtet, hatte die Explosion der Bombe die Verankerung der Galaxis aufgelöst. Das fehlgeschlagene Experiment vor hundertfünfundvierzig Millionen Jahren hatte nicht nur zu jenen »Geschenken« der Kosmokraten geführt, sondern auch zum Zusammenbruch des Schwerkraftgefüges von Jianxiang und seinen drei Schwestergalaxien. Alle vier Sterneninseln drifteten seither aufeinander zu und würden in absehbarer Zeit verschmelzen.

»Absehbar für einen Alysker«, murmelte Eorthor. Tatsächlich würden noch mehrere hundert Millionen Jahre vergehen, bis sich aus der kosmischen Katastrophe eine Mega-Galaxie entwickelt.

Doch Eorthor hatte das nicht akzeptiert, schließlich nannte man ihn nicht umsonst das Jahrmillionengenie! Er und einige Kollegen hatten innerhalb kürzester Zeit – eine Million Jahre, falls er sich recht erinnerte – Jianxiang stabilisiert und verankert. Er war heute noch stolz auf die technische Anstrengung, die dem zugrunde lag.

Doch Rodrom hatte die Stabilisierung binnen Sekunden zunichte gemacht.

Die Bombe hatte mehrere tausend Sonnen ihrer speziellen fünfdimensionalen Strahlung beraubt und sie damit unbrauchbar gemacht für die Stationen, die sie über Millionen von Jahren mit Energie versorgt hatten. Jene Stationen, die für die Verankerung nötig waren.

Eorthor aktivierte ein weiteres Hologramm und rief die Positionen auf. Innerhalb der Galaxis waren die Stationen annähernd gleich verteilt. Keine einzige funktionierte. Nicht einmal ein Kontakt war herstellbar.

Eorthor unterdrückte einen Fluch und jagte Funkimpulse in das All. Eine der Sonden, die außerhalb der Galaxis stationiert war, meldete sich innerhalb einer Sekunde und lieferte ein gestochen scharfes Bild des für knapp hundertvierzig Millionen Jahre aufgehaltenen Untergangs.

Im normalen Sichtbereich gab es noch keine Auswirkungen, in den anderen schon. Die Gravitationslinien bildeten keinen Kreis mehr, sondern waren aufgerissen. Der gemeinsame Schwerpunkt der vier Galaxien zerrte sie bereits in seine Richtung. Bald würde auch die Materie folgen.

Eorthor zoomte die Osthälfte der Galaxis heran, also jene Seite, die dem neuen Schwerkraftzentrum am nächsten lag. Hyperstürme nie gekannten Ausmaßes rasten durch den Raum, zerstörten Planeten und brachten Sonnen an den Rand von Supernovae. Die außer Kontrolle geratene Schwerkraft riss ganze Sternensysteme aus dem Verbund und löste stellare Desaster aus.

Eorthor stellte sich die Szenen vor, die sich in den Systemen abspielten. Die Lebewesen versuchten sich vor den Gewalten ins Sicherheit zu bringen. Transmitter verboten sich wegen des hohen Risikos von Fehlsprüngen angesichts solcher Energieturbulenzen von selbst, blieb die Raumfahrt. Auch sie wurde durch Hyperbeben zum Vabanquespiel. Einstweilen nur in der Osthälfte der Galaxis, doch mit zunehmender Ausbreitung der Stürme war auch der Rest betroffen. Eorthor betrachtete die Stärke der Hyperbeben und rechnete kurz nach.

Zwei Tage. Höchstens!

Dann hätten die Gewalten die komplette Galaxis in Geiselhaft genommen. Und niemand würde sich dagegen schützen, geschweige denn etwas tun können. Außer die Alysker. Sie waren als einziges Volk in der Lage, den Stürmen zu trotzen. Verhindern konnten auch sie die Unbilden der Natur nicht.

Bleibt eine Galaxis für uns selbst, dachte er voll Ironie und aktivierte den Funkempfänger.

»… mehrere Millionen Tote …«

»… heftige Sonneneruptionen, vierte Planet vernichtet …«

»… Hypertriebwerk vernichtet … sind eingeschlossen …«

»… Chaos, reines Chaos …«

»… Hypersturm hat uns überrascht … hängen zwischen den Sternen …«

»… All aufgewölbt … Hyperflug unmöglich …«

»… das Ende naht nicht, es ist bereits hier!«

Eorthor schaltete ab, weil ein geradezu perverser Gedanke in ihm aufstieg. MODROR benötigte eine leere Galaxis für seine Weiterentwicklung und Rodrom hatte dafür gesorgt – mit Eorthors unfreiwilliger Hilfe. Keine Flotte des Universums wäre in der Lage gewesen, die Galaxis schneller von Leben zu säubern als Eorthors Bombe.

Eorthor schlug mit der rechten Faust auf die Konsole. Es musste eine Lösung geben. Es gab immer eine!

Er war nicht hundertvierzig Millionen Jahre alt geworden, um sich von der Inkarnation einer negativen Entität überrumpeln zu lassen. Rodrom mochte einen Kampf gewonnen haben, aber den Krieg hatte er noch lange nicht für sich entschieden. Nicht, so lange Eorthor ein Wörtchen mitzureden hatte.

Mit einem Sensordruck ging er auf Sendung.

»Eorthor an alle!«

Er brauchte kein Blatt vor den Mund zu nehmen, da er auf der abgeschirmten Frequenz der Alysker funkte. Die restlichen Völker der Galaxis kämpften mit anderen Problemen als dem Knacken verschlüsselter Funkfrequenzen.

»Alle Überlebenden begeben sich sofort ins Vernir-System! Koordinaten folgen!«

Wäre doch gelacht, wenn er und seine Artgenossen sich nicht gegen Rodroms Langzeitpläne stemmen konnten. Da er immer noch der Oberste Ratssprecher war, würde er den Männern und Frauen seines Volkes zur Not in den Allerwertesten treten. Er, Eorthor, hatte noch immer Mittel und Wege gefunden. So würde es auch diesmal sein!

*

Eorthor wuchtete sich in den Sessel.

»Normalraum-Eintritt!«

Der Computer erzählte nichts Neues. Im Außenholo hatte die Darstellung des Sonnensystems bereits das graue Wabern des Zwischenraumes abgelöst. Auf seiner Kommandokonsole schnellten die Anzeigen für aktive Taststrahlen in einem blauen Diagramm in die Höhe.

»832.829 Schiffe!«, meldete die Ortung und listete alle Schiffstypen penibel auf. Von Raumjachten über Großraumer bis zu Kleinstjägern waren alle vorhanden. Im Laufe der Zeit hatten sich die Alysker zu Einzelgängern entwickelt. Jeder verfügte über ein Raumschiff, doch nicht alle waren mit eigenen Schiffen von dem sterbenden Heimatplaneten geflohen.

»In der Summe 11.852.367 Alysker!« Der Computer hatte die Individualimpulse schneller gezählt, als Eorthor den Befehl dazu geben konnte.

»Knapp elf Millionen eines einst großen Volkes«, murmelte er. Blieben immer noch genug, um seine Pläne zu unterstützen. Aktiv zu unterstützen!

Er würde die Leistungen der Alysker auf jenes Niveau zurückführen, das vor der Katastrophe Standard gewesen war. In der Vergangenheit hatten seine Programme gegen die Degeneration wenig Früchte getragen, aber seit der Zerstörung von Alysk war ein Ruck durch sein Volk gegangen. Sobald er sich auf seine Artgenossen in den Schiffen konzentrierte, spürte er die Aufbruchstimmung.

Erste Funkanrufe trafen ein, die er nicht annahm. Wie befohlen vertröstete der Computer die Anrufer auf die Ansprache, die Eorthor halten würde. Ganze zwei Tage hatte er gewartet, damit sich alle Alysker im System versammeln konnten. Da kam es auf einige Minuten mehr oder weniger nicht an.

Mit einem Sensordruck rief er die Systemdaten ab. Sieben Planeten umkreisten die gelbe Sonne. Nur der Dritte trug einen Namen, die übrigen hatte er mit Ziffern versehen. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, sie zu benennen: Sie spielten in seiner Planung keine Rolle.

Eorthor zoomte den innersten Planeten heran. Seine enge Kreisbahn um den Stern hatte ihn zur Gluthölle werden lassen, auf dem Temperaturen um die vierhundert Grad keine Seltenheit waren. Für den zweiten Planeten, im Durchmesser etwas kleiner als Alysk, ergaben die Messwerte eine Durchschnittstemperatur von minus zwei Grad. Obwohl eine Eisschicht ihn völlig bedeckte, blieb er bis auf die Polregionen von Schnee- und Eisstürmen verschont. Als Grund nannte der Computer die fehlende Achsenneigung des Planeten. Damit fehlten die Jahreszeiten und dies wiederum machte ihn zum geeigneten Rückzugsplaneten.

Wieder schwenkten die Kamerafelder. Der Asteroidengürtel zwischen dem ersten und dem zweiten Planeten zeugte von einem vor Jahrzehntausenden zerstörten Himmelskörper. Die Vegetation ähnelte der von Alysk, doch war diese Welt einem hyperphysikalisches Experiment Eorthors zum Opfer gefallen. Nur er und die Messgeräte waren Zeuge ihres Auseinanderbrechens gewesen, und er hatte nicht vor, es bekannt zu machen.

Von den restlichen fünf Planeten war der sechste von Interesse. Der große Gasball erinnerte an den neunten Planeten des Alysk-Systems: gleiche Größe, gleiche Dichte, gleiche Atmosphärenzusammensetzung. Nur der massive, dauerhafte Hurrikanfleck in der Äquatorregion fehlte.

Eorthor widmete sich wieder den Raumschiffen seiner Mitbürger. Es war Zeit, ihnen zu sagen, was er erwartete. Der Alyske räusperte sich und aktivierte den Funk. Während sich sein Hologramm in den Zentralen der anderen Raumern aufbaute, stellte er sich aufrecht hin. »Alysker, ich danke euch, dass ihr meinem Ruf gefolgt seid!«

Die Strukturtaster schlugen aus. Weitere Schiffe trafen ein.

»Willkommen!«, begrüßte er die Neuankömmlinge. »Ihr habt noch nichts versäumt!« Er wartete nicht, bis die Kommandanten ihre Raumer abgebremst hatten, sondern fuhr fort: »Meine Freunde, die Lage ist ernst. Unser Heimatplanet ist zerborsten, die Völker der Galaxis werden die Kapriolen der Hyperbeben nicht überleben und es scheint, als zerfiele unsere Sterneninsel.«

Eorthor stellte sich vor, wie die Alysker in den Schiffen ihm zustimmten.

»Aber solange auch nur ein Alysker lebt und seinen Intellekt gebrauchen kann, solange geben wir uns nicht geschlagen!

Wir, die wir hier versammelt sind, haben den Kosmokraten gezeigt, dass wir stärker sind als ihre primitiven Rachegelüste! Sie wollten uns mit dem Fluch unfreiwilliger Unsterblichkeit in die Knie zwingen und uns demütigen. Doch wir haben uns nicht unterkriegen lassen. Wir haben uns mit der Unsterblichkeit abgefunden, haben aus einem Fluch einen Segen gemacht! Und auch sonst haben wir ihre Pläne durchkreuzt! Sie wollten uns für immer an Alysk fesseln – wir haben ein Präparat dagegen entwickelt!«

Eorthor sagte wir, obwohl er das Mittel erfunden hatte. Doch in Momenten wie diesen zählten die Leistungen des Individuums nichts. Außerdem wollte er seine Mitbürger motivieren.

»Sie haben die Hälfte unserer Artgenossen in mordlustige Barbaren verwandelt – die haben wir nicht heilen können. Doch wir konnten verhindern, dass Alysker zu Ylors mutieren, wenn sie länger als dreißig Tage von unserer alten Sonne entfernt lebten. So gewannen wir die Freiheit zurück!«

Auch dieses Mittel stammte aus seinen Forschungen. Ein Alysker konnte zwar durch Blutübertragung von einem Infizierten noch zu einem Ylors werden, jedoch nicht mehr durch die fehlende Strahlung der heimatlichen Sonne.

»Sie haben einen verwirrten Geist aus unserer Mitte benutzt, um uns beim Selbstmord behilflich zu sein – wir haben ihn zur Strecke gebracht!«

Erneut sein Verdienst. Er hatte Shaojuns Machenschaften aufgedeckt.

»Und nun nehmen sie uns indirekt unseren Lebensraum und unsere Lebensqualität! Doch wir werden es nicht zulassen! Und wir werden nicht zulassen, dass sich MODROR diese Galaxis einverleibt!«

Ausläufer eines in der Nähe wütenden Hypersturmes unterbrachen ihn, sie überlagerten die Übertragung seiner Worte. Er wartete, bis der Computer wieder grüne Werte anzeigte.

»Ich habe die Mitglieder unseres stolzen Volkes in diesem System versammelt, um Mittel und Wege zu finden, MODROR entgegenzutreten. Wenn er zurückkehrt – und glaubt mir, er wird kommen, da er diese Galaxis benötigt –, werden wir ihn mit einer Welteninsel voller Leben konfrontieren!«

Eorthor leitete die Geheimdaten über den zweiten Planeten an alle Raumer weiter.

»Ich enthülle das Geheimnis des Eisplaneten, der mir seit Jahrmillionen als zweite Forschungsbasis diente. Genaugenommen habe ich hier häufiger geforscht als auf dem Mond Smis. Und ich schenke dem alyskischen Volk diesen Planeten. Ihr findet auf der Eiswelt Labore für jeden nur denkbaren wissenschaftlichen Bereich! Wählt ein Labor und nehmt es in Beschlag! Landet mit mir auf dem versteckten Raumhafen, schwärmt aus, nutzt die vorhandene Infrastruktur und das Wissen in den Computern! Nutzt es, um MODROR eines fernen Tages zurückzuwerfen!«

Zufrieden las er in der Konsole, dass die ersten Raumer in Richtung Eiswelt beschleunigten.

»Da ich immer noch der Oberste Ratssprecher bin, erlaube ich mir, dem Planeten von seinem ursprünglichen Namen, Enomina, in Alysk II umzubenennen!«

Vermutlich kannte nach all den Jahren niemand mehr die Geschichte, die sich zwischen ihm und Enomina abgespielt hatte. Die meisten wussten nicht, wie knapp sie damals dem Tod entronnen waren. Seine drei Mitstreiter lebten nicht mehr. Xaria war auf Alysk durch einen Unfall gestorben und Viscount und Catin galten seit einer Expedition als verschollen.

»Die Forschungsprioritäten liegen auf der Hand: Zuerst müssen wir dieses System von dem Chaos abschotten, das in der Galaxis vorherrscht! Wir schaffen eine Raumkugel von einigen Lichtjahren als unsere persönliche Ruheenklave!

Als nächsten Schritt werden wir Leben in unserer Sterneninsel sähen. Leben, das den Widrigkeiten eines aufgewühlten Hyperraumes trotzt. Ich gebe zu, dass es ein ehrgeiziges Ziel ist! Aber wir sind immer noch das wissenschaftlich hochstehendste Volk im Universum.«

Beweisen konnte Eorthor diese Behauptung nicht. Allerdings konnte auch niemand einen Gegenbeweis erbringen. Er grinste innerlich.

»Außerdem«, fügte er mit leiser Stimme hinzu, um lauter zu werden, »darf es nie wieder passieren, dass wir Alysker ein Ziel verfehlen! Und es wird auch nicht passieren!«

Selten hatte sich Eorthor so sicher gefühlt wie gerade in diesem Moment. Er freute sich, dass die Zahl der Raumer, die zum Eisplaneten flogen, sich stetig vergrößerte.

Sein letztes Projekt verschwieg er. Er wollte es ganz allein umsetzen.

»Irgendwelche Einwände?«, fragte er pro forma.

Kein Funksignal traf die Empfänger der SMIS.

»Dann lasst uns beginnen!«

Damals … vor 40 Millionen Jahren

»Ich bin einige Stunden unterwegs!«, informierte Eorthor seinen Computer. Gelegentlich benötigte er die Kargheit der Außenwelt, um Abstand von den Forschungen zu gewinnen.

Er schloss den Thermoanzug, stülpte sich die Kapuze über und trat durch die Schleuse ins Freie. So weit sein Blick reichte, war alles gefangen in Eis und Schnee.

Mit Hilfe seines Gürtelantigravs stieg er in die Lüfte und raste in Richtung Äquator. Eorthor hatte schon bei seinem ersten Ausflug in die Eiswüste die Geschwindigkeit herausgefunden, mit der er ohne Schmerzen im Gesicht fliegen konnte. Unter ihm huschte ein kleiner Lors durch den Schnee, vermutlich auf der Suche nach Futter.

Selbst nach hundertfünfundfünfzig Millionen Jahren war es für Eorthor ein Rätsel, wie sich die Nager in dieser feindlichen Umwelt behaupten konnten.

Eigentlich eine Schande!, dachte er. Da forsche ich so lange auf dem Planeten und weiß nicht mal, was genau vor meiner Haustür passiert.

Eorthor raste weiter und konzentrierte sich auf die Umgebung. Die Sonne hing im Zenit des wolkenlosen, blauen Himmels und versuchte gar nicht erst, gegen das Eis anzukämpfen. Ihre Strahlen erhellten die schlichte Schönheit der Landschaft, spiegelten sich im Eis und ließen es glitzern.

Von einem Moment zum anderen verblasste die Eiswüste und wurde von einer Eorthor altbekannten Szenerie abgelöst. Wobei, sie hatte sich verändert! Die Sonne ging auf, nicht unter. Die Geräuschkulisse bot diesmal von Beginn an alles, was man von einer einsamen Bucht erwartete: Palmenblätter, die im Wind rauschten, an den Strand plätschernde Wellen, schreiende Vögel und nicht zuzuordnendes Rascheln im dichten Dschungel. Sogar würzige Meeresluft war vorhanden.

Eorthor landete, ging ein paar Schritte in Richtung Wasser und hörte, wie der Sand unter seinen Schuhsohlen knirschte. Schuhsohlen?

Verwundert blickte Eorthor an sich herab. Sein Thermoanzug war einer kurzen Hose und einem Shirt gewichen. Immerhin war er nicht nackt – Warum? Wollte sie ihm wollüstig die Kleider vom Leibe reißen?

»Hättest du wohl gerne!«

Eine männliche Stimme?

Eorthor wirbelte herum und blickte in das Gesicht eines alten Mannes. Sein weißer Bart reichte bis weit in die Brust und die Haare hingen über die Schultern.

»Dein vorheriges Erscheinungsbild entsprach meinen Wünschen besser!«

»Jeder sieht mich so, wie er mich sehen möchte!«, zitierte DORGON sich selbst. »Überlege, was das für dich bedeutet!«

Dass ich nicht mehr geil auf dich bin?, dachte Eorthor, hütete sich aber, die Gedanken auszusprechen. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er stattdessen.

Hinter DORGON entstand ein Felsbrocken, auf dem sich die Inkarnation der Entität niederließ. Eorthor tastete mit dem rechten Fuß hinter sich, spürte etwas Hartes und nutzte ebenfalls die Sitzgelegenheit.

»Ich bin hier um eure Fortschritte zu betrachten!«

»Imposant, nicht wahr?«, schwärmte Eorthor. »Allein die Abschottung unseres neuen Heimatsystems gegen die Hyperbeben ist bemerkenswert. Es war harte Arbeit, die richtige Feinabstimmung im höherdimensionalen Bereich zu finden.«

»Ihr habt für euch eine Enklave der Ruhe geschaffen – welch grandiose Leistung!«

Hörte Eorthor wirklich Spott in DORGONs Stimme? Er musste sich getäuscht haben. Immerhin hatten die Alysker ihr System nicht einfach in einen Zwischenraum gehoben, sondern einen flexiblen Schutz gegen die Hyperstürme geschaffen. Fortwährend wurde die Struktur des Hyperraumes um das System analysiert. Sobald die Messwerte kritische Größen überschritten, griffen Hyperraumwandler in die Topologie des fünfdimensionalen Raumes ein und verhinderte durch Energiezufuhr die Beben. Seines Wissens nach war dieses Konzept einmalig im gesamten Universum. DORGON hatte keinen Grund sich darüber zu beklagen.

»Was stört dich daran?«

»Ich habe erwartet, dass andere Ziele erreicht werden!«

»Alles der Reihe nach!«, verteidigte sich Eorthor. »Zuerst mussten wir für uns selbst die nötige Ruhe schaffen! Das ist uns gelungen!«

DORGON applaudierte kurz und legte dann die Arme auf die Schenkel.

»Ich wollte eine blühende Galaxis besuchen.«

War DORGON etwa enttäuscht?

»Wie bitte?«, antwortete Eorthor.

»Jianxiang ist immer noch bar jeglichen Lebens!«

»Es ist nicht einfach, Leben zu säen, das gegen die hyperphysikalischen Launen bestehen kann. Mehrere hunderttausend Jahre hat es so ausgesehen, als sei Testserie Gamma erfolgreich. Leider hat sie die Erwartungen nicht erfüllt!«

»Zehn Millionen Jahre sind seit MODRORs Angriff vergangen. Glaubst du er wartet ewig?«

»Selbst die Kosmokraten benötigten eine Vorlaufzeit, bevor sie ihre Sporenschiffe aussandten!«, verteidigte sich Eorthor. »Außerdem steht mein aktuellstes Projekt kurz vor der Fertigstellung! Damit schotte ich die Galaxis vor allen anfliegenden Raumschiffen ab!«

»Wann?«

»In vierhundertfünfzigtausend Jahren!«

»Und wenn MODROR früher zurückgekehrt?«

»Dann haben wir Pech gehabt!« Ärger stieg in Eorthor hoch. »Was soll das hier überhaupt?«, brauste er auf. »Wenn du es besser kannst, mach es selber! Schnippe mit den Fingern und fülle die Galaxis mit Leben!« Er sprang auf und deutete mit dem Zeigefinger auf DORGON. »Oder noch besser: Zerstäube MODROR im Hyperraum!«

DORGON schwieg, was ihn nicht wunderte. Was hätte er auch antworten sollen?

»Du und MODROR«, fuhr Eorthor fort, »fetzt euch seit eurer Geburt! Warum warst du nicht erfolgreich? Warum hast du ihn noch nicht besiegt? Blöd labern kann ich auch!« Der Zorn hatte ihn im Griff. Am liebsten hätte er sich auf DORGON gestürzt.

»Eorthor«, sagte der alte Mann mit sanfter Stimme, »du magst zwar eines der ganz großen wissenschaftlichen Genies im Universum sein, aber vom Kampf der Entitäten verstehst du nichts!« DORGON erhob sich. »Ich stelle fest, dass du Selbstzufriedenheit mit den Ergebnissen an den Tag legst. Das ist der falsche Weg! Du wolltest die Alysker zu altem Glanz zurückführen und die Galaxis zu einer Bastion gegen MODROR ausbauen. Selbstzufriedenheit hemmt diesen Prozess. Ich benötige Führungspersönlichkeiten, die ihren Leistungswillen glasklar unter Beweis stellen!«

Eorthor wollte springen, aber eine unsichtbare Kraft hinderte ihn. Vergeblich stemmte er sich dagegen.

»Hoffentlich schafft ihr es rechtzeitig!«, sagte DORGON.

Die Kraft, die Eorthor am Felsen fesselte, verschwand. Er vollendete den Sprung und küsste den Schnee. Wütend spuckte er die kalte Masse aus und schlug er mit der rechten Faust in den Boden.

»Verdammt, was willst du von uns?«, brüllte er.

Niemand antwortete.

Damals … vor 2463 Jahren

Das Schutzfeld des Raumanzugs baute sich geräuschlos um seinen Kopf herum auf, während sich hinter seinem Rücken die Innenschleuse schloss. Zischend wurde die Luft in der kleinen Kammer abgesaugt, damit sich die Außentür öffnen konnte. Ein blaues Licht blinkte oberhalb der Schleuse und gab den Weg frei. Langsam glitt das Schott auf und er blickte in völlige Dunkelheit. Die projizierten Informationsfelder stellten sich auf den Lichtwechsel ein und hoben sich von dem schwarzen Vordergrund farblich ab. Er dunkelte sie ab, weil sie ihn störten.

Eorthor trat an den Rand der Schleuse und sah ins Nichts. Der erstmalige Schritt aus einem Raumer ins All gehörte zu den größten Überwindungen jedes Lebewesens – vor allem, wenn kein Planet als Orientierungspunkt in der Nähe war. Oft hatte er nach Vergleichen gesucht und stets war ihm die absolute Dunkelheit innerhalb eines Höhlenlabyrinths eingefallen. In seiner Kindheit hatte sein verstorbener Lehrmeister Shaojun mit ihm einen Ausflug in das Höhlensystem auf der Südseite von Alysk gemacht. Auf allen Vieren waren sie durch die engen Gänge gerobbt und schließlich in der Kathedrale, einer domartigen Höhle herausgekommen. Sie hatten die Lampen ausgeschaltet und Eorthor war blind gewesen. Kein einziger Lichtstrahl war in seine Pupille gedrungen. Es hatte ihn alle Überwindung gekostet, sich an der Wand tastend weiterzuschieben.

Ebenso jetzt. Eorthor machte einen Schritt vorwärts und schwebte in der Dunkelheit des Alls. Unter seinen Füßen – in Millionen Lichtjahren Entfernung – rasten vier Galaxien aufeinander zu und spendeten ihm als Einzige ein wenig Licht. Fast kein Licht.

Bilder aus der Vergangenheit überschwemmten sein Bewusstsein und brachten die Schmerzen zurück. Am liebsten hätte er sie vergessen, doch sie wehrten sich gegen ihre Löschung. Also schloss er sie in schöner Regelmäßigkeit in eine mentale Kiste in seinem Inneren und wartete schon, bis sie wieder den Verschluss geknackt hatten.

So wie heute.

Worüber er sich nicht wunderte, schließlich hatte er sich bewusst an jenen Ort hoch über den Galaxienebenen zurückgezogen. In Gedanken kämpfte er wieder gegen den rot flammenden Rodrom, schärfte die Bombe und durchlebte den Schock, den die manipulierte Bombenwirkung in ihm ausgelöst hatte. Er fragte sich, welcher Plan schrecklicher war: Seiner, die Galaxis zu zerstören, oder der von Rodrom, die Galaxis zu entvölkern und in den langsamen Gravitationstod zu schleudern. Selbst in fünfzig Millionen Jahren hatte er sich nicht entscheiden können.

Er verdrängte die Erinnerungen und blickte auf das Kreuz der Galaxien. Weit entfernte Völker hatten die Galaxiengruppe so benannt, weil die vier Lichtpunkte die entsprechende Anordnung hatten. Eorthor zoomte Seyft herauf. Die Struktur der Galaxis hatte durch das Aufeinanderdriften gelitten. Sie präsentierte sich nach knapp zweihundert Millionen Jahren als ausgefranstes Gebilde und hatte nichts mehr mit ihrem elliptischen Ursprung gemein. Auch die anderen drei Galaxien hatten sich verändert. Am wenigstens hatte es Jianxiang getroffen, da die Alysker sie knapp hundertvierzig Millionen Jahre lang durch eine spezielle höherdimensionale Verankerung aus dem Tod der Galaxien herausgehalten hatten. Doch die Bombe hatte diesen Schutz zerstört.

Verärgert bemerkte Eorthor, dass er sich schon wieder in der Vergangenheit befand und widmete sich der Gegenwart. Auch wenn das Chaos immer noch in der einstmals blühenden Welteninsel wütete – es gab Völker, die ihm trotzten. Sie akzeptierten die stellaren Desaster mit Gleichmut und glitten mit ihren Schiffen durch die Galaxie, die Hyperstürme beiseite lassend. Und diese Völker hatten die Alysker geschaffen. Nach dem Vorbild der Kosmokraten hatten sie On- und Noon-Quanten erzeugt. Ihrem besonderen Ehrgeiz folgend, hatten die Alysker daran gearbeitet, beide Quanten zu vereinen, was ihnen nach unzähligen Fehlversuchen auch gelungen war.

Und nun bewohnten die aus den Quanten hervorgegangenen Lebewesen die Planeten, bauten Raumschiffe und lebten in den Stationen, die die Galaxis vor Eindringlingen schützte. Anfliegende Raumer wurden im Halo von Jianxiang nicht nur aus dem Hyperraum geschleudert, sondern verloren auch ihren Antrieb. Eorthor war stolz auf dieses Projekt, an dem er mehrere Millionen Jahre allein geforscht hatte. Er war auch stolz, dass sich die Alysker nach dem ersten Angriff von MODROR an ihre Anfänge erinnerten und sich mit Elan auf die neuen Aufgaben warfen.

Etwas in seinem Inneren sagte ihm, dass sie der Entität einen Strich durch die Rechnung gemacht hatten. Wenn MODRORs Horden spätestens in Milliarden von Jahren nach der endgültigen Verschmelzung der Galaxien zurückkehren würden, hatte sich das Leben in alle Nischen ausgebreitet. Und das musste er erst einmal beseitigen, um ans Ziel seiner Träume zu gelangen. Sollten seine Horden wider Erwarten früher in Jianxiang eintreffen, würden die Alysker erneut Leben sähen. Genügend Quanten dazu hatten sie.

Eorthor riss sich vom Anblick der vier Galaxien los und erinnerte sich, warum er hier war. Er wollte sich über die nähere Zukunft klar werden.

Vor zehn Jahren hatte er Ayra, eine Frau aus dem Volk der Cyragonen, kennen- und liebengelernt. Gemeinsam lebten sie auf Alysk II, dem Eisplaneten, auf dem die Alysker nach der Explosion eine neue Heimat gefunden hatten.

Eorthor blickte noch einmal auf die ineinanderdriftenden Galaxien und wusste, was er zu tun hatte.

Seine Tochter würde nicht auf dem Eisplaneten geboren werden! Und schon gar nicht zwischen uralten, versteinerten Wesen aufwachsen.

Elyn

»Die Moral ist die Richtlinie des menschlichen Daseins, aber auch die eines richtigen Kämpfers. Ein Weiser betrügt nicht die vier Meere; ein Starker unterdrückt nicht seine Nachbarn; in der Freundschaft betrügt man nicht seine Freunde; und in den Geschäften unterdrückt man nicht die Schwachen oder Armen. So soll sich ein Kämpfer benehmen und so benimmt sich auch ein richtiger Held …«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Trainingseinheit

*

»Wehr dich!« Lyrata schlug zu.

Elyn tänzelte seitwärts und wich Lyratas Faustschlag aus.

Lyrata schnaufte und rückte nach. »Was ist mit dir, du große Kämpferin?« Ihre hohe Stimme zitterte. »Oder sollte ich besser sagen: feige Tochter eines angeblichen Kämpfers?«

Elyn unterdrückte ihre Wut, transformierte sie in Energie und atmete unhörbar aus. Lyratas Behauptung war lächerlich. Jeder in der Station wusste, warum ihr Vater, ein Vushu-Großmeister, sich nicht an den jährlich stattfindenden Stationsmeisterschaften beteiligte. Er hätte gegen jeden gewonnen, ohne dabei auch nur ins Schwitzen zu geraten. Also war Lyratas Wut anders begründet.

»Ich kann nichts dafür, dass der Jhiao-Wei mich als Abschlussrednerin des Jahrgangs ausgewählt hat!«, antwortete Elyn.

Lyrata schlug in Richtung ihres Kinns. Elyn pendelte nach rechts und entschied sich zur Gegenwehr. Die vier Möglichkeiten des Angriffs für diese Situation schossen ihr durch den Kopf. Drei töteten, eine verletzte!

Elyn spannte sich, wollte die Kampfsequenz beginnen und hielt inne.

Lyrata bluffte! Ihre Körperhaltung und die Farbe des Jhis, ihrer Lebensenergie, verrieten sie. Vor einem wirklichen Angriff hätte das Jhi hellgelb gestrahlt und nicht rötlich! Selbst wenn Lyrata ihre Energie nicht aktiv steuern konnte, so wie Elyn.

Sie entspannte sich und blickte Lyrata herausfordernd an. »Ein Kampf zwischen uns ändert die Entscheidung des Schulrates nicht! Und ich bin nun mal die beste Schülerin der Station!«

Lyrata lachte herablassend. »Du bist eine Schande für deinen Vater, Elyn!« Kurz zuckte ihr rechter Arm nach vorne.

Elyn reagierte nicht. Irritiert hielt Lyrata inne, runzelte die Stirn und ließ die Arme sinken.

»Ich rechne später mit dir ab!« Lyrata wandte sich ab und mit ihr der Rest der Clique. Elyn wartete, bis die fünf Frauen den Klassenraum verlassen hatten und seufzte.

Lyrata ahnte nicht, wie knapp sie wieder einer Demütigung entgangen war. Eineinhalb Sekunden oder drei Schläge hätten genügt, um sie in der Medostation aufwachen zu lassen. Aber wie immer hatten die Vushu-Grundsätze in Elyn die Oberhand behalten. Sie fühlte jedoch, dass sie sich nicht mehr lange beherrschen konnte. Zu oft hatte Lyrata sie in den letzten Jahren provoziert, sich über sie lustig gemacht. Einmal endete auch die Geduld einer Vushu-Übenden. Und dann würde Lyrata um Gnade winseln. Vergeblich.

*

»Die richtige Art, im Leben zu stehen, ist sich Fertigkeiten anzueignen und die Moral im Herzen zu bewahren. Das Wasser kann das Boot sowohl tragen als auch umkippen. Die Fertigkeit kann Wesen sowohl leben lassen als auch töten …«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Trainingseinheit

*

»Wie war’s in der Schule?«

Elyn schmunzelte, weil Lom sie erkannt hatte, obwohl er mit dem Rücken zu ihr saß. Obwohl nur zehn Jahre älter als sie, waren seine schwarzen Haare bereits durch graue Strähnen durchzogen.

Sie trat an ihn heran und blickte sich um. Die Tür zum Meditationsraum ihres Vaters war verschlossen und ihre Mutter war ebenfalls nirgends zu sehen. Während Lom den Kopf nach hinten neigte, legte sie ihm die Hände an die Wangen und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Dann warf sie ihren Schulrucksack auf den Boden und setzte sich ihm gegenüber in einen der Sessel.

»Lyrata wollte mich zu einer Prügelei verleiten!«

Lom lachte. »Also nichts wirklich Neues – oder hast du dich endlich gewehrt?«

Elyn schüttelte den Kopf.

»Worum ging’s diesmal?«

»Sie ist sauer, weil ich die Abschlussrede halten darf!«

»Oh, da wird ihre Mutter schäumen. Und Natrill wird morgen mit seinem berühmten gequälten Gesichtsausdruck in der Zentrale stehen. Du weißt, was er immer sagt?«

»Ihr wollt nicht wissen, was ich für eine Nacht hatte«, antwortete Elyn und legte den rechten Fuß unter ihr Gesäß. »Hast du meine Fachbereichsarbeit durchgelesen?«

»Selbstverständlich. Du hast zu viele Wortwiederholungen. Jeder zweite Absatz beginnt mit verläuft, entspringt oder laufen …«

Die Tür des Meditationsraumes öffnete sich und Gujaz betrat mit seinem geschmeidigen Gang den Wohnraum. Obwohl der Bodenbelag die Schritte nicht dämpfte, hörte man ihn nicht.

»Ah, ihr seid schon da!« Er küsste Elyn auf die Wange und klopfte Lom auf die Schulter. »Beginnen wir!«, sagte Gujaz.

Sie folgten ihm in den Meditationsraum und stellten sich nebeneinander auf: Gujaz in der Mitte, Lom rechts von ihm und Elyn links, die Füße um fünfundvierzig Grad abgewinkelt. Elyn wählte den Schwerpunkt so, dass dreißig Prozent ihres Körpergewichts auf den Fußballen und die restlichen siebzig Prozent auf den Fersen ruhten.

Dann schloss sie die Augenlider und stellte sich eine tiefe Höhle in der Mitte der Stirn vor, öffnete zugleich das »dritte Auge«. Sie vertiefte ihre Konzentration und blickte in den Körper, der von hell leuchtender Lebensenergie erfüllt war. Alle Poren ihres Herzens lächelten. Von dort breitete sich das Lächeln in ihrem ganzen Körper aus und sie spürte, wie all die Last des Tages von ihr abfiel. Der Schulstress war wie weggeblasen und die lächerliche Stänkerei von Lyrata nicht einmal mehr ein Windhauch. Sie fühlte, dass sowohl ihr Vater als auch Lom sich von ihr führen ließen. Alles erfolgte gleichzeitig, ohne Abweichung.

Elyn konzentrierte sich auf ihren Darmbereich, der sich in der Mitte des Unterleibs befand. Sie entspannte ihn und ihr Haupt-Jhi – eine hell strahlende, konzentrierte Kugel aus Lebensenergie. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit nach oben, zur Himmelswurzel. Über ihrem Kopf schwebten Wolkenbänke aus Energie, während sich unter ihren Füßen die Kraft der Erdenergie auftat.

In Gedanken wuchs ihr Körper. Sie streckte sich den Energien entgegen und tauchte mit den Haar- und Zehenspitzen darin ein.

Sie neigte ihr Becken nach vorne, lehnte gleichzeitig ihren Brustkorb zurück und begann mit einer wellenförmigen Bewegung. Ihre Wirbelsäule bewegte sich wie eine Schlange. In ihrem Steißbein entstand aus dem Nichts eine Jhi-Säule, die ihre Wirbelsäule aufwärts wanderte. Elyn fühlte, wie sich die Energie über das Rückenmark hangelte, bis sie nach mehreren Minuten in der Halswirbelsäule zur Ruhe kam. Jeder ihrer Wirbel war nun von dieser Jhi-Säule erfüllt. Diese verdichtete sich im Nacken, raste zum Steißbein, von dort hinauf und zurück. Immer und immer wieder.

Irgendwann endete dieser Vorgang und die Jhi-Säule machte sich auf ihren Weg hinab. Genauso langsam wie sie aufgestiegen war, schlängelte sie sich zum Steißbein hinab. Kaum dort angelangt, änderte Elyn ihre äußere Bewegung. Sie schob ihre Hüfte nach links und nach rechts – und ihr Oberkörper folgte zeitverzögert dieser Bewegung.

Erneut kroch die Jhi-Säule jeden einzelnen Wirbel nach oben, verdichtetet sich, raste über die Wirbelsäule hinab und hinauf, bevor sie wieder abwärts kroch.

Fehlte noch die dritte Bewegung. Elyn kreiste die Hüfte, zuerst klein und dann größer und stellte sich die Wirbelsäule als eine Art dreidimensionalem Kreisel vor. Das Jhi nahm denselben Weg wie zuvor und kehrte zum Ausgangspunkt zurück. Danach kombinierte sie alle drei Bewegungen und vergrößerte sich. Jede Zelle ihres Körpers wuchs, bis sie das Universum umschloss und mit ihm eins wurde. Sie dehnte sich mit ihm aus, knirschte dabei, wisperte mit den Sonnen, explodierte mit den Supernovae, triumphierte mit dem Leben, das sich ausbreitete, jubelte mit den Schwarzen Löchern, die Objekte einfingen, und weinte mit der Materie, die in der Singularität verging. Sie hörte die Kampfschreie der Kosmokraten und Chaotarchen und zog mit ihnen über die Schlachtfelder. Sie regulierte mit den Kosmonukleotiden die Konstanten des Alls und pulste mit den Quasaren.

Und das Wichtigste: Das komplette Jhi des Universums war in ihr. All die unterschiedlichen Schichten, Helligkeiten, Formen und Konzentrationen vereinigten sich in ihr.

Elyn verlor jedes Zeitgefühl. Irgendwann verabschiedete sie sich vom Kosmos, verkleinerte sich und nahm dabei das Jhi durch ihre Poren auf.

Als sie ihre normale Größe erreicht hatte, war ihr Körper von mehr Jhi erfüllt als zu Beginn der Meditation. Es verband sich mit ihrem eigenen Jhi und wurde eins mit ihr. Sie beendete ihre Bewegungen, brachte die Hände über den Kopf und legte die Finger aneinander. Während sie das Jhi in der Mitte des Unterleibes sammelte, holte sie die Hände vor die Brust, öffnete sie dort und brachte sie mit den Handflächen zu sich zeigend bis zur Hüfte, um sie dort in einer kreisförmigen Bewegung knapp unterhalb des Nabels zu legen. Die Finger ineinander verschränkt, die beiden Daumen nach oben weisend, fühlte sie die kraftstrotzende Jhi-Kugel in der Mitte ihres Unterleibes.

Attacke

»Der mittlere Weg ist weder in der Mitte noch hat er zwei Seiten. Bist du gefesselt von der Außenwelt, so hast du die eine Seite; bist du erregt in deinem Geist, so hast du die andere Seite. Wenn keines von beiden geschieht, so gibt es kein Mittelding, und das ist der mittlere Weg.«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Meditationseinheit

*

»Mist!«

Frustriert warf Elyn die Auswertungsfolien auf den Schreibtisch. Sie hasste es, wenn sie bei einem wissenschaftlichen Problem keine Lösung fand. Vor allem, da sie die Nachwuchshoffnung der Station war. Einige Kollegen sprachen bereits davon, dass in ihr dasselbe Genie steckte wie in ihrem Vater.

Sie und ein Genie?

Dass sie nicht lachte! Sie scheiterte bereits an der Erklärung für die Unregelmäßigkeiten im Anti-Temporalfeld. In letzter Zeit war es beim Temporalspannungs-Stabilisator zu unerklärlichen Ausfällen gekommen. Da das Anti-Temporalfeld zum wirkungsvollsten Schutz der Station gehörte, musste sein Einsatz zu hundert Prozent gewährleistet sein. Das Feld versetzte mit Hilfe des Zeitmodulators und des Normzeit-Inkubators die Station um mehrere Sekunden in eine potentielle Zukunft. Wissenschaftlich ausgedrückt, handelte es sich um eine noch nicht konkret ausgebildete Existenz mit variablen Konstanten, salopp nannte man es Vorgegenwart.

Seit dem ersten Aussetzer vermutete Elyn den Fehler bei den Pulswandlern, die ein hyperenergetisches Schwingungsfeld erzeugten. Obwohl die eigens für sie abgestellten Speicher genügend Energie lieferten, gaben die Pulswandler nur einen Minimalprozentsatz davon weiter.

Elyn seufzte. Eigentlich war Olux, der Abteilungsleiter dafür zuständig, die Lösung zu finden. Aber er delegierte lieber oder – wie in ihrem Fall – forderte Fachkräfte an. Einen Tag nach Abschluss ihrer Ausbildung hatte Natrill, der Stationskommandant sie der hyperphysikalischen Abteilung zugeteilt. Da sie von diesem Schleimer und Opportunisten Olux nichts hielt und auch von der schlechten Stimmung in der Abteilung wusste, hätte sie lieber einen anderen Posten bekommen. Aber sie wurde vor vollendete Tatsachen gestellt.

»Natrill muss für das Funktionieren der Station sorgen. Er kann sich nicht um Einzelschicksale kümmern«, hatte ihr Vater sie zu trösten versucht, nachdem sie sich über diese Willkür beschwert hatte. Vergebens. Selbst Lom hatte am Tag ihrer Versetzung ihren vollen Frust abbekommen. Anstatt die gemeinsamen Stunden im Vergnügungsviertel zu genießen, hatte sie ihn mit Schimpfkanonaden über die schrecklichen Kollegen und die eintönige Arbeit zugeschüttet.

Er hatte ihr gegenüber gesessen, ihre Hand gehalten und ihr zugehört. Genau das mochte sie an ihm. Er war der einzige Cyragone, der stoisch ihre Launen hinnahm. Egal wann. Sie beneidete die Frau, für die er sein Single-Dasein aufgeben würde.

Elyn stand auf, versetzte dem Sessel einen leichten Tritt und stapfte in die Küchennische. Sie riss den Kühlschrank auf und zuckte zusammen.

Ein auf- und abschwellender Heulton malträtierte ihre Ohren. Welches kranke Hirn hatte sich einen Probealarm einfallen lassen? Die letzte, erst vorige Woche abgehaltene Simulation des Einsatzzustandes hatte die volle Gefechtsbereitschaft bewiesen. Warum also diese Wiederholung?

»Achtung! Das ist keine Übung! Ich wiederhole: Das ist keine …«

Die Stimme des Kommandanten erstarb. Zischen. Schreie. Stille. Dann wurde der Lautsprecher abgeschaltet.

Gut inszeniert. Oder doch nicht?

Elyn knallte die Eiskastentür zu, lief aus der Wohneinheit und wäre fast mit ihrer Nachbarin zusammengeprallt. Auch die anderen Türen am Gang öffneten sich. Einige rannten automatisch zu ihren Gefechtsstationen, anderen sah man an, dass sie nicht wussten, ob der Ernstfall wirklich eingetreten war.

Als sich der Boden vor Elyn wölbte, wusste sie, dass es keine Simulation war. Eine Explosion erschütterte den Gang, schleuderte sie nach rechts. Sie schrie und krachte mit der Schulter gegen die Wand. Benommen schüttelte sie den Schmerz ab und blickte in das Loch, das einen Meter vor ihr im Boden klaffte.

Der Gang eine Ebene unter ihr war voller Leichenteile. Elyn kroch nach vorne, lehnte sich über den Rand und sah … ein gehendes Skelett?!

Elyn kniff die Augen zusammen. Hatte sie die kurze Benommenheit nach dem Aufprall doch noch nicht abgeschüttelt? Fantasierte sie?

Erneut blickte sie nach unten.

Das Skelett hob die Waffe! Reflexartig warf sie sich zurück. Der grüne Desintegratorstrahl schoss an ihr vorbei, schlug schräg über ihr in die Decke ein und löste ein weiteres kreisförmiges Stück des Materials auf. Täuschte sie sich oder spürte sie Hitze auf ihrem Gesicht?

Der Strahl erlosch und flammte Sekunden später erneut auf. Diesmal war er flacher und bewegte sich auf sie zu. Elyn wuchtete sich nach links, um aus seiner Reichweite zu gelangen. Der Strahl wanderte weiter.

Das Skelett stieg mit Hilfe eines Antigravs – in Drehbewegungen – nach oben, dabei ständig feuernd!

Feigling! Hättest du Mumm, würdest du durch das Loch hoch schweben, um dich zu stellen!

Elyn duckte sich unter dem Strahl, wartete, bis der Kopf des Skeletts in der Öffnung erschien, und trat zu. Es knackte und die Waffe polterte in die untere Etage. Das Skelett ruderte mit den Armen, stieg dabei weiter aufwärts, bis es gegen die Decke knallte. Unbekannte Wortfetzen drangen an ihr Ohr. Eine Ebene tiefer waren weitere Skelette aufgetaucht und zielten auf sie.

Weg hier!

Elyn drehte sich um, hörte den ersten Einschlag von Schüssen in der Decke und hetzte den Gang hinunter. An der Biegung nach links, am Antigravschacht vorbei, dem Mann ausweichen, »falsche Richtung!« brüllen, in den Lastenantigrav hinein und nach oben.

Doch sie trieb nach unten!

Genau in die Arme dieser seltsamen Wesen. Sie streckte sich und erwischte gerade noch die Einstiegsluke. Das Transportfeld, das sie nach unten bringen wollte, zerrte an ihr. Mit aller Kraft stemmte sich Elyn dagegen. Sie wusste, dass in der nächsten Ebene die lebenden Skelette auf sie warteten. Sie stieß sich mit den Füßen ab und wuchtete sich gleichzeitig mit den Armen nach oben. Keuchend rollte sie sich in den Gang, sprang auf und stieg in den richtigen Schacht.

Über ihr schwebten keine Cyragonen. Hoffentlich unterlagen sie nicht dem Trugschluss, vor den Angreifern in den unteren Teil der Station fliehen zu können.

Als sie an der »Achtung Ausstieg«-Aufschrift vorbeischwebte, drehte sie sich um die Achse und griff nach den Haltesprossen. Ihre Beine verankerte sie in die dafür vorgesehenen Ausbuchtungen in der Wand.

Als Kind hatte sie herausgefunden, dass es in der Station neben den offiziellen Wegen auch inoffizielle gab, die sich bei näherer Betrachtung als viel interessanter herausgestellt hatten. Das nutzte sie jetzt.

Elyn schob die Abdeckung beiseite, zog sich an den Halteklammern hoch und schlüpfte mit den Beinen voran und mit Schwung in die dunkle Röhre. Sie fand sie wesentlich enger als noch vor zwanzig Jahren.

Die Kämpferin robbte einige Meter weiter, bis die Röhre sich abwärts neigte. Sie rutschte über den Rand und ließ sich fallen. In hohem Tempo ging es nach unten. Einige Male schwenkte die Röhre nach links und rechts, um dann wieder mittig weiterzugehen.

Währenddessen kramte sie in ihrem Gedächtnis. Ab der Markierung zählte sie.

Fünf. Einatmen. Vier. Ausatmen. Drei. Einatmen. Zwei.

Ihre Arme schossen hinauf und erwischten im letzten Moment die Haltegriffe. Sie fluchte, weil sie vergessen hatte, den Altersunterschied zu berücksichtigen. Ihre Rutschgeschwindigkeit war höher als in ihrer Kindheit.

Elyn richtete sich auf und demontierte die nächste Abdeckplatte. Eine Schraube klemmte. Wütend zerrte sie an der Kachel, bis die Schraube sich lockerte. Verärgert über den Zeitverlust schleuderte sie die Platte nach unten. Es knirschte, als sie über den Boden schlitterte und in der Tiefe verschwand.

Elyn zog sich über den Rand und stabilisierte sich mit Rücken und Beinen in der Röhre. Als Kind war sie ausgestreckt nach oben geklettert, jetzt überbrückte sie die knapp fünfzig Meter wesentlich kräftesparender. Sie ignorierte den Gang, der nach rechts führte, und schob sich weiter, bis sie in einen rechtwinklig abzweigenden Schacht kam.

»Stillgelegt« stand in den Bauplänen der Station.

Sie lächelte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und kroch auf allen Vieren weiter. Nach mehreren hundert Metern hielt sie inne und betrachtete das Seil, mit dem sie sich früher über das Loch geschwungen hatte. Damals waren ihr die eineinhalb Meter, die die Röhre unterbrochen war, wie eine unüberwindbare Schlucht vorgekommen. Heute kosteten sie ihr keine Mühe. Auf der anderen Seite kroch sie weiter. Jetzt war es nicht mehr weit.

*

»Gewissheit und Konzentration: Panisches Gehen bringt keine guten Schritte hervor; eine panische Rettung ist keine gute Abwehr; wenn man in Eile denkt, kommt man nicht auf die beste Lösung und verliert gute Chancen. Wer kämpft wie ein erschrockener Vogel, kann kein ruhiges Herz bewahren; ohne ruhiges Herz und ruhigen Geist ist das Jhi nur schwer zu stärken; ist der Gegner schwach, so wird man leicht übermütig, durch Übermut lockert sich das Jhi und die Schwachstellen kommen zum Vorschein; ist der Gegner stark, wird man leicht von Angst erfasst; Angst zieht das Jhi hinunter, macht es schwach und Hände und Füße lassen sich schwer bewegen; bei einem Vorteil freut man sich zu früh und prompt verlangsamt sich das Jhi: Aufmerksamkeit und Konzentration lassen nach und man tappt leicht in die Falle; Nachteil entmutigt leicht, doch dann ist das Jhi ebenfalls ängstlich, verzögert die Entscheidung, verpasst gute Chancen …«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Trainingseinheit

*

Rot, hell und gewaltig.

Präziser konnte Elyn das Schauspiel, das sich ihr durch die kleine Sichtluke bot, nicht beschreiben. Als Kind hatte sie sich eingebildet, die Sonnenstrahlen auf die Hülle prasseln zu hören. Damals hatte sie ihr Ohr an die Wand gelegt und dem Konzert der Sternteilchen gelauscht. Heute schmunzelte sie über ihre Naivität. Die Station schwebte in der Sonnenkorona, weil sie die Energien des Sterns benötigte, um zu funktionieren. So einfach war das.

Sie stützte das Kinn in die Hände und vergegenwärtigte sich, dass der Bau der Stationen auf die Alysker zurückging. Mit ihnen hatten sie einen galaxieweiten Schutzschirm errichtet, der den Einflug von Raumschiffen verhinderte.

Bei der Konstruktion der Stationen war man immer nur von Außenangriffen ausgegangen. Daher hatte man neben hochwertigen Abwehrschirmen und dem Anti-Temporalfeld auch den Ortungsschutz perfektioniert. Hier verwendete man die Erkenntnisse aus den Forschungen über die subatomare Ebene. Den Alyskern war es gelungen, die Gesetze der Quantenmechanik im Makrokosmos anzuwenden. Das Energiepotential eines auftreffenden Ortungsstrahls wurde exakt um den Faktor erhöht, der es ihm ermöglichte, durch die Station hindurchzurasen. Nach dem »Durchtunneln«, wie der Effekt genannt wurde, gab der Ortungsstrahl seine erhöhte Energie wieder ab, da er ihn nicht mehr benötigte. Da das Schutzfeld, das die Station umgab, selbst sichtbares Licht in die Irre führte, war die Station zu keiner Zeit sichtbar.

Es gab nur wenige Cyragonen, die diesen Effekt verstanden und ihn auch technisch nutzbar machen konnten. Elyn gehörte dank ihres hohen technischen Verständnisses zu diesem illustren Kreis. Gleiches galt für die Funktionsweise des Anti-Temporalfeldes, das die Station um mehrere Sekunden in die Zukunft beförderte. Sie dachte an den Fehler im Pulswandler. Jetzt machte es keinen Sinn, sich diesem Problem zu widmen – sie hatte wahrhaft andere Sorgen.

Elyn wandte sich von der Luke ab, setzte sich auf den Boden und betrachtete ihr Reich, über das sie seit drei Tagen herrschte. Ein fünf mal fünf Meter großer Raum, auf der einen Seite gefüllt mit Kisten. Links der einzige Eingang, hinter ihr die Sichtlucke.

Als Schlafstätte diente eine uralte Matratze, die sie vor zehn Jahren hergeschleppt hatte, um vor ihren Eltern zu flüchten.

Sie wusste nicht, wozu der Raum einstmals gedient hatte. Es kümmerte sie auch nicht. Wichtig war, dass sie Essen hatte. Die Kisten rechts von ihr waren zur Hälfte mit Konservendosen gefüllt – haltbar bis zum Jahre 8976.

Verhungern würde sie nicht, eher vor Langeweile und Ungewissheit sterben. Seit ihrer Flucht vor den wandelnden Skeletten besaß sie keinerlei Informationen über die Verhältnisse innerhalb der Station. Auf die Dauer ein unhaltbarer Zustand. Vor allem, da ihre Neugier sie bald umbringen würde.

Ein Geräusch drang von links an ihr Ohr. Blitzartig sprang sie auf, griff nach der eineinhalb Meter langen Stange und ging in Kampfstellung.

Elyn lauschte. Jemand kroch auf ihren Unterschlupf zu.

Skelette?

Sie hörte genauer hin. Dem Lärm nach zu urteilen, handelte es sich nur um ein einziges Lebewesen. Um eines, das nichts von Taktik verstand. Anschleichen war ihm fremd. Wer kannte ihr Versteck?

Sie streckte ihre Sinne aus und erkannte verwaschene Jhi-Umrisse, ähnlich einem der Skelette. Aber eben nur ähnlich. Die dicken Mauern ihres Reiches verhinderten eine genaue Einschätzung. Also wartete sie, die Stange umklammert und bereit, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.

Der Angreifer kam näher. Den Geräuschen nach befand er sich knapp vor dem Eingang. Er würde sein blaues Wunder erleben. Elyn hob die Eisenstange und schlug zu. Das Wesen fiel, rollte sich ab und kam auf die Beine.

»Hey, hey!«

Elyn senkte die Arme.

»Du Idiot!«, schimpfte sie, ging zu ihm, schlug ihm mit der Handfläche leicht gegen den Oberarm und vergrub ihren Kopf in seiner Schulter.

»Meine Perle«, sagte Lom, drückte sie an sich und küsste sie aufs Haar. »Dachte ich mir, dass ich dich hier finde!«

»Kunststück!« Sie sah ihn an. »Sag mir, dass wir die Skelette besiegt haben!«

»Wir haben die Skelette besiegt!«

Elyn blieb skeptisch. Sie kannte seinen dämlichen Sinn für Humor.

»Zumindest schlagen wir sie im Aussehen«, schränkte er ein. »Und im Einfallsreichtum!«

Sie setzten sich auf die alte Matratze und legten die Hände ineinander.

»Wie bist du entkommen?«, fragte sie.

»Zuerst gar nicht. Die Skurit, so nennen sich diese Skelette, standen plötzlich in unserer Abteilung und schossen auf alles, was sich bewegte. Ich konnte mich in das Büro von Puntex retten und bin über den Luftschacht abgehauen.«

»Kommt mir bekannt vor!«

»Eine Ebene höher bin ich ausgestiegen und einer Horde von denen in die Arme gelaufen. Aufgewacht bin ich in einer der Korrekturzellen. Die Skurit haben sie zu Gefängnissen, zu Folterzellen umfunktioniert.«

»Folterzellen?«

»Diese Mistkerle machen sich einen Spaß daraus, die Gefangenen zu quälen. Damit war mir klar, dass ich den nächsten Morgen nicht hinter Prallfeldschirmen erleben wollte! Also bin ich ausgebrochen und geflohen.«

»Ausgebrochen?«

»Exakt. Einen einfallsreichen Geist kann man nicht lange einsperren.« Lom grinste. »Vor allem, wenn man ihm das Multifunktionsgerät nicht abnimmt.«

Elyn verstand. Er hatte die Frequenz des Energieschirms gestört, einen Durchgang geschaltet und war aus der Zelle spaziert.

»Auf der Flucht musste ich ein paar von diesen Skeletten beweisen, dass sie sich nicht mit mir anlegen sollten!«

»Hast du …« Elyn fühlte, dass sie blass wurde. Sie erinnerte sich, dass sie selbst möglicherweise einen der Skurit-Soldaten getötet hatte. Durch Loms Erzählung kam die verdrängte Tat hoch.

»Komm mir jetzt nicht mit den Prinzipien deines Vaters! Wenn mich ein Skelett mit einer feuerbereiten Waffe bedroht, denk ich nicht nach. Ich handle!«

»Ich … äh … ich …«

Sein Blick gingen ihr durch und durch. Lom musste nichts sagen, um aus ihr ein Geheimnis herauszuholen. Er saß da, fixierte sie mit unergründlichen Blicken aus graugrünen Augen und ihre Abwehr bröckelte.

»Auch ich bin geflohen. Ein Skurit hat mich angegriffen und ich habe ihm mit dem Fuß ins Genick getreten.«

Lom zuckte die Achseln. »Notwehr!«, analysierte er knapp.

»Ich habe ihn von hinten …«

»Hm.«

»Er kam aus der unteren Etage durch ein Loch, ständig feuernd!«, beeilte sich Elyn zu sagen, um in Lom keinen falschen Eindruck zu wecken.

Lom zog sie an sich, nahm sie in die Arme. »Schon gut, meine Perle! Hör auf, dir ein schlechtes Gewissen einzureden! Er hat dich angegriffen, du hast dich gewehrt!«

Sie genoss seine Umarmung. Woher wusste er, was ihr gut tat? Und warum konnten sie nicht in einer Beziehung landen?

Elyn verdrängte den Gedanken, weil sie seine Einstellung kannte. Es machte keinen Sinn. Er war und blieb ein unverbesserlicher Frauenheld und Single. Außerdem sah er in ihr seine kleine Schwester. Obwohl sie sich oft nackt aneinander gekuschelt hatten, weigerte er sich, mit ihr zu schlafen.

»Ich möchte, dass du mit einem Mann schläfst, der dich liebt. Elyn, du weißt, was ich für dich empfinde. In meinem Herzen ist grenzenloses Vertrauen zu dir! Und dieses Vertrauen ist mehr wert, als all die Liebe dieses Universums. Liebe, Elyn – und niemand weiß das besser als ich –, vergeht, Vertrauen besteht! Ewig!«, hatte er gesagt. »Halten wir dieses Vertrauen fest und lassen wir es nie los!«

Lom hatte recht mit dem Vertrauen. Den Teil mit der Liebe musste sie ihm glauben, da sie auf diesem Gebiet keine Erfahrungen hatte. Lom hingegen hatte nach einer emotionslosen Jugend alles nachgeholt, was am Gefühlssektor, wie er es nannte, angeboten wurde. Und nach mehreren Jahren der Gefühlsduselei engagierte er sich emotional nicht mehr, verstand es aber dennoch, die Frauenherzen zu erobern. »Man drehe das Rollenbild um, da Frauen nicht gewohnt sind, dass der Mann sich atypisch benimmt!«, brachte er sein Erfolgskonzept auf den Punkt.

Wie auch immer, dachte sie und hörte ihm wieder zu.

»Diese Mistviecher nehmen keine Rücksicht! Es interessiert sie nicht, ob du bewaffnet oder unbewaffnet bist! Ich habe es erlebt! Und die Schreie der Gefolterten im Gefangenentrakt sprechen eine eigene Sprache, oder?«

»Die Prinzipien …«, begehrte Elyn auf.

»Elyn«, entgegnete Lom mit sanfter Stimme. »Ich rate dir, die Prinzipien zu vergessen. Sie sind gut für das Training, aber für den tatsächlichen Kampf sind sie nicht geeignet.«

Elyn wusste nicht, was sie antworten sollte.

»Ich zitiere deinen Vater, den Großmeister: Wenn du bereit bist, im Kampf alles zu geben und vor nichts zurückschreckst, wirst du siegen!«

War sie bereit zu kämpfen? Richtig zu kämpfen? Und zu töten?

Dreiundzwanzig von fünfundzwanzig Jahren hatte ihr Vater sie gelehrt, wie man kämpft, verwundet und tötet. Mit bloßen Händen, mit Stangen, mit Knüppeln, mit Äxten, mit Schwertern und mit allen Gegenständen, denen man habhaft werden konnte.

Dennoch hatten sie sich in all den Übungseinheiten bemüht, einander nicht zu verletzen. Natürlich war es hart zur Sache gegangen und ein gebrochener Arm, eine Rippe oder ein verstauchter Knöchel gehörten dazu. Dank der modernen Technik waren diese leichten Verletzungen binnen weniger Tage geheilt.

Nun aber war es ernst. Die Gegner wollten töten und taten es auch.

»Wie sind sie in die Station gelangt?«

»Oh, du wirst fluchen! Rog und Gle, die zwei putzigen Vorjuls, haben die Transmitter umgepolt und die Fremden an Bord geholt!«

»Rog und Gle …!« Es verschlug ihr den Atem. Vor neunzehn Jahren war sie an Bord von Natrills Kleinraumer geschlichen, um ihn zu einem Treffen mit dem Alysker Eorthor zu begleiten. Obwohl ihre Anwesenheit noch vor der Landung aufgeflogen war, hatte Natrill sie auf den Planeten Talsos mitgenommen. Dort lebten neben dem wilden, aufstrebenden Volk der Talsonen auch die Vorjuls, die ihnen als Spielkameraden dienten. Elyn hatte sich mit zwei von ihnen, Rog und Gle, angefreundet und war Natrill so lange im Ohr gelegen, bis er die beiden auf die Station mitgenommen hatte. Dort entpuppten sie sich als wahre Technikgenies. Das hatte dazu geführt, dass die Vorjuls innerhalb von zehn Jahren auf allen Stationen eingesetzt wurden.

Und diese knapp einen Meter großen Humanoiden, die immer zu Scherzen aufgelegt waren, sollten mit den Skeletten gemeinsame Sache …?

»Vom Spielkameraden zum Verräter!«, sagte Lom. »Eine interessante Entwicklung!«

»Irrst du dich nicht?«

»Ich habe die Aufzeichnungen gesehen! Es gibt keinen Zweifel!«

Sie glaubte es nicht! Rog und Gle sollten … unmöglich!

»Komm!«

Lom war aufgestanden und Elyn blickte ihn entgeistert an.

»Wohin?«

»Wir haben uns im Untergrund organisiert! Sie suchen zwar nach uns, aber wir nutzen den Heimvorteil!«

Alles in ihr sträubte sich, ihren sicheren Aufenthaltsort aufzugeben.

»Wovor hast du Angst?«, fragte Lom.

Manchmal hasste sie es, wenn er sie so schnell durchschaute. Konnte sie denn nichts vor diesem Mann verheimlichen?

»Elyn, hier hast du drei Möglichkeiten! Entweder du verblödest, du stirbst aus Langeweile oder sie finden dich. Ein einfaches Individualsuchgerät genügt und dein Bewusstsein hüpft im Display wie ein angarischer Blurz!«

Sie schmunzelte über den Vergleich. Dabei war ihr gar nicht nach Lachen zumute. Aber er beherrschte es perfekt, ihre Stimmung zu heben.

»Draußen«, er deutete über seine Schulter, »brauchen wir eine Kämpferin wie dich!«

»Vater ist ein Kämpfer! Ich nicht!«

»Schwachsinn!« Lom setzte sich und griff nach ihren Handgelenken. »Gujaz hat dich dreiundzwanzig Jahre lang ausgebildet! Dreiundzwanzig!« Lom schien richtig wütend. »Wärst du bei den Stationskämpfen angetreten, hättest du sie alle hinweggefegt!« Er schüttelte ihre Hände. »Alles, was dir fehlt, ist Selbstvertrauen!«

Elyn wusste, dass er Recht hatte.

»Na gut«, gab sie klein bei, »gehen wir!«

*

»Der Weg ist vollkommen wie der weite Raum, es gibt kein zu wenig und kein zu viel.«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Meditationseinheit

*

Längst hatte Elyn die Orientierung in dem Gewirr an Schächten, Röhren und Wartungswegen verloren. Lom vermutlich ebenfalls, hätte er nicht ein kleines Navigationsgerät bei sich getragen. Laut der Anzeige rutschten sie gerade auf allen Vieren in einem Luftschacht oberhalb der Küche. Dem Geruch nach stimmte es.

Nach einigen hundert Metern streckte Lom den rechten Arm seitwärts und gab somit das Zeichen zum Anhalten. Er spähte durch die Lüftungsschlitze, löste mit einem Gerät die Schrauben der Abdeckung. »Die Luft ist rein«, sagte er, nachdem er seinen Kopf kurz in den Raum gesteckt hatte.

Elyn schob sich nach vorne. »Ich zuerst«, verlangte sie.

»Nein, meine Perle, ich spiele den Strahlfang!« Mit einem Satz sprang er in die Tiefe, drehte sich einmal um die Achse und bedeutete ihr zu folgen. Kaum war Elyn gelandet, zog Lom die Abdeckung mit seinem Miniantigrav an ihre ursprüngliche Stelle, dann kramte er in einer seiner Hosentaschen.

»Hier!« Er hielt ihr ein weißes Band entgegen. »Die Skurits haben die für das Funktionieren der Station benötigten Cyragonen einer Gehirnwäsche unterzogen und mit diesen Schleifen samt integriertem Chip zur Kontrolle versehen. Und wir fallen nun ebenfalls in diese Kategorie«, erläuterte er.

Elyn verstand. Eine Station wie diese benötigte ein eingespieltes Team für ihr reibungsloses Bestehen. Um das komplette Potential zu nutzen, mussten die neuen Machthaber auf das bestehende Personal zurückgreifen. Daher war es nur ein logischer Schritt, die Cyragonen in ihre gewohnte Arbeit einzugliedern.

Sie schob sich das Band auf den linken Arm und trottete an Loms Seite den Gang entlang. Mehrere Minuten trafen sie niemanden, bis am Gangende acht schwer bewaffnete Skurits um die Ecke bogen.

Elyn versteifte sich. »Eine Patrouille!«

»Nur die Ruhe«, hörte sie Loms geflüsterte Stimme. »Einfach ignorieren.«

Offenbar hatte er Erfahrung mit den Skeletten. Die Skurit gingen an ihnen vorbei, als gehörten sie seit ewigen Zeiten zur Bevölkerung der Station. Fast hätte Elyn zu atmen vergessen. Erleichtert holte sie tief Luft. Lom lotste sie durch zwei weitere Gänge, dann drängte er sie in einen Lagerraum.

Was wollten sie hier?

Lom setzte sich an die Spitze und marschierte bis an die Rückseite des Raumes, glitt mit den Fingern über sein Multifunktionsarmband, ging in die Hocke und verschwand in der Wand. Elyn schloss die Augenlider, öffnete sie und betrachtete erneut die Stelle, wo Lom soeben gekauert hatte. Sie war leer.

Und sie begriff. Sie imitierte seine Bewegungen und drang durch die Holoabschirmung. Auf allen Vieren kroch sie Lom nach, der sich bei der Abzweigung nach links gewandt hatte. Da sie die Kriecherei bereits jetzt nervte, freute sie sich, dass sich der Schacht bald erweiterte und normale Ausmaße bot. Sie verfluchte die Besatzer, während Lom an die Sprossen einer Leiter klopfte.

Elyn hob den Kopf und erschrak. Die Leiter verlor sich irgendwo weit oben in der Dunkelheit eines Schachtes.

Bevor sie Lom fragen konnte, ob er es ernst meinte, befand er sich über ihr. Widerwillig kletterte sie ihm nach. Sie wünschte sich zurück in ihr kleines Reich. Auf die Matratze. In Sicherheit.

»Es sieht schlimmer aus, als es ist!« Wie immer hatte Lom ihre Gedanken erraten.

»Schon gut«, gab sie nach oben, kletterte hinter ihm her und begann zu zählen. Eins, zwei, drei, vier … Bei einhundertsiebenundsechzig verzählte sie sich, bei dreihundertachtundneunzig gab sie auf.

»Wir sind gleich da!«

»Lass mich in Ruhe«, fauchte sie und sah, wie Lom fünfzig Meter höher in einem hellen Licht verschwand. Sekunden später blickte sie in zwei rotglühende Abstrahlmündungen.

»Ich verbürge mich für sie!«

Das war Lom.

»Mir egal! Du hast sie nicht angekündigt! Du kennst die Regeln!«, antwortete eine fremde Stimme.

»Wie stellt ihr euch das vor? Soll ich jedes Mal die doppelte …«

»Ich mache die Regeln nicht!«

»Blöd genug dafür wärst du!«

Eine Abstrahlmündung verschwand.

»Was hast du gesagt?«

Elyn spürte die Aggressivität ihres Gegenübers.

»Schwerhörig bist du also auch …«

Ein Schrei.

Ein Aufprall.

Wimmern.

»Bist du so nett und lässt meine Freundin hinauf?«

Die Abstrahlmündung erlosch und wich einer helfenden Hand. Elyn wuchtete sich über den Rand der Leiter und stand auf einer weitläufigen Plattform, die in einer Röhre mündete. Einer der Wachmänner, ein bullig wirkender Hüne, der Lom um mindestens einen Kopf überragte, lag am Boden und hielt sich die Brust. Lom stieg über den Mann und steuerte – wie konnte es anders sein – auf die Röhre zu. Sie folgte ihm und hoffte, dass sie im Schacht aufrecht gehen konnten.

Ihre Hoffnung trog sie nicht. Wie zivilisierte Cyragonen marschierten sie durch die Gänge. Nach einigen Abzweigungen begegneten ihnen mehrere Cyragonen. Elyn kannte niemanden, grüßte aber genauso wie Lom.

»… müssen wir zuschlagen! Gnadenlos!«

Elyn kannte diese Stimme! Abrupt blieb sie stehen.

»Lom!«

Er stoppte ebenfalls, drehte sich um und lächelte verlegen. »Ich habe vergessen, zu erwähnen, dass …«

»Nein! Bitte, Lom, sag mir nicht, dass sich ihr alle untergeordnet haben! Bitte!« Das letzte Wort flüsterte sie.

»Nun, die Offiziere aus der Führungsebene wurden entweder hingerichtet oder einkerkert …«

»Es wird doch wohl noch andere handlungsfähige Leute geben!« Sie wollte es nicht glauben.

»Na ja, dein Vater, der stellvertretende Kommandant, ist auf einer Expedition, ihr Vater, der Kommandant wurde getötet, sie selbst gehört zur zweiten Führungsebene …«

»Schon gut, ich habe begriffen!« Sie zwang sich, das Unvermeidliche zu akzeptieren. »Wo stehst du?«

»Ich bin einen Tag nach Ausbruch der Invasion, also vor zwei Tagen, zur Widerstandsbewegung gestoßen. Jeder ordnet sich dort ein, wo er am meisten gegen die Besatzer bewirken kann.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du kennst mich! Ich mache, was mir Spaß macht! Und wenn ich kämpfen will, dann kämpfe ich. Und wenn ich nicht kämpfen will, dann kämpfe ich eben nicht. So einfach ist es!«

Sie starrte ihn an.

»Lass sie die Verantwortung tragen und eventuelle Niederlagen ausbaden!«

Elyn schob Lom beiseite und marschierte in den Raum. Lyrata stand hinter einer Art Rednerpult, vor einer Zuhörerschaft von etwa dreihundert Männern und Frauen. Der Platz wurde von Kuppelzelten eingekreist, die als Wohneinheiten dienten. Elyn vermutete, dass die Widerstandskämpfer einige Lager ausgeräumt hatten.

Lyrata hatte sich in den letzten sieben Jahren nicht verändert. Die blonden Haare trug sie schulterlang, heute allerdings zu einem Zopf gebunden. Als Kleidung trug sie die an Bord typische Uniform, versehen mit dem goldenen Abzeichen des Anführers.

Neu war das Stirnband. »Zi You Ri’Zhan!« stand in der Sprache der Ahnen darauf geschrieben. Übersetzt bedeutete es »Befreit die Sonnenstation!«

Lyratas blaue Augen bewegten sich unablässig in alle Richtungen, um jedes Detail aufzunehmen. Prompt blieb ihr Blick an Elyn hängen. Ein Schatten erschien auf Lyratas Gesicht, der so schnell verflog, wie er entstanden war. Sie sprach weiter, als sei nichts geschehen. »Lasst uns ihre Skelette brechen!«

Die Menge jubelte, Lyrata trat vom Rednerpult zurück und machte einem älteren Mann Platz. Er stellte sich als Rucik vor und begann, den Cyragonen Aufgabenbereiche zuzuweisen.

Lom klopfte Elyn auf den Rücken und deutete nach rechts. Lyrata kam tatsächlich auf sie zu. Sie fasste es nicht.

»Elyn«, wurde sie mit Handschlag begrüßt, »freut mich, dass du zu uns gefunden hast.«

»Lom hat mich hergeschleppt!«

Lyratas Augen wurden groß, als sie sich ihm zuwandte. »Oh, das ist also jener berühmte Lom.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, sagte er mit einem Lächeln und einem Blick, bei dem Elyn Bescheid wusste. Sie kannte genug von seinen Frauengeschichten, um zu wissen, wann er es ernst meinte und wann nicht. Er zog seine Show ab. »Wieso berühmt?«, fragte er und tätschelte Lyratas Oberarm.

»Einerseits, weil mir schon viel über dich zu Ohren gekommen ist … über Umwege, damals in der Schule.«

»Auch über die zwei Stunden?«

Lyrata bedachte die Anzüglichkeit mit einem Grinsen und fuhr fort, »und andererseits, weil mein Vater viel von dem Leiter der astronomischen Abteilung hielt.«

»Ich schließe mich dem an, was du vermutlich schon tausend Mal in den letzten drei Tagen gehört hast!«, antworte Lom und spielte auf den Tod des Kommandanten an.

»Danke!«

»Dein Vater war ein großartiger Mann!«, sagte Elyn.

Lyrata nickte.

»Wir werden die Erinnerung an ihn bewahren!«, erwiderte Lyrata, schwieg und klopfte Elyn dann auf die Schulter. »Suchen wir dir eine Tätigkeit in der Widerstandsbewegung, die deiner würdig ist!«

Ich hasste sie immer noch!

Einsatz

»Wer besser kämpft, soll deshalb übermütig werden; und wer im Rückstand liegt, soll sich nicht entmutigen lassen. Bei Eile gilt es, nicht die Fassung verlieren und vor der Stärke keine Furcht haben. Um Sanftheit zu bezwingen, macht man von Härte Gebrauch, nicht von Brutalität; um Härte zu besiegen, ist Sanftheit gefragt, doch ohne den Kampfgeist verlieren. Wer immer einen klaren Kopf bewahrt und die Situation gut einzuschätzen weiß, der schlägt auch immer richtig zu, und kein Schlag trifft ins Leere …«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Trainingseinheit

*

Ihr erster Einsatz!

Elyn lockerte die Finger der linken Hand, um dann den Lauf ihrer Kombiwaffe um so fester zu fassen. Sie kniete mit einem Fuß am Boden, lehnte mit der rechten Körperhälfte an der Mauer und zielte auf den – von ihr aus gesehen – rechten Skurit. An der linken Seitenwand lehnte Lom und ließ die andere Wache nicht aus den Augen. Vor Elyn saßen zwei weitere Kämpfer und hinter ihr warteten fünf Cyragonen auf den Beginn des Einsatzes.

Die Abschirmung der Deflektorschirme war hundertprozentig. Die Skurits blickten in einen leeren Gang.

»Die Minimalstrahlung der Deflektoren kann nur ein Spezialortungsgerät feststellen. So etwas benutzen normale Wachen nicht!«, hatte sie der Technikleiter des Stützpunktes beruhigt. Offenbar hatte er Recht.

Elyn blickte auf ihren Chronometer. Eine Minute bis zum Zugriff! Ihr Herz schlug plötzlich schneller und ihre Hände schwitzten. Weil sie damit gerechnet hatte, trug sie Handschuhe. Sie öffnete ihr drittes Auge und entspannte sich.

Zwei Jahre lang hatte sie das Training der Stationssicherheitsabteilung mitgemacht, hatte gelernt, wie man Räume richtig betritt, wie man seinem Vordermann Deckung gab, wie man im Springen schoss und traf. Ihr Vater hatte ihr diese Ausbildung ermöglicht. Ob sie sich bezahlt machte, würde sich heute erweisen.

»Sie kommen!«

Der Beobachter meldete sich. Elyn konzentrierte sich mit ihren feinen Sinnen auf den Bereich hinter ihr. Prompt nahm sie die hellgraue Energie zweier Wesen in ihrem Rücken wahr. Die Wachablösung!

Pünktlich auf die Sekunde.

Es fühlte sich seltsam an zu wissen, dass zwei Wesen an ihr vorbeigingen, die sie nicht sehen konnten. Elyn löste sich von der Wand und folgte den Skeletten. Neben ihr Lom. Hinter sich wusste sie Himo und Grotex.

Die Wachen wechselten kein Wort mit ihren Kollegen, als diese näher traten. Offenbar waren die Skurit kein gesprächiges Völkchen. Das Schott glitt auf und sie traten hindurch. Elyn huschte nach rechts, vorbei an einem Regal. Trotz ihrer Unsichtbarkeit schlich sie geduckt bis zur Tür des Verwalters, sah ihn durch die Scheibe hinter einem wuchtigen Schreibtisch sitzen und wartete.

»Los!«

Während hinter ihrem Rücken die vier Skurits mit Paralysatorstrahlen bestrichen wurden, trat sie die Tür ein, glitt in den Raum und schoss. Der Verwalter erstarrte. Er hockte wie gelähmt in seinem Sessel.

»Grün!«

Die »Erledigt«-Meldungen prasselten durch den Äther. Auch sie stimmte ein. Mit einem Miniantigrav zog sie den Skurit aus dem Zimmer und legte ihn auf seine vier Artgenossen. Blieben die beiden Wachen im Gang.

»Ihr seid dran!«, gab Lom nach außen weiter.

Ein kleines Hologramm zeigte ihr, dass ihre Kollegen im Gang ebenso professionell agierten wie ihre Truppe. Die Wachen fielen paralysiert zu Boden.

Lom öffnete das Schott. Er und Himo klatschten zwei Miniprojektoren an die Wände neben der Tür. Ein kurzes Flackern, und schon entstanden die Wachen neu, als perfekte Holographie. Sie zerrten die Skurits in den Raum und schichteten sie auf ihre Artgenossen. Gleichzeitig betraten sechs Kameraden mit Lastenantigravs den Raum.

»Dann wollen wir die Einkaufsliste abarbeiten«, sagte Tutshu und marschierte in die Waffenkammer. Strahlenkarabiner, Bomben und verschiedene andere Waffen landeten auf den Schwebeplattformen.

»Fertig!«, sagte sie nach zehn Minuten und blickte auf die beladenen Antigravs.

»Fast!« Grotex umrundete den Tisch und verstellte die Funktion seiner Waffe. »Zuerst werde ich diesen Haufen hier beseitigen.«

Elyn setzte mit einem Sprung über den Tisch und trat zu. Die Wucht des Fußkicks riss Grotex die Arme nach oben. Der Strahl schoss in die Decke, schmolz dort ein Stück des Belages ab und versiegte, ehe die Waffe zu Boden polterte.

Grotex glotzte sie an. »Bist du …?«, herrschte er sie an.

»Wir töten keine Wehrlosen!«

»Sagt wer?«

»Ich!«

Grotex griff nach seinem am Boden liegenden Strahler, hob ihn auf und kam auf sie zu. »Diesen verfluchten Mistkerlen war es egal, dass meine Freundin unbewaffnet war. Sie haben sie einfach über den Haufen geschossen! Grundlos! Also revanchiere ich mich.«

»Rache ist ein schlechter Ratgeber!«

»Erspare mir deine blöden Sprüche!« Erneut legte er auf die Skurits an.

»Ich will dich nicht paralysieren müssen«, sagte sie. Selten hatte Elyn sich entschlossener gefühlt. Da Grotex zögerte, wusste sie, dass sie gewonnen hatte. »Lyrata hat es auch gefordert!« sagte er nur noch, um sein Einknicken zu beschönigen.

Grotex senkte die Waffe. »Du bist schuld, wenn sie weitere von uns töten!«, fauchte er und stampfte an ihr vorbei.

Erleichtert sah ihm Elyn nach. Man verriet leicht die Ideale, wenn Hass regierte.

*

»Wenn sich die Methode, mit der man den Gegner schlagen will, immer rechtzeitig ändert, dann kann man Vorteile ausnutzen und Nachteile vermeiden. Gute Chancen und gegnerische Schwächen aufzuspüren hilft, den Gegner aus der Fassung zu bringen. Hier kann selbst die grundlegenste Technik hervorragende Wirkungen erzielen.

Wer sich verändert, kann fest und leer zu gleich sein: fest, nicht weil er zu viel Kraft hat, sondern weil der Feind einen Fehler macht; leer, nicht weil Kraft zum Zuschlagen fehlt, sondern weil die eigene Leere den Feind dort hinlenkt, wo es von Vorteil ist.«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Trainingseinheit

*

»Ist das wahr, Elyn?«

Lyrata hatte Elyns kleines Kuppelzelt ohne Gruß betreten. Sie war erregt, kein Zweifel. Elyn musste sich nicht einmal auf die Lebensenergie der ehemaligen Klassenkameradin konzentrieren, um das zu sehen. Lyratas Halsschlagader schlug gegen die Haut.

»Falls du mir sagst, worum es geht, gebe ich dir eine Antwort!«, erwiderte sie so ruhig wie möglich.

»Du hast Grotex daran gehindert, unsere Feinde zu töten?«

»Ich habe verhindert, dass Grotex paralysierte Lebewesen ermordet!«, präzisierte Elyn und lehnte sich im Sessel zurück.

»Weißt du, was du verhindert hast? Du hast verhindert, dass unsere Feinde dezimiert werden! Du hast verhindert, dass …«

Niemand konnte länger als sieben oder acht Minuten hintereinander schreien. Zumindest stand das in einem der psychologischen Standardwerke, die ihr Lom geborgt hatte. Die meisten Cyragonen schafften es nicht, sich länger als drei Minuten aufzuregen. War der erste Schwung einmal vorbei, hatte man das Gewitter überstanden. Lyrata jetzt zu unterbrechen, hätte ihr die Gelegenheit gegeben, mit ihren Vorwürfen neu zu beginnen. Also wartete Elyn, bis sie Luft holte und bot ihr einen Sitzplatz an.

»Nein, danke!«

Na bitte, sie war schon ein wenig höflicher!

»Wer im Feind das Lebewesen nicht sieht, der ist des Lebewesens Feind!«, zitierte Elyn einen Philosophen der Cyragonen. »Lyrata, wir dürfen nicht auf das Niveau der Feinde sinken!«

»Du hast recht.« Elyn traute dem Frieden nicht. So schnell gab Lyrata nicht klein bei. Aufgebracht fuhr sie fort:

»Wir befinden uns im Krieg. Ein Krieg, auf den wir uns vorbereitet haben. Generation um Generation hat für den Ernstfall geübt und wir sind nun diejenigen, die den Krieg führen müssen. Anders als unsere Simulationen vorhergesagt haben. Wir haben an einen Kampf gegen Raumschiffe gedacht, an Roboterherden, die wir aus sicherer Distanz dirigieren und die sich gegenseitig zu Schrott verarbeiten! Doch der Feind war verschlagener, als wir es erwartet haben. Er hat uns eine dritte Kolonne untergejubelt.«

Elyn wollte gar nicht daran denken, wie sie die Vorjuls als Spielkameraden an Bord geholt hatte, gemeinsam mit Natrill, Lyratas Vater. Vermutlich ging sie deshalb nicht genauer auf die Geschehnisse ein.

»Die verfluchten Vorjuls haben die Transmitter umgepolt und so den Skurits heimlich Zutritt zu den Stationen verschafft. Bis wir es bemerkt haben, waren wir überrannt und zu überrascht, um dem Angriff aus heiterem Himmel wirkungsvoll entgegen zu treten. Die wenigen, die es taten, büßten es mit dem Tod.«

Elyn schwieg.

»Wir müssen uns auf diesen neuen Krieg einstellen – aus dem Hinterhalt agieren und dem Feind weh tun, wo immer wir ihn treffen. Wir müssen die Skurits unter Druck setzen, dürfen sie niemals zur Ruhe kommen lassen. Sie müssen glauben, dass an jeder Ecke ein Cyragone mit einer Waffe auf sie lauert, der bereit ist zu töten. Elyn, wir müssen sie bluten lassen!«

Elyn erschrak. Sie hatte nicht gewusst, dass Lyratas Hass so groß war. Vermutlich lag es an der Ermordung ihres Vaters. Sie widersprach.

»Das Einzige, was du mit diesen Mitteln erreichst, ist, dass sie auf uns schießen, sobald sie uns sehen!«

»Genau das können sie nicht! Ohne uns funktioniert diese Station nicht. Ohne unser Wissen, unsere Logistik und unsere Erfahrung ist die Anlage nutzlos!«

»Du unterstellst, dass sie die Stationen benötigen. Was, wenn es nicht?«

Lyrata schwieg. Offenbar wusste sie keine Antwort.

»Vielleicht haben sie die Stationen besetzt, um den Schutz um unsere Galaxis aufzuheben. Was, wenn sie nur darauf warten, bis sich all ihre Schiffe in der Galaxis befinden und uns dann töten?«

»Weswegen sollten sie uns töten? Sie brauchen uns!«

»Das vermutest du, Lyrata! Kein Skurit hat bis jetzt gesagt, warum sie die Stationen überrannt haben. Wir wissen nicht, wozu sie die Station samt Besatzung benötigen. Oder wie lange!«

Elyn stand auf, trat zu ihrer Gesprächspartnerin und legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Einstweilen lassen sie uns am Leben. Ob das morgen auch so ist, ist ungewiss. Konzentrieren wir uns daher auf das Wesentliche: Finden wir einen Weg, um die Skurits aus den Stationen zu verjagen – und zwar so rasch wie möglich! Denn ich befürchte, dass wir dazu nicht mehr lange Zeit haben werden!« Sie holte tief Luft. »Lyrata, es nützt uns nichts, wenn wir Bombe um Bombe zünden, um die Besatzer zu dezimieren! Wir müssen ihre Aufmerksamkeit einschläfern, sie ablenken, sie glauben lassen, dass wir uns mit ihrer Übermacht abgefunden haben und uns unterordnen. Im Hintergrund müssen wir alles vorbereiten, um sie in einer einzigen Aktion aus der Station zu werfen!«

Lyrata schien zu überlegen.

»Auch ich bin für Nadelstiche, die die Besatzer schwächen – aber es genügt, sie zu paralysieren. Es ist effizienter, wenn wir ihre Infrastruktur zerstören. Soldaten ohne Essen sind keine guten Soldaten! Schneide sie drei Tage von der Küche ab und sie werden gegen ihre Vorgesetzten meutern.«

»Dessen bin ich mir bewusst!«, sagte Elyn. »Es sollte ein Beispiel sein, um dir zu verdeutlichen, was ich meine.«

»Dennoch müssen wir etwas gegen die Besatzer unternehmen! Das Volk fordert es!«, beharrte Lyrata.

»Wir, du und ich sind das Volk, Lyrata. Du gibst ihnen Ideen vor, wenn du vor ihnen stehst und redest. Sie hören auf dich, Lyrata! Wenn du ihnen sagst, sie sollen die Skurits töten, dann gehen sie und tun, was du ihnen gepredigt hast. Sag ihnen, sie sollen passiven Widerstand leisten und sie werden ebenfalls gehorchen. Denn auch die Cyragonen verlassen sich in Krisenzeiten auf ihre Anführer! Also entscheidest du über ihre Gedanken.« Elyn schwieg, um ihre Worte wirken zu lassen und setzte dann nach: »Du trägst eine große Verantwortung, Lyrata.«

»Ich weiß«, erwiderte die Gleichaltrige. »Ich weiß!«

Nichts erinnerte mehr an die wütende Furie. Elyn jubilierte innerlich. Es freute sie, dass sie Lyrata mit ihren Worten nachdenklich gemacht hatte. Ob die Verhaltensänderung nachhaltig war, würde die Zukunft zeigen.

»Es ist mir schleierhaft, warum wir uns nie gemocht haben«, sagte Lyrata. »Schön, dass du mit dabei bist!«

Elyn ergriff ihre Hand. »Danke!«

Lyrata ging ruhiger als sie gekommen war. Und entspannter. Elyn sah es an der Jhi-Verteilung im Körper. Erleichtert widmete sie sich ihren Folien, doch kurz darauf drang eine bekannte Stimme an ihr Ohr.

»Was war denn das?« Lom stand im Raum und blickte über seine Schulter.

»Lyrata«, antwortete Elyn und lächelte.

»Ha, ha! Das weiß ich!« Lom verzog die Lippen. »Zuerst schießt sie wie eine Verrückte in deine Wohneinheit, so dass ich schon Pläne für einen Befreiungsschlag erwog, und dann verlässt sie dich ruhig und seltsam in sich gekehrt. Fast nachdenklich.«

»Wir haben über das Ziel und die Vorgehensweise der Widerstandsbewegung gesprochen.«

»Aha!«

»Und sie war meinen Argumenten zugänglich!«

»Unglaublich! Wirst du wohl aufhören, unsere harte Anführerin mit deinem Friedensgeschwafel anzustecken! Elyn, also wirklich!« Loms Entrüstung war gespielt. Sie kannte ihn nach zwölf Jahren gut genug, um zu wissen, dass er auf ihrer Linie war.

Die Unschuldsmine kaufte sie ihm erst recht nicht ab! »Was versteckst du hinter dem Rücken?«

Sie stand auf. »Komm schon, Lom! Was hast du da?«

Er blickte nach oben und pfiff. Elyn trat an ihn heran und er zog die rechte Hand hinter dem Rücken hervor.

»Zwei glockenförmige Violen!«

»Die Blumen sind für dich, weil du deinen ersten Kampfeinsatz so bravourös gemeistert hast!«

Elyn fiel ihm vor Freude um den Hals, küsste ihn einmal. Und dann erneut. »Danke! Wo hast du die aufgetrieben?«

»Wird nicht verraten!«, antwortete er schmunzelnd. »Habe ich dir schon gesagt, dass du ausgezeichnet küsst?«

Sie nahm ihm die Blumen aus der Hand und fauchte: »Du hast es mir beigebracht!«

»Ah, drum … und ich hab mich schon gewundert … na, dann muss ich mir wohl selber sagen, dass ich ausgezeichnet küsse.«

»Ja, ja«, antwortete Elyn, während sie die Blumen in eine Vase stellte.

Lom war ihr nachgegangen und zog sie an sich.

»Ich hab dich lieb, meine Perle!«

Elyn schmiegte sich an ihn, genoss seinen Körper und streichelte seine Hände. »Ich dich auch!« Es war schön, ihn zu spüren. Wenn sie sich recht erinnerte, lag ihre letzte Zweisamkeit schon lange zurück. Verdammt lange.

»Komm mit«, sagte sie und zog ihn zur Matratze. »Ich möchte heute nicht allein einschlafen!«

Skurits

»Jemand fragt: Wenn man über hunderte von Techniken verfügt, wie soll man gegen zehntausende von Situationen und Erscheinungen ankämpfen?

Die Antwort: Man verändert sich je nach Situation, so kann man gewinnen.«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Trainingseinheit

*

Elyn betrachtete die holografische Wiedergabe der Station, die über dem Tisch schwebte. Selten hatte sie bemerkt, dass sie in einer künstlichen Umgebung lebte. Vermutlich hatte ihr deswegen auch der Himmel nie gefehlt. Wer sich nach Natur sehnte, der setzte sich in den hydroponischen Bereich. Dort konnte man das blühende Paradies so lange genießen, bis einem die Insekten auf die Nerven gingen.

Elyn erinnerte sich an keinen Außenausflug, bei dem sie nicht in die Station zurückkehren wollte.

»Die Skurits konzentrieren sich auf einige strategische Bereiche innerhalb der Station«, sagte Lom.

Die Syntronik wies den Skeletten rote Punkte zu.

»Zentrale, Hangar, Waffendeck, Küchendeck«, zählte Elyn auf.

»In der Summe sind es dreitausend Gegner!«

»Nichts im Vergleich zu fünfzehntausend Cyragonen in der Station!«

Lom lächelte gequält. »Es hat genügt, um die Station zu kapern!«

»Darum überlegen wir uns, wie wir sie hinauswerfen können«, antwortete Elyn. »Wir müssen die Chancen nutzen, die sich uns bieten! Noch ist ihre Infrastruktur anfällig! In ein paar Tagen sieht es vermutlich anders aus!«

»Ich gebe dir Recht.« Lom nickte. »Vier Tage sind zu wenig, um die komplette Station zu überwachen, geschweige denn zu beherrschen!«

»Wo können wir sie schwächen?«, fragte Elyn und blickte in das Hologramm.

»Hier«, sagte Lom und deutete auf die unteren Ebenen der Anlage. »Die Skurit-Soldaten patrouillieren immer auf demselben Weg.«

»Sieht nach einer Falle aus!«

»Mein Gedanke! Aber wie würdest du von Sektor C nach Sektor E gehen?«

Elyn überlegte. Auch wenn sie selten in den genannten Bereichen unterwegs gewesen war, kannte sie den inneren Aufbau der Station. Orientierte man sich an den offiziellen Gängen, gab es nur diesen einen möglichen Weg. Lom hatte Recht.

»Ich würde denselben Weg wählen wie die Skurits!«

»Ein berechenbarer Gegner ist ein leichter Gegner!«, sagte Lom und streichelte ihren Handrücken. Elyn genoss diese Berührung. Sie erinnerte sich daran, wie schön es war, gestern mit ihm einzuschlafen. Sie hatten sich liebkost und waren aneinander gekuschelt in das Land der Träume geglitten.

Sie spürte, dass es Zeit war, sich ihrer ersten Beziehung zu stellen. Bis zum heutigen Tag hatte sie nur mit Lom Zärtlichkeiten ausgetauscht. Auch wenn sie es sich mehr als nur einmal gewünscht hatte, war es nie zum Sex gekommen. Lom hatte sich geweigert, diese Grenze zu überschreiten, auch wenn sie sich gegenseitig bis zum Höhepunkt gestreichelt hatten.

Sie seufzte innerlich, während Lom die Syntronik anwies, mehrere Angriffssimulationen zu erstellen. Im Hologramm lief die achte Angriffsvariante ab. Mit jeder neuen Berechnung verringerten sich die Erfolgsaussichten.

»Ich denke, wir nehmen Plan B!«

Elyn nickte.

»Stimme dir …«

Der Vorhang wurde beiseite geschoben und Himo steckte seinen Kopf in den Raum.

»Sie haben Lyratas Gruppe aufgerieben!«, rief er und verschwand.

Elyn und Lom sprangen auf. »Scheiße!«

Beide liefen aus dem Raum. Elyn spürte die Aufregung, die das Lager erfasst hatte. Die Cyragonen stürzten aus ihren Kuppelzelten, redeten durcheinander und warteten, dass jemand Licht in die Gerüchte brachte.

Hicto, Lyratas Stellvertreter trat vor die Menge. »Bei dem Versuch, einen Lagerraum in Sektor 42 auszuräumen, kam es zu unerwarteten Schwierigkeiten. Die Gruppe traf auf eine Übermacht an Gegnern. Lyrata wurde gefangengenommen, die anderen getötet!«

Zufall schied für Elyn aus. Offenbar hatten die Skurits herausgefunden, wer die Widerstandsbewegung anführte.

»Wir müssen hier weg!«

Elyn konnte den Rufer nicht identifizieren. Aber sie stimmte ihm zu. Lyrata in den Händen des Gegners bedeutete nicht Gutes. Sie wusste zu viel.

»Du hast Recht! Zum Glück kennt Lyrata nur ein Ausweichversteck!«

Elyn nickte anerkennend. Die Führungsebene hatte sich Gedanken gemacht.

»Wir werden sie befreien. Wie, wann und wo werden wir entscheiden, wenn wir uns in Sicherheit befinden. Unser vorrangiges Ziel ist, das Hauptquartier zu verlegen. Wir dürfen keine Spuren hinterlassen, die sie zu unserem nächsten Versteck führen. Löscht alle Dateien, demontiert die festen Waffen und dann nichts wie weg!«

Die Cyragonen machten sich an die Arbeit.

*

»Ein Kämpfer nutzt Techniken wie ein guter Arzt Krankheiten heilt: Die Krankheit verändert sich tausend Mal, also muss das Rezept auch tausend Mal verändert werden. Gelingt das nicht, dann kann die Krankheit eben nicht geheilt werden; wenn die Situationen sich verändern, aber die Technik nicht, kann man den Gegner nicht bezwingen.«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Trainingseinheit

*

»Vorbereitung ist der halbe Sieg!«, hatte Lom gesagt. Ob er auch diesmal Recht hatte, würde die Zukunft zeigen.

Elyn lugte über den Geräteblock, hinter dem sie seit zwei Stunden kauerte. Vierzehn weitere Kämpfer der Widerstandsbewegung hatten sich im Raum verschanzt und warteten geduckt auf den Einsatz.

Dieses Warten zerrte an Elyns Nerven. In den letzten zwei Stunden hatte sie an alles Mögliche gedacht, um sich abzulenken. Wiederholt war sie den Einsatzplan durchgegangen und hatte zum Glück keine Fehler entdeckt. Dann hatte sie sich der Frage nach den Unregelmäßigkeiten bei den Pulswandlern des Anti-Temporalfeldes gewidmet und endlich eine Lösung zur Verbesserung des Energieflusses gefunden. Sobald sie die Besatzer aus der Station geworfen hatten, würde sie sich an die Arbeit machen.

Ein Blick auf das Minihologramm zeigte, dass der Gang über ihr leer blieb. Womit also konnte sie noch die Zeit totschlagen?

Sie kontrollierte das Energiemagazin ihrer Kombiwaffe. Voll!

Mit dem Funktionsschalter wählte man zwischen Thermo-, Desintegrator- und Paralysemodus. Elyn aktivierte die Paralysefunktion der Waffe. Sie dachte an Kastor, den Waffenausbilder der Sicherheitstruppe. Neben exzellenten Schießkünsten hatte er seinen Leuten alles über die Funktionsweise der Waffe beigebracht.

»Ein Paralysator funktioniert als Kombination von elektromagnetischen und hyperelektromagnetischen Wellen, die das periphere Nervensystem lähmt. Sie unterbricht die dem Willen unterstellte Muskulatur und macht den Getroffenen bewegungsunfähig, obwohl er weiterhin denken, sehen und hören kann. In Militärkreisen wird sie als Defensivwaffe eingestuft, da bei der Anwendung keinerlei körperlichen Schäden zurückbleiben und der Angreifer nach Abklingen der Symptome wieder einsatzfähig ist«, hörte sie ihn sagen. Seine technischen Abhandlungen waren bei den Männern und Frauen der Einsatzgruppe gefürchtet. Elyn war die Einzige, die bei den überaus detaillierten Referaten bis zum Ende durchhielt.

»Effizienter in der Ausschaltung von Gegnern ist der Thermostrahler. Er arbeitete mit einem scharf gebündelten, ultraheißen Energiestrahl, einem nicht-divergenten Bündel elektromagnetischer Wellen, deren Wellenlänge wesentlich länger ist als die des sichtbaren Lichts. Er gibt hauptsächlich Wärmeenergie von einigen hundert Megawatt ab, die im Ziel freigesetzt wird und dort jegliche Materie verbrennt, zerschmilzt und vergast. Einziger Nachteil sind die Schwundverluste, da die Luft einen Teil der Wärme aufnimmt und sie ableitet. Höhere Energiezufuhr gleicht diesen Umstand aus, führt jedoch zu einem schnelleren Entladen der Magazine!« An dieser Stelle hatte Kastor einen beliebten Scherz eingefügt.

»Was folgt daraus?«, hatte er gesagt und niemand hatte ihm geantwortet. »Daraus folgt«, hatte er fortgesetzt, »dass es sich empfiehlt, genug Reservemagazine mitzuführen.«

Niemand hatte gelacht. Gemerkt hatten sie es sich dennoch.

»Kommen wir als Letztes zum Desintegrator. Dessen Strahl wirkt auf intermolekulare, elektrostatische Anziehungskräfte fester und flüssiger Materie. Im Inneren der Waffe schickt man verstärkte Mikrowellen als reine Energie mit Lichtgeschwindigkeit durch einen Howalgoniumkristall, wodurch sich der Energieimpuls in einen metastabilen, hyperenergetischen Desintegrationsimpuls verwandelt. Durch diese enorme Verstärkung erreicht der Impuls eine Stärke, die einigen Billionen Watt pro Quadratzentimeter entspricht. Seine hyperenergetische Struktur löst nicht nur Materie auf, sondern reißt auch die Feldstruktur von Schutzschirmen auf. Trifft der Strahl auf feste oder flüssige Materie, so heben die hyperenergetischen Felder den Verbund der Moleküle auf, so dass die einzelnen Atome freigesetzt werden und ein Gas entsteht. Dieser Effekt wird von einer minimalen Ionisation begleitet, weshalb die Entladung eines Desintegrators als ›hellgrünes Leuchten‹ beschrieben wird.«

Im Gang der Ebene über ihnen bewegte sich etwas.

Endlich!

Zwei schwer bewaffnete Skurit-Soldaten kamen um die Ecke, gefolgt von zwei weiteren. Dahinter schritt Lyrata. Vier Soldaten als Nachhut komplettierten die Eskorte.

Elyn machte sich bereit. Sie blickte in die Gesichter einiger ihrer Mitkämpfer. Deutlich sah sie ihre Anspannung. Lom kauerte rechts von ihr, wischte sich die Handfläche an seiner Hose ab und räusperte sich leise. Ihr gegenüber erspähte sie eine Waffenmündung. Dort war Himo in Stellung gegangen. Auch die anderen Kämpfer hatten sich im Raum verteilt. Ausschlaggebend für ihre Positionen waren taktische Überlegungen gewesen. Jeder sah von seiner Stellung das Zielgebiet ein und erreichte alle möglichen Ziele.

In Gedanken zählte Elyn die Sekunden hinunter.

Drei. Zwei. Eins!

Die an der Decke angebrachten Desintegratorbomben explodierten und lösten das dicke Material auf. Skurits wurden sichtbar, dann fielen die Soldaten nach unten. Es krachte, als sie am Boden der unteren Ebene aufprallten. Sofort kamen sie auf die Beine. Jemand – vermutlich der Anführer – brüllte Befehle.

Während die Hälfte der Krieger ihre Waffen nach oben richteten, blickten sich die anderen vier Skurits kampfeslustig um.

Erleichtert erkannte Elyn, dass Teil eins ihres Planes funktioniert hatte. Ein Traktorstrahl hatte Lyratas Absturz verhindert und sie in einen Schacht innerhalb der Zwischendecke gezogen. Zwei Rebellen würden mit ihr vom Kampfgebiet verschwinden.

Blieben die acht Skurit-Soldaten vor ihr. Waren die Cyragonen zu Beginn der Invasion davon ausgegangen, dass sich die Skelette ergaben, hatten sie mittlerweile umgedacht. Skurits töteten sich selbst, um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Selbst paralysierte Skurits starben, sobald sie in Gefangenschaft wieder erwachten. Derzeit gab es andere Probleme, als zu klären, warum sie zu einem grünen Brei zerrannen.

Himo feuerte zuerst. Kurz lag ein feines Singen in der Luft, dann fiel der erste Skurit zu Boden. Sofort erwiderten die verbliebenen sieben auf Verdacht das Feuer. Thermo- und Desintegratorstrahlen zerschnitten die Luft, trafen das Schutzfeld, das die Cyragonen um sich gelegt hatten und wurden von ihm absorbiert.

Langsam kamen die Cyragonen aus ihren Verstecken, zeigten, dass sie in der Übermacht waren. Trotz der Sinnlosigkeit ihres Widerstands feuerten die Skurits weiter. Mit beängstigender Genauigkeit schlugen die Strahlen in den Schutzschirm ein. Wäre er nicht gewesen, hätten die Skurits siebenmal getroffen und getötet. So aber näherten sich die Cyragonen ohne Gefahr für ihr Leben.

Elyns Strahler zielte weiter auf die Soldaten. Einige andere – darunter Lom – hatten ihre Waffen lässig geschultert. Sie vertrauten auf das hyperenergetische Feld, das sie vor den Angriffen der Skelette schützte.

»Sagt eurem Anführer, dass wir erst ruhen werden, wenn ihr die Station verlassen habt!« Ruciks Stimme klang ruhig und beherrscht.

Die Skurits senkten die Waffen und einer von ihnen trat nach vorne. »Ich habe etwas für euch!«

Elyn stutzte. In der Vergangenheit hatten die Skurits mit der Widerstandsbewegung keinen Kontakt aufgenommen. Egal, was sie versucht hatten, die Skurits hatten nicht reagiert. Hatte die Festnahme Lyratas etwas damit zu tun? Hatte sie Geheimnisse verraten? Falls ja, welche?

Der Mann fummelte an seinem Funktionsarmband, bis ein Hologramm entstand. Es zeigte einen hageren Humanoiden. Abgesehen von seinen weißen Haaren, seiner hellgrauen Hautfarbe und seinem vom Pocken und Narben verunstaltetem Gesicht hätte man ihn mit einem Cyragonen verwechseln können. Elyn wusste, dass er dem Volk der Zievohnen entstammte und Tuoer hieß. Der Anführer der Skurits saß in einem Sessel. Dem Hintergrund nach zu schließen war die Aufnahme in der Zentrale der Station erfolgt.

»Meine lieben Widerstandskämpfer! Es freut mich, dass ihr euch so engagiert gegen meine Pläne stemmt. Damit haltet ihr meine Krieger auf Trab und sie rosten nicht ein!«

Elyn fand seine Einstellung interessant.

»Doch es ist an der Zeit, dass wir reagieren, anstatt zu agieren!«

Tuoer erhob sich und die Kamera schwenkte an ihm vorbei. Zehn Cyragonen knieten in der Zentrale.

Elyn traute ihren Augen nicht.

Mutter!

»Evane«, flüsterte neben ihr Himo.

Lyrata musste in den sicherlich stattgefundenen Verhören geplaudert haben. Daran bestand kein Zweifel. Neben ihrer Mutter knieten ausschließlich Angehörige der Widerstandskämpfer.

Was hatte Tuoer vor?

»Ich nehme an, ihr erkennt die Männer und Frauen hier. Falls ihr euch nicht stellt, töte ich alle zwei Stunden einen der Gefangenen.«

Tuoer wandte sich zur Seite, streckte die rechte Hand aus und jemand reichte ihm einen Strahler. Langsam schritt er die Reihe der Gefangenen ab.

»Und mit dieser Frau beginne ich«, sagte er und hob den Strahler, »diese Frau werde ich töten!«

Ein roter Strahl raste aus der Waffe, trat in der Stirn ein und am Hinterkopf aus. Die Frau kippte rückwärts.

Mutter!

Elyn zitterte. Dieser … dieser Mistkerl hatte soeben ihre Mutter ermordet. Einfach so. Nur weil er Härte demonstrierten wollte. Das … das …

»Ihr habt die Wahl! Entweder sterben sie alle, oder ihr stellt euch!«

Das Hologramm erlosch.

Mutter ist tot!

Die Worte wiederholten sich in ihrem Gehirn. Immer und immer wieder. Gleichzeitig wurde um sie alles grau. Sie kämpfte gegen den Schock an, gegen das Gefühl, zerbrechen zu müssen.

»Elyn!«

Loms Stimme hörte sie wie aus weiter Ferne. Die Gegenwart verschwand. Alles um sie verblasste bis auf die Skurits.

Ein neuer Gedanke breitete sich in ihr aus.

Rache!

Sie hob die Waffe, legte an und schoss. Schließlich war der Schutzschirm von außen sehr wohl durchlässig.

»Stirb!«

Ist das meine Stimme?, dachte sie, während der Skurit, der die Nachricht überbracht hatte, mit einem Loch im Oberkörper zu Boden fiel. Ein Schwenk genügte und sie visierte das nächste Skelett an. Sie drückte ab. Kopflos fiel er um.

Sie fühlte Hände um ihre Hüften und an ihren Armen. Jemand wollte ihr den Strahler entreißen.

»Nein!«

Schlagartig kehrte die Gegenwart zurück.

»Elyn, bitte komm zu dir!«

Sie hörte Loms Stimme in ihrem linken Ohr. Er umklammerte sie. Seitlich stand Himo und drückte ihr die Arme nach oben.

»Lasst mich!«, brüllte sie. Mit einer schnellen Bewegung entglitt sie Loms Armen und schubste gleichzeitig Himo von sich.

Ein weiterer Skurit starb. Dann aktivierte sie ihren Schutzschirm und drehte sich um. Die Paralysestrahlen, die Himo auf sie abfeuerte, wurden von ihrem Schutzfeld absorbiert.

»Hört auf zu schießen!«, befahl Lom. »Elyn, bitte sei vernünftig!«

Elyn starrte Lom an, der ihr gegenüberstand. Er sah aus, als wollte er sich auf sie stürzen. Offenbar hielt ihn nur die rot glühende Abstrahlmündung davon ab.

»Das sind Mörder!«, rief sie.

»Ich weiß! Und es tut mir unendlich leid!«

Elyn schätzte ihre Chancen ab. Wenn sie sich nach links warf und schoss, hätte sie das nächste Skelett beseitigt. Aber Lom hätte sie schneller abgefangen, als sie sich erheben konnte.

»Erinnere dich, was du Lyrata gesagt hast! Wir dürfen uns nicht auf das Niveau der Gegner begeben!«

»Sie haben meine Mutter ermordet!« Tränen schossen ihr in die Augen. »Verdammt, sie haben den Tod verdient!«

»Nicht sie haben deine Mutter getötet! Tuoer, ihr Kommandant war es!«

»Das macht keinen Unterschied!«

»Doch!«, sagte Lom und kam näher.

»Bleib stehen!«, schrie sie ihn an.

»Nein, Elyn, das werde ich nicht tun! Ich komme jetzt zu dir! Und wenn du irgendetwas für mich empfindest, dann deaktivierst du deinen Schutzschirm!« Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu. »Falls nicht, musst du mir beim Sterben zusehen!«

»Verdammt, bleib stehen!«

Anstatt auf sie zu hören, lächelte er und kam noch näher, die auf ihn gerichtete Waffe ignorierend. Drei Schritte und er war bei ihr. Krampfhaft überlegte sie.

»Ich hab dich lieb, meine Perle«, sagte er, als er den letzten Schritt machte.

Der Schutzschirm erlosch. Widerstandslos ließ sie sich den Strahler abnehmen. Sie sah ihm zu, wie er ihn sicherte.

»Sie ist tot«, flüsterte sie, als er sie in die Arme nahm. Wieder zitterte sie. Tränen rannen ihr über die Wangen und sie gab sich dem Schmerz hin. Sie sah, wie der Thermostrahl ihre Mutter tötete und spürte, dass etwas in ihr zerbrach. Sie würde sich verändern, das fühlte sie ganz deutlich. Doch sie wollte jetzt nicht an die Konsequenzen denken. Sie konzentrierte sich auf Loms Körper und flüchtete in seine Umarmung.

*

»Ohne Liebe und Hass wird alles klar und unverhüllt. Machst du jedoch nur die kleinste Unterscheidung, dann sind Himmel und Erde unendlich weit voneinander getrennt.«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Meditationseinheit

*

»Was hast du verraten?«, herrschte Elyn die Frau an. Am liebsten hätte sie Lyrata geschlagen. Doch es gelang ihr, diesen Wunsch im Zaum zu halten. Fragte sich nur wie lange.

»Ich weiß es nicht!« Lyratas Stimme war so leise, dass Elyn sie beinahe nicht verstanden hätte.

Die Tür schwang auf und Rucik betrat den Raum. »Die Skurits haben Wahrheitsdrogen eingesetzt«, sagte er.

»Was hat die Blutanalyse noch ergeben?«

»Nichts!«

»Und der Gehirnscan?«

»Keine Zeichen von Beeinflussung!«

Elyn kratze sich am Kinn. »Glaube ich nicht!«

»Es ist egal, was du glaubst und was nicht!« Lyrata sprang auf. »Die Rückstände der Drogen sind dank der Medikamente neutralisiert, also bin ich einsatzfähig!« Sie machte einen Schritt auf Elyn zu. »Außerdem bin ich die Anführerin!«

»Du bist ein Sicherheitsrisiko«, sagte Elyn.

»Uns bleiben dreiundzwanzig Stunden!«, erinnerte Himo und zog die Aufmerksamkeit auf sich. Evane, seine Freundin gehörte ebenfalls zu den Todeskandidaten. Mittlerweile hatten sie die restlichen neun identifiziert. Himo sprach aus, was alle im Raum dachten. Sie hatten keine Zeit zum Streiten. Sie mussten sich überlegen, wie sie eine weitere Hinrichtung verhinderten.

Egal, von welchen Seiten man es betrachtete, es gab nur eine Möglichkeit: Sie mussten die Skurits handlungsunfähig machen!

»Wir müssen sie töten!«, forderte Lyrata.

»Was immer wir tun, Lyrata, du bleibst hier!«

»Sicher nicht!«, rief Lyrata. »Warum schwingst du überhaupt die großen Reden, Elyn? Du gehörst nicht zur Führungsriege!«

»Stimmt!«, antwortete Elyn. »Genauso wenig wie Lom!« Sie blickte sich um. »Möchte irgendjemand, dass wir verschwinden?«

Niemand reagierte.

»Dann hätten wir diese Frage auch geklärt«, sagte Elyn und wandte sich der zornigen Frau zu. »Nimm dich nicht so wichtig!«

Lyrata sprang. Elyn wich beiseite, rammte ihr die linke Faust in die Nierengegend und schlug ihr mit der rechten Faust in den Nacken. Es knackte. Lyrata stürzte zu Boden.

»Elyn! Nicht!«, rief Lom, der irgendwo hinter ihr stand. Doch er war zu langsam. Elyn stürzte sich auf Lyrata, holte aus und wechselte im letzten Moment das Ziel. Ihre Handkante schlug auf Lyratas Oberarm statt auf den Hinterkopf.

»Mach das noch einmal und du bist tot!«, fauchte sie die Wimmernde an und drehte sich dem Rest der Gruppe zu. Loms vorwurfsvollen Blick ignorierte sie. Vor zwei Stunden wäre sie zu einer solchen Tat nicht fähig gewesen. Jetzt war sie bereit, bis zum Äußersten zu gehen.

Härter, stärker, kompromissloser!

Ja, das war sie. Der Tod ihrer Mutter hatte sie aus einem langen, schönen Traum gerissen und sie ihrer Naivität beraubt. Einer Naivität, der sie nicht nachtrauerte.

»Derzeit ist alles grau, kalt und trostlos«, hatte Lom gesagt. »Ich garantiere dir, dass die Farbe in dein Leben zurückkommt. Du wirst sie anders wahrnehmen als früher, aber sie kommt zurück!«

Sie hoffte, dass er Recht behielt.

Bis dahin gab es für sie nur ein Ziel: Rache!

Auch wenn sie wusste, dass Emotionen die Urteilsfähigkeit trübten. Doch sie hatte zwei Jahrzehnte Erfahrung im Unterdrücken von Wut oder Hass. Hier und jetzt würde sie ihre negative Energie, die sie in sich spürte und die herauswollte, umwandeln und dazu benutzen, die Skurit aus der Station zu jagen. Alle.

Und diesem Tuoer würde sie sich ganz speziell widmen.

»Ich habe einen Plan«, sagte sie in die Stille. Deutlich sah sie die Neugier in den Gesichtern der anderen.

*

»Wenn man sehr jung ist und wenig weiß, sind Berge Berge, Wasser ist Wasser und Bäume sind Bäume. Hat man studiert und ist aufgeklärt, sind Berge nicht mehr Berge, Wasser ist nicht mehr Wasser und Bäume sind nicht länger Bäume. Hat man wirkliches Verständnis gewonnen, sind Berge wieder Berge, Wasser ist Wasser und Bäume sind Bäume.«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Meditationseinheit

Wahrheit

Eorthor streckte sich und sah in die aufgehende Sonne. Er hatte seine jährliche Woche in der Wildnis genossen. Keine technischen Fehlermeldungen drangen an sein Ohr, keine Untergebenen machten ihm wegen Lappalien das Leben schwer. Und vor allem musste er sich nicht verstellen. Musste nicht vorgeben, ein wissenschaftliches Problem nicht lösen zu können.

Da er nicht gewollt hatte, dass Elyn auf der Eiswüste von Alysk II unter alten Männern und Frauen aufwuchs, musste er notgedrungen den Idioten spielen. Anfangs hatte es ihn amüsiert, doch mittlerweile kostete es immer mehr Überwindung.

Es wird Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen! Immerhin ist sie in zwei Monaten fünfundzwanzig!

Eorthor sah ihre grazile, durchtrainierte Gestalt vor sich. Sie bewegte sich so sanft und geschmeidig, dass er fast schon neidisch war. Im Kampf setzte sie ihre Beweglichkeit in konsequenter Weise um. Selbst seine Deckung hatte sie des Öfteren geknackt. Und dieser Triumph hatte sich in ihren Augen gezeigt, in denen sich das cyragonische und das alyskische Erbgut am deutlichsten vermischte. Je nach Lichteinfall wechselte ihre Augenfarbe von schwarz nach violettblau. Eorthor hörte ihr Lachen, in dem so viel Fröhlichkeit lag, dass es ansteckte. Blieben noch ihre pechschwarzen Haare, die bis in die Mitte ihres Rückens reichten – so wie bei ihrer Mutter.

Eorthor erhob sich und machte sich auf den Weg. Er kämpfte sich durch den Dschungel zu dem Kleinraumer, mit dem er vor sieben Tagen auf dieser unbewohnten Welt gelandet war. Die Bordsyntronik erkannte seine Individualimpulse und öffnete die Schleuse. Eorthor glitt im Antigravschacht bis zur Zentrale und wuchtete sich in den Sessel. Die Systeme fuhren automatisch hoch.

»Schlechte Nachrichten!« Die Syntronik meldete sich selbständig. »Der Kontakt zu den Stationen ist abgerissen. Zu allen!«

Eorthor traute seinen Ohren nicht. Nun bereute er, kein Funkgerät in die Wildnis mitgenommen zu haben. »Steht der Schutzschirm?«

»Nein!«

Eorthor erschrak. Was die Syntronik so lapidar von sich gab, hatte weitreichende Folgen. Vor Jahrmillionen hatte er nach dem Abzug von MODRORs Flotten einen Schutz für die Galaxis konzipiert. Jede der Stationen erzeugte einen Teil eines galaxisweiten Schutzschirms. Anfliegende Raumschiffe wurden aus dem Hyperraum geworfen, egal welchen Antrieb sie benutzten. Eine sechsdimensionale Strahlung zerstörte quasi nebenher alle triebwerksrelevanten Aggregate. Es hatte Eorthor Millionen Jahre der Forschung gekostet, diesen Schutzschirm zu kreieren und danach technisch umzusetzen. Und jetzt sollte er nicht mehr existieren?

Er schüttelte den Kopf. Gut, eine Station konnte ausfallen. Aber alle? Da steckte mehr dahinter. »Eindringlinge?«

»Seit vier Tagen tummeln sich fremde Schiffe in der Galaxis!«

Im Hologramm erschien ein Schiffstyp, der Eorthor unbekannt war. War Rodrom mit neuen Flotten zurückgekehrt?

Er fluchte. Kaum zog er sich eine Woche zurück, ging die Galaxis unter. Er hatte damit gerechnet, dass Rodrom eines Tages wiederkam. Allerdings nicht auf diese Art!

Wie hatte er den Schutzschirm überwunden? Oder besser gesagt: Wie hatte er die Stationen ausgeschaltet?

Er würde es erfahren!

»Start! Ziel ist das Kar-System!«

Der Raumer raste mit Höchstwerten durch die Atmosphäre und entfachte einen Sturm, der einiges an tierischem Leben kostete. Eorthor kümmerte sich nicht darum. Er überlegte, wie er die Stationen retten konnte. Zuerst benötigte er sein alyskisches Spezialschiff. Mit dem Fiktivtransmitter an Bord war es ein Leichtes, in die Station zu gelangen. Spätestens dann würde er wissen, was passiert war. Und ob seine Tochter lebte!

*

»Unnötig ist es, mit Kopf, Händen und Füßen auf einmal zu schlagen, um den Sieg zu erlangen. Zuerst müssen Herz und Geist sich beruhigen, dann durchschaut man des Gegners Vorgehensweise und sucht die Schwachpunkte, um sie auszunutzen. Nie sollte man sich zu sehr von Emotionen lenken lassen, denn es geht nicht um einen Schlag. Im Kampf gewinnt man, ehe man Arme und Beine bewegt, und nicht beim panischen Abwehren von Schlägen; beim Konkurrieren siegen gute Überlegungen und Analysen, nicht das Aufeinanderprallen von Armen und Beinen …«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Trainingseinheit

*

Elyn robbte einen halben Meter vorwärts. So wie in ihrer Kindheit hatte sie sich durch längst stillgelegte und vergessene Schächte bis zur Zentrale geschlichen. Damals wollte sie ihren Vater bei der Arbeit beobachten – heute wollte sie Vergeltung üben und Leben retten.

Ein Griff in eine ihrer Kombinationstaschen brachte eine kleine Sonde hervor. Vorsichtig befestigte sie das fingerlange Gerät an dem Lüftungsgitter. Obwohl seit langer Zeit inaktiv, hatte sich niemand die Mühe gemacht, es abzudecken.

Manchmal hat Nachlässigkeit auch ihre guten Seiten, dachte Elyn, während sich ein Minihologramm vor ihr aufbaute. Tuoer, der Kommandant, saß entspannt in seinem Sessel. Knapp zwei Meter vor ihm klebte das Blut ihrer Mutter am Boden. Elyn unterdrückte den Impuls, zum Kombistrahler zu greifen und ihm einen Energiestrahl durch den Schädel zu jagen.

Meine Stunde kommt noch!

»Verbleibende Zeit?«, dröhnte die Stimme von Tuoer in ihrem Ohrempfänger und zeigte ihr, dass die Sonde funktionierte.

»Dreißig Minuten!«

Blieben ihr und den restlichen Mitgliedern der Einsatzgruppen noch fünf. Auch sie hatten ihren Standort ohne Zwischenfälle erreicht.

Elyn ertappte sich dabei, wie sie zum wiederholten Male die rechte Hand an das Griffstück ihrer Waffe legte. Sie gab dem Wunsch nach, zog den Strahler aus dem Halfter und vergewisserte sich, dass der Thermomodus aktiviert war. In Gedanken zielte sie auf Tuoer und drückte ab.

Ein leises Piepsen drang an ihr Ohr.

Jetzt!

Die Desintegratorbomben zündeten. Der Boden gab nach und fiel nach unten. Elyn ebenfalls. Noch in der Luft zielte sie, traf, schwenkte den Waffenlauf und tötete erneut.

Elyn landete sicher, rollte sich ab, tötete Skurit Nummer drei und blickte sich um. Ihre Kameraden agierten ebenso kompromisslos wie sie selbst. Himo und Tutshu verriegelten das Schott zur Zentrale und sicherten den Eingang mit einem Schutzschirm. Lom jagte gerade dem letzten Skurit einen Desintegratorstrahl ins Herz. Blieb nur noch Tuoer!

Er thronte nicht mehr in seinem Sessel, sondern war in sich zusammengesunken. Mangels Waffe hatte er nur zusehen können. Elyn ging mit aktiviertem Strahler auf ihn zu.

»Die Einnahme der Zentrale nützt euch nichts!«, herrschte er sie an.

»Du irrst!«, antwortete Elyn und zielte zwischen seine Augen. »Wir haben nämlich auch noch andere wichtige Sektoren besetzt.« In ihrem Ohrhörer erhielt sie weitere Erfolgsmeldungen. »Außerdem fluten wir die Station flächendeckend mit Betäubungsgas! In zehn Sekunden brechen deine Soldaten zusammen! Es wird uns eine Freude sein, sie ins Weltall zu befördern. Ohne Schutzanzug!«

Elyn wusste genau, dass die Cyragonen niemals so lebensverachtend sein würden. Aber sie fand, dass es gut klang.

»MODROR wird neue Truppen schicken – ihr habt gegen ihn keine Chance.«

»Das ist Zukunftsmusik! Bleiben wir bei der Gegenwart oder besser gesagt bei der Vergangenheit!« Sie machte einen Schritt auf Tuoer zu. »Du verfluchter Strirn hast meine Mutter getötet!«

»Und?«

Elyn schoss. Tuoer zuckte zurück und tastete nach der rechten Gesichtshälfte. Der Strahl, der Zentimeter an ihm vorbei gerast war, hatte ihm die Haut versengt.

»Keine Sorge«, sagte Elyn, »so schnell stirbst du nicht.«

Irgendjemand applaudierte.

»Da bin ich ja rechtzeitig zum Finale zurückgekehrt!« Eine vertraute Stimme erklang hinter ihrem Rücken. Tuoer blickte an ihr vorbei und bekam große Augen. »Eorthor!«

Elyn drehte sich um.

»Vater!«, rief sie und fiel ihm um den Hals. »Was machst du hier?«

»Später«, antwortete Gujaz. Elyn löste sich von ihm. »Sie haben … Mutter ist …«

»Ich weiß!«

»Hallo Gujaz«, begrüßte ihn Lom. Vater nickte ihm zu.

»Wo steckt Rodrom?«, fragte Gujaz in Richtung Tuoer.

»Keine Sorge, Eorthor! Er wird sich bald um dich kümmern! So wie damals!«

Warum verwechselte Tuoer ihren Vater mit dem ehrwürdigen Alysker? Auch wenn ihr die Erinnerung an Eorthors Aussehen fehlte – ihr Vater ähnelte dem Alysker sicher nicht.

»Diesmal sind wir vorbereitet!«, sagte Gujaz.

Wovon redete ihr Vater?

Tuoer lachte. »All die Skurits an Bord der Stationen sind der beste Beweis, wie gut eure Maßnahmen sind. Unsere Flotten stehen in der Galaxis und löschen bereits jegliches Leben aus!«

Gujaz ging nicht darauf ein.

»Du hast Ayra getötet?«, fragte er. Eine Schärfe lag in der Stimme ihres Vaters, die sie noch nie gehört hatte. Elyn bekam eine Gänsehaut.

Tuoer lachte. »Ich habe viele Cyragonen zu ihrem Schöpfer geschickt, deren Namen mich nicht kümmern.«

Elyn hob die Waffe, doch Gujaz drückte sie nach unten.

»Ayra, war meine Frau!«

»Deine …?« Der Skurit lachte und zeigte auf Elyn. »Und das ist deine Tochter?«

Gujaz nickte.

»Ich wusste nicht, dass Alysker sich vermehren!«

»Du weißt einiges nicht!«

Ihr Vater hatte Tuoer kein einziges Mal widersprochen bei seinen Aussagen über die Alysker. Seltsam.

»Steh auf!«, forderte Elyns Vater ihn auf.

»Warum?«

Ihr Vater antwortete nicht, sondern schritt zu dem Sessel, zerrte den Zievohnen heraus und schleuderte ihn zu Boden. »Du kannst auf zwei Arten sterben!«, sagte er und trat Tuoer in den Magen. »Entweder kämpfst du oder eben nicht!«

Ohne große Eile richtete sich der Zievohne auf. Vater empfing ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht. Tuoer strauchelte, blieb aber auf den Beinen. Langsam wischte er sich das Blut von den Lippen.

»Wehr dich!«, herrschte ihn Gujaz an.

Kaum hatte Tuoer die Fäuste gehoben, krachte Vaters rechter Fuß in seinen Brustkorb. Die Rippen brachen hörbar. Tuoer röchelte und stürzte.

Elyn konzentrierte sich und sah, dass ihm Vater mehrere Rippen in die Lunge getrieben hatte.

Gujaz beugte sich zu dem Zievohnen hinab und legte beide Hände an dessen Kopf. »Grüße deinen Herrn und Meister!«, sagte er und verdrehte in einer schnellen Bewegung Tuoers Schädel.

Elyn spürte keine Genugtuung. Auch der Tod des Mörders ihrer Mutter brachte sie nicht zurück. Dennoch hätte sie ihrem Vater die Arbeit gern abgenommen.

»Habt ihr Kontakt zu den anderen Stationen?«, fragte Gujaz. Nichts an ihm zeigte, dass er soeben getötet hatte.

Alle schüttelten den Kopf.

»Aktiviert das Anti-Temporalfeld, dann sind wir einstweilen sicher!«, befahl er. »Wie lange schlafen die Cyragonen?«

»Nicht länger als zwei Stunden!«, antwortete Elyn.

»Gut. Sobald alle Stationen besetzt sind, verlassen wir den Orbit der Sonne!«

»Wie willst du …?«

»Diese Station ist ein Prototyp«, unterbrach er Rucik. »Sie besitzt einen Antrieb, der ausschließlich im Anti-Temporalfeld-Modus funktioniert.«

»Woher hast du diese Information?«

»Ich habe die Station entworfen!«

Ruciks Munds blieb offen. Elyns ebenfalls. Hatte der Zievohne recht gehabt? War Gujaz ein Alysker? War er der Alysker?

»Elyn, wir müssen reden!«

*

»Nichts ist unerklärlich, alles ist Geheimnis.«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Meditationseinheit

*

»Ich … nein!«

Elyn glaubte nicht, was sie soeben gehört hatte. Er sollte ein Alysker sein? Und sie ebenfalls?

»Es tut mir leid, dass du die Wahrheit auf so tragische Weise erfahren musst. Mutter und ich wollten es dir an deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag sagen!«

»Aber …« Sie musste sich setzen, weil sich alles um sie drehte. »Ich meine, die Legenden über die Alysker …«

»Erzähl mir die Legenden, die man über unser Volk verbreitet«, forderte ihr Vater, der bis vor kurzem noch Gujaz geheißen hatte und sich nun in Eorthor verwandelt hatte. Eorthor, der große Alysker. Und sie war seine Tochter. Sagte er.

»Vor langer Zeit«, begann sie, »sollen die Alysker ein wichtiges Projekt im Auftrag der Kosmokraten und Chaotarchen durchgeführt haben. Trotz ihrer hohen wissenschaftlichen Kompetenz scheiterte das Experiment, worauf sie von den kosmischen Mächten bestraft wurden.«

Täuschte sie sich oder sah ihr Vater traurig aus?

»Sie und all ihre Nachkommen wurden unsterb…« Hitze stieg in ihr auf, abgelöst von Kälte. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie fühlte sich überfordert, wollte nicht über die Konsequenzen für ihr eigenes Leben nachdenken.

Ihr Vater nahm ihre Hände in die seinen.

»Auch wenn du halb cyragonisch und halb alyskisch bist, sind deine alyskischen Gene stärker.«

Ihr wurde kälter. Sie zitterte.

»Sieh es positiv! Du wirst ewig durch die Zeiten wandeln und unendlich viel Wissen anhäufen. Du wirst Dinge sehen, von denen ein Normalsterblicher nicht einmal zu träumen wagt. Du wirst das Universum von einer Seite kennen lernen, wie sie nur höheren Wesen vorbehalten ist! Du wirst … mächtig werden! Und man wird deinen Namen mit Respekt und Ehrfurcht nennen.«

»Wie alt bist du wirklich?« Auch wenn sie sich vor der Antwort fürchtete, sie wollte sie wissen.

»Einhundertneunzig Millionen Jahre!«

Elyn hielt den Atem an und versuchte sich diese gigantische Zahl vorzustellen. Sie scheiterte. Es war unmöglich.

»Und, mein Schatz, du bist meine einzige Tochter!«

»Sonst hast du nur Söhne, oder was?«, antwortete sie mit einer Portion Galgenhumor.

Er schüttelte den Kopf. »In all den Jahrmillionen habe ich nur ein einziges Kind gezeugt!«

Sie war erstaunt. Eigentlich müsste das Universum voll von ihren Brüdern und Schwestern sein. Immerhin hatte er genügend Zeit gehabt, um seine Gene im All zu verbreiten. »Warum?«

»Weil Ayra die einzige wahre Partnerin war. Ich habe deine Mutter gesehen und gewusst, dass wir für einander bestimmt sind. Dieses Gefühl habe ich nur zweimal in meinem Leben gespürt. Einmal mit Ayra, das andere Mal in meiner Jugend. Damals hat mich das Gefühl getrogen, bei deiner Mutter nicht. Leider waren uns nur wenige Jahre beschieden.«

Vaters Verzweiflung zu hören machte ihn cyragonischer und brachte ihn ihr näher. Sie verstand seine Wut und seinen Schmerz. Er hatte die einzige Frau verloren, die ihm etwas bedeutet hatte. Wie jeder normale Cyragone auch, fühlte er sich um eine Chance betrogen. Doch … trauerte er mit seinen knapp zweihundert Millionen Jahre anders als sie mit ihren fünfundzwanzig? Gab es einen Unterschied im Verlust eines geliebten Menschen?

»Warum bin ich nicht auf Alysk aufgewachsen?«

»Deine Mutter und ich wollten nicht, dass du zwischen lauter alten, desillusionierten Knackern aufwächst. Wir wollten dir eine normale Kindheit und Jugend schenken. Und ich denke, das ist uns auf der Station gelungen.«

Sie dachte an all ihre Freunde. Würden sie sich im Umgang mit ihr ändern? Und wie würde sie selbst reagieren? »Was machen wir jetzt?«

»Wir bringen die Station in Sicherheit, sobald wir die Skurits hinausgeworfen haben! Die Syntronik ist bereits mit den Koordinaten des vorläufigen Verstecks gefüttert. Wir zwei, Elyn, werden an Bord der SMIS die anderen Stationen aufsuchen, um die Cyragonen dort im Kampf gegen die Besatzer zu unterstützen!«

Sie hatte befürchtet, dass er das sagen würde. »Was, wenn ich nicht von hier weg will?«

Ihr Vater schwieg und sah ihr in die Augen. Solange, bis sie seinem Blick auswich.

»Ich wollte dich langsam an dein neues Leben heranführen, aber die Umstände zwingen mich zum Gegenteil.« Er richtete sich auf. »Elyn, du trägst als Alyskerin eine besondere Verantwortung. Auch wenn es arrogant klingt: Du kannst dich nicht mit solch Kleinkram herumschlagen. Du musst galaktisch, ja sogar universell denken!« Er nickte. »Und je früher du damit beginnst, desto besser für dich!«

»Und wenn ich das nicht will?« Sie wiederholte ihre Frage.

Seine Gestalt straffte sich. »Du hast keine Wahl!« Er klang nicht mehr wie ihr Vater, sondern wie ein Mann, der keinen Widerspruch zuließ.

Doch sie wollte sich ihm widersetzen, ihm ins Gesicht schleudern, dass ihr das Universum egal war und dass sie keine Lust hatte, im Reigen der hohen Mächte mitzumischen.

Aber seine Autorität, durch Millionen von Jahren gestärkt, erstickte ihren Widerstand mit einem einzigen Blick. In dem Moment war er nicht ihr Vater, sondern ein Unsterblicher, der weiter dachte als sie. Ein Unsterblicher, der nichts auf die Gedanken, Ideen oder gar Ziele einer Fünfundzwanzigjährigen gab. Ein Unsterblicher, der Wesen manipulierte und für seine Pläne einspannte. Der auch vor seiner Tochter nicht halt machte.

Was war das für ein Leben, wenn man alles besser wusste, eben, weil man es schon erlebt hatte? Gab es überhaupt noch Überraschungen? Freute er sich überhaupt noch über die fundamentalsten Dinge? Oder war er so abgehoben, dass ihm ein Jungspund wie Elyn nicht mehr folgen konnte?

»Du hast recht«, antwortete sie resignierend, »ich habe keine Wahl als dir auf deinem Kreuzzug zu folgen!« Doch sie wusste, dass es einen Hoffnungsschimmer gab. Falls sie wirklich unsterblich war, hatte sie unendlich viel Zeit. Zeit, die sie nützten würde, um zu lernen. Und eines Tages würde sie aus seinem übermächtigen Schatten treten und sich von ihm emanzipieren. Jetzt fehlte ihr die Kraft. Doch die Zeit stärkte bekanntlich den Charakter. Und darauf würde sie warten.

Opfer

»Willst du die Wahrheit sehen, dann sei ohne Meinung für oder gegen etwas. Was du magst gegen das zu stellen, was du nicht magst, ist die Krankheit des Geistes.«

Vushu-Großmeister Gujaz während einer Meditationseinheit

*

Lom war nicht in Ehrfurcht erstarrt. Er hatte sie angesehen, seine Hände in die Hüften gestemmt und gegrinst: »Ha! Jetzt musst du mich bis in alle Ewigkeit an meinem Grab besuchen!« Danach hatte er sie in den Arm genommen und an sich gedrückt. Eine Stunde lang hatten sie über ihr neues Leben und ihre Bestimmung diskutiert. Anders als im Gespräch mit ihrem Vater hatte sie bei Lom ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Und es hatte ihr gut getan, weil er ihr mit seinen Witzen einen Teil des Schreckens und der Angst nahm.

Nun standen sie in einem der Hangars.

»Du weißt, dass ich diese Station und dich nur unter Protest verlasse, nicht wahr?«

Lom schenkte ihr ein Lächeln. »Wenn Eorthor, der große Alysker, sagt, dass wir ohne Raumanzug aus der Schleuse gehen, weil wir im Weltall atmen können, dann machen das hier alle!« Er setzte eine Kunstpause. »Und dir, oh wunderschönste Tochter des Eorthors, würden wir ebenfalls folgen!«

»Lass das!«, schimpfte sie und schlug ihm gegen den Oberarm.

»Oh, sie hat mich berührt … oh … seht her, ich wurde auserwählt!«

Elyn seufzte. Sie wusste, dass er die Späße nur riss, um ihr den Abschied zu erleichtern. Und es funktionierte.

»Ich werde dich bei jeder Gelegenheit besuchen und noch öfter an dich denken!«

Er verneigte sich.

»Lom«, sagte sie und streichelte seine Wange. »Auch wenn ich noch Ewigkeiten leben werde, so weiß ich jetzt bereits, dass ich nie wieder so jemanden wie dich treffen werde.«

»Abwarten, abwarten«, antwortete er. »Obwohl … ja, du hast recht.«

Sie umarmte und küsste ihn ein letztes Mal. »Mach’s gut!«, flüsterte sie.

»Mach’s besser!«

Elyn drehte sich zu ihrem Vater. Eorthor tippte an einen Sensor seines Armbandgerätes und die Umgebung wechselte.

»Willkommen auf der SMIS«, sagte er und ging zu der Hauptkonsole. In Sekundenschnelle bauten sich Ortungshologramme auf und zeigten mehrere Sonnensysteme. In jedem von ihnen wimmelte es von roten Punkten – fremde Raumer.

»Verflucht!«

Elyn trat zu ihm.

»Sie rotten systematisch alles Leben aus!«

Als Beweis zoomte ihr Vater einen der Planeten heran. Eine Flotte von viertausend Schiffen belagerte das System und jagte die heimischen Raumer. Während im All Schiff um Schiff explodierte, zerfraß das Atomfeuer den Planeten. Der finale Kollaps stand unmittelbar bevor.

»Warum fügen sie uns dieses Leid zu?«, fragte Elyn flüsternd.

»Zwei Entitäten benötigen diese Galaxis für ihren nächsten Evolutionsschritt. Eine, DORGON, ist für das Leben, die andere, MODROR, ist gegen das Leben. Rate, welche der Entitäten in die Galaxis eingefallen ist!«

»MODROR!«

»Exakt!« Eorthor hantierte an der Konsole. »Einmal habe ich seinen Abgesandten schon vertrieben. Allerdings um den Preis, dass Jianxiang ebenfalls auf das gemeinsame Schwerkraftzentrum der vier Galaxien zustürzt.«

Alles, was Elyn bisher über Geschichte gewusst hatte, war obsolet geworden. Sie würde vieles neu lernen müssen.

»Nach vielen Millionen Jahren ist MODROR zurückgekehrt!«

Eine Sirene schlug an.

»Ortungsalarm«, kommentierte Eorthor und deaktivierte den Heulton. Im Hologramm rechts von Elyn fielen achttausend stiftförmige Raumer aus dem Hyperraum.

»Cau Thon«, murmelte Eorthor. »Spürst du ihn?«

Elyn schloss die Augen, schickte ihren Geist in Richtung der fremden Schiffe und wusste, wen ihr Vater gemeint hatte. Aus der Masse der Angreifer – allesamt Skurits – ragte ein anderer, mächtiger Geist. Deutlich fühlte sie seine negative Art, seine Brutalität und seine Entschlossenheit. Und sein Ziel! Schleunigst kehrte sie auf die SMIS zurück.

»Er will …«

»Ich weiß!«

»Wir müssen das verhindern!«

Die ersten Strahlensalven schlugen an mehreren Stellen in die Schutzschirme der Station. Die Schiffe gingen zu Punktfeuer über.

»Tu etwas!«, herrschte Elyn ihren Vater an. Doch er reagierte nicht. Mit ausdruckslosem Gesicht sah er zu, wie der Schutzschirm der Station aufplatzte und die Außenhülle an jener Stelle abschmolz. Elyn überflog das Instrumentenpult, suchte nach Mustern und fand die Sensoren für die Aktivbewaffnung. Sie stieß ihren Vater beiseite und hämmerte auf die Auslöser.

»Zugriff verweigert!«, las sie auf dem Display.

»Dort drüben sterben meine Freunde und du stehst herum und siehst dabei zu!«

Sein Blick verriet ihr, dass er sie für ein kleines, sentimentales Kind hielt.

»Du wirst dich an Opfer gewöhnen müssen!«, sagte er teilnahmslos.

»Ist das der Segen der Unsterblichkeit? Kaltherzigkeit?«, schrie sie ihn an, während die Ortung mehrere Explosionen innerhalb der Station anzeigte. »Bevor ich so werde wie du, töte ich mich!«

»Das kannst du nicht«, flüsterte er.

»Was?« Sie spürte eine kaum mehr zu bändigende Wut in sich.

»Ein weiteres Geschenk der Kosmokraten und Chaotarchen. Kein Alysker kann sich selbst oder einen anderen Alysker töten.«

Sie starrte ihn an.

»Wir können für deine Freunde nichts tun. Ein Schiff kommt gegen achttausend nicht an«, sagte er und schien mit sich zu ringen. »Es tut mir leid!«, fügte er schließlich hinzu.

Sie wandte sich von ihm ab. Sie dachte an Lom, fühlte seine Lippen an ihren, seine Hände auf ihrer Haut, hörte sein Lachen, griff in seine Haare, blickte in seine Augen und räkelte sich unter seinen Berührungen.

Im Hologramm explodierte die Station. Tränen schossen ihr in die Augen. Ein Teil von ihr starb und würde nie wieder zurückkehren.

»Vater, ich hasse dich!«

Als Eorthor den Mund öffnete, streckte sie die Hand aus.

»Nein! Ich möchte keinen deiner von Millionen Jahren geprägten Kommentare hören! Zeig mir eine Kabine und lass mich in Ruhe. Bitte!«

Ein Pfeil entstand in der Luft und wies in Richtung Ausgang. Elyn folgte ihm. Nie würde sie mit ihrem Vater reden können, kein Vertrauen war möglich. Sie hatte sich ihr Leben wahrhaft anders vorgestellt. Ganz anders.

Epilog – Gegenwart

»Unsere Flotten waren gegen MODRORs Horden chancenlos. System um System samt Stationen fiel ihnen vor knapp zweitausendvierhundert Jahren zum Opfer. Zurück blieb eine leere Galaxis, so wie ihr sie kennt«, schloss Eorthor seinen Bericht.

»Überwacht von den Zievohnen und den Verbänden der Skurits«, ergänzte ich. »Unser kleiner Freund, Roggle, ist er …?«

Eorthor sprang aus dem Sessel und zeigte auf den Vorjul. »Das ist der Verräter, der meiner Frau das Leben kostete!« Schmerz beherrschte seine Stimme – und Hass. Verständlich, nachdem wir die Geschichte gehört hatte.

Roggle schlug die Augen auf, winselte, als er den Alysker auf sich zu kommen sah und wich zur Wand zurück.

Der Wunsch einzuschreiten wurde übergroß. Andererseits … war das nicht eine Sache zwischen den beiden? Wie hätte ich reagiert, wenn ich dem Mörder der Liebe meines Lebens gegenübergestanden wäre?

Icho Tolot kannte diese Überlegung nicht. Er trat zwischen Eorthor und Roggle.

Wie Eorthor darüber denken wird, ist dir bewusst, oder?

Eorthor schien meinen Extrasinn vernommen zu haben. Er nahm augenblicklich Kampfhaltung ein.

Ich lehnte mich im Sessel zurück. Der Alysker konnte seine Drohgebärde nicht ernst meinen. Und tatsächlich entspannte er sich, kaum, dass ich meinen Gedanken beendet hatte.

»Morgen seid ihr tot!« Grußlos schritt Eorthor aus der Zelle und verschwand aus dem Gefängnistrakt.

Kluger Mann, was nun?, fragte ich mich und warf dem Haluter einen vorwurfvollen Blick zu.

ENDE

Im nächsten Roman wechselt die Handlung wieder in die estartischen Galaxien. Dort beschreibt Ralf König in Band 87:

DER DUNKLE HIMMEL

DORGON-Kommentar

So, endlich wurde etwas Licht in die geheimnisvolle Geschichte der Alysker gebracht: »Verflucht zur Unsterblichkeit«, welch eine Strafe!

Allerdings finde ich etwas »unglaubwürdig«, dass Eorthor in all den Millionen von Jahren nur Elyn gezeugt haben soll. Wenn das wirklich der Fall sein sollte, so zeigt dies – zumindest meiner Meinung nach – einen bezeichnenden Aspekt seines psychischen Zustandes, nämlich »krankhafte, geradezu paranoide Arroganz, Überheblichkeit und Bindungsangst!«

Dies wird gerade dann deutlich, wenn wir Eorthor mit dem »Zweitältesten« uns bekannten Unsterblichen, unserem »alten Arkoniden«, vergleichen. Welch ein Unterschied! Hier das »Jahrmillionengenie«, das in seiner Millionen Jahre langen Lebenszeit nur zwei Frauen fand, die seiner Liebe und Zuneigung »würdig« gewesen sein sollten. Eine wurde wahnsinnig, die andere starb – welch eine glorreiche Bilanz!

Da ist mir der »alte Schwerenöter« mit seiner »Ich kam, sah und siegte«-Mentalität wesentlich sympathischer, der zumindest in dieser Hinsicht ein »normaler« Mensch geblieben ist, auch wenn mir sein »hormongesteuertes« Verhalten gegenüber dem »schwachen Geschlecht« gelegentlich auf die Nerven geht.

Zum Abschluss möchte ich mal wieder meine Nörgelei an der übertriebenen Humanität (ich würde sagen, Dusseligkeit) unserer »Helden« loswerden:

Aus der Erzählung Eorthors ging eindeutig hervor, dass Roggle maßgeblich am Völkermord an den Cyragonen beteiligt war, es gibt genügend Beispiele aus der Geschichte Terras, dass man gegenüber Massenmördern seines Schlages weniger zimperlich war – gerade die einst von Atlan gegründete USO kannte in dieser Hinsicht bekanntlich keine Skrupel. Ich wage es sogar zu prophezeien, dass unsere Freunde es schon in naher Zukunft bitter bereuen werden, den Vorjul vor der Rache Eorthors geschützt zu haben.

Jürgen Freier

GLOSSAR

Elyn

Geboren: 2430 alter Zeitrechnung (»n. Chr«)

Geburtsort: Alysk II im Kreuz der Galaxien

Größe: 1,72 Meter

Gewicht: 58 Kilogramm

Haarfarbe: pechschwarz, lang und glatt

Augenfarbe: violettblau oder schwarz – je nach Lichteinfall

Vater: Eorthor, der Alysker

Mutter: Ayra, eine Cyragonin


Da Eorthor nicht will, dass seine Tochter zwischen lauter »alten Knackern« aufwächst, bewirbt er sich wenige Tage nach ihrer Geburt auf einer der vielen Stationen, die die Abschirmung der Galaxis sicherstellen.

Er wird als stellvertretender Kommandant eingestellt und Elyn wächst unter 12.000 Cyragonen auf.

Ab ihrem 3. Lebensjahr bildet sie ihr Vater in allen mögliche Kampfsportarten aus. Er macht sie zur perfekten Kämpferin und ermöglicht ihr ein Training bei den Sicherheitseinheiten der Station. Dort lernt sie auch die Taktik des »Häuserkampfes«. Gleichzeitig unterrichtet er sie in Meditation und schärft ihre Sinne.

Bis zu ihrem 25. Lebensjahr hält sich Elyn für eine Cyragonin und weiß weder von ihrer Zugehörigkeit zum alyskischen Volk noch von ihrer Unsterblichkeit.

Als MODRORs Horden dank Rog und Gle die Abschirmung der Galaxis durchbrechen, wird sie in Untergrundkämpfe verwickelt. Da sie bis jetzt nur Sparring-Kämpfe mit ihrem Vater hinter sich hat, ist sie anfangs unsicher, wird aber dann zum Profi.

Ein zentraler Ansprechpartner in ihrer Jugend ist ihr brüderlicher Kumpel Lom, der ein Jahrzehnt älter ist als sie. Nachdem ihre Mutter durch Tuoer, den zievohnischen Anführer der Skurit-Soldaten ermordet wird, verfliegt ihre jugendliche Naivität und sie ist bereit zu töten. Der Tod ihrer Mutter Ayra und später ihres brüderlichen Freundes Lom sind demzufolge die Knackpunkte in ihrer Entwicklung.

Nachdem die Cyragonen unter ihrer Leitung die Skurits überwältigt haben, erscheint Eorthor in der Zentrale der Station, tötet den zievohnischen Kommandanten und erklärt seiner Tochter, dass sie eine Alyskerin ist.

Cau Thon und MODRORs Armeen gewinnen dennoch den Krieg und Lom stirbt. Elyn entwickelt Hass gegen Cau Thon. Sie verlebt die nächsten zweitausend Jahre damit, auf Alysk II zu meditieren und von Zeit und Zeit Teile des Universums zu erforschen. Als MODROR in die Offensive geht, rät Elyn Eorthor, die Terraner und Saggittonen um Hilfe zu bitten.

Sie hat großen Respekt vor Rhodan und Aurec und glaubt, mit ihrer Hilfe MODROR besiegen zu können. Außerdem erfährt sie die Hilfe DORGONs, der ihr eine Nachricht zukommen lässt und sie in ihrem Vorhaben bestärkt. Im Jahre 1305 NGZ begibt sie sich nach Cartwheel und überzeugt Aurec, den tyrannisierten Estarten zu helfen. Seitdem ist sie fester Bestandteil der Rebellenbewegung in den estartischen Galaxien und versucht überall, Verbündete für den Kampf gegen MODROR zu gewinnen.

Elyn ist von reinem Wesen und ehrlicher Natur. Sie ist sanftmütig, aber auch tapfer und bereit zu kämpfen, wenn es keine Alternativen gibt.

Elyns Meditation spielt eine besondere Rolle. Sie hat dank Eorthors Training eine besondere Gabe. In allen Wesen steckt Lebensenergie, die jeder einzelne wahrnehmen und bei sich selbst manipulieren kann. Elyn konzentriert sich auf ein anderes Lebewesen und sieht das Jhi, die Lebensenergie. Es äußert sich in einer hellen, weißen Farbe. Bei Krankheiten wechselt das Jhi und wird dunkler. An der Färbung des Jhis erkennt man die jeweilige Krankheit.

Elyn kann das Jhi in ihrem Körper steuern. Wenn sie z. B. jemanden mit der Faust schlagen möchte, dann konzentriert sie ihr Jhi in der Faust, um härter zuzuschlagen und zugleich Verletzungen bis zu einem bestimmten Grad zu vermeiden.

Elyn ist in der Lage, von Pflanzen Jhi zu nehmen, um sich selbst und andere damit zu heilen. Auch mit ihrem eigenen Jhi kann sie Lebewesen heilen.

Skurit

Der Skurit, die Skurit, die Skurit. Sie sind ein Soldatenvolk MODRORs. Die Skurit werden künstlich aus genetischem Material der Zievohnen hergestellt. Die sogenannten Skelettkrieger erhalten ein furchterregendes Aussehen: Einen Skelettpanzer auf biologischer Grundlage, der mit ihrem Körper kombiniert wird. Die Skurit werden konditioniert und zu Superkriegern ausgebildet, die keine Fragen stellen, sondern nur Befehle befolgen.

Die Skurit bilden einen wichtigen Teil der Armee MODRORs aus der Galaxie Barym, haben jedoch in den Dscherr’Urk Konkurrenz bekommen und drohen nach vielen Jahrtausenden als Hauptkampfvolk abgelöst zu werden.

Cyragonen

Der Cyragone, die Cyragonen, die Cyragonin. Sie sind ein humanoides Volk aus dem Kreuz der Galaxien. Dort übernehmen sie, gefördert von den Alyskern, das Erbe des Unsterblichen Volkes und leiten die Geschicke im Kreuz der Galaxien für viele Jahrtausende. Die Cyragonen gehen, wie fast alle Völker, während des Angriffes von Cau Thon im Jahre 2470 alter Zeitrechnung unter.

Lom

Lom ist vom Volk der Cyragonen. Sein schwarzes Haar ist von grauen Strähnen durchzogen. Lom ist hochgewachsen und für cyragonische Verhältnisse ein attraktiver Mann.

Er ist Jugendfreund und Mentor von Elyn und steht ihr stets zur Seite. Dabei lehrt er sie das Kämpfen, aber auch hohe moralische Werte. Elyn verliebt sich in Lom, doch er blockt ab, da ihm die Freundschaft wichtiger ist.

Lom stirbt bei Cau Thons Angriffen auf Cyragon und die Raumstationen.


Die DORGON-Serie ist eine nicht kommerzielle Publikation des PERRY RHODAN ONLINE CLUB e. V. — Copyright © 1999-2016

Internet: www.proc.org & www.dorgon.netE-Mail: proc@proc.org

Postanschrift: PROC e. V.; z. Hd. Nils Hirseland; Redder 15; D-23730 Sierksdorf

— Special-Edition Band 86, veröffentlicht am 19.12.2016 —

Titelillustration: Gaby Hylla • Innenillustrationen:

Lektorat: Alexandra Trinley • Digitale Formate: René Spreer