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Band 79

Quarterium-Zyklus

 

Ruinen von Terra

Atlan, Tolot und Saedelaere in einem dystopischen Terra

 

Michael Rossmann

 

 

Was bisher geschah Hauptpersonen des Romans
Das Jahr 1305 NGZ wird von der Invasion des dorgonischen Reiches in die estartischen Galaxien überschattet. Perry Rhodan und Aurec, die eine Befreiung der geknechteten Völker bewerkstelligen wollen, blicken einer Vielzahl von Gegnern ins Auge, denn Dorgon hat eine Allianz mit dem Kristallimperium und dem Quarterium geschlossen. Die Republik Saggittor und die Republik der Akonen in Cartwheel beschließen im Spätsommer 1305 NGZ, den Estarten zu helfen. Dieser Krieg gegen die Dorgonen verleitet das Quarterium zum Kriegsbeitritt und der »große Krieg« hat begonnen.

Derweil ist Alaska Saedelaere im Grünen Universum gestrandet und erlebt auf einer fremden Welt voller Insektoiden seltsame Abenteuer. Er trifft auf freundliche Insektoiden, die ihm bei der Flucht helfen. Der Zellaktivatorträger findet etwas Schreckliches heraus: Die Welt Insektoida ist Terra in mehr als 3000 Jahren. Die menschliche Zivilisation existiert quasi nicht mehr. Alaska trifft auf Atlan und Icho Tolot, die ebenfalls auf die Erde der Zukunft verschlagen worden sind. Auch ihnen kommt diese Welt surreal vor.

Dort finden Sie die RUINEN VON TERRA …
Atlan, Alaska Saedelaere – Die beiden Unsterblichen jagen den Cantaro.

Lorsahl – Der Krieger Gottes schafft sich auf Terra Inseln der Macht.

Ydira – Alaskas Begleiterin.

General Fykkar – Der General der Insektoiden.

Roan, Vronka, Gineryl – Alaskas Vertraute in Insektoidia.

Byykoy, Der Bürgermeister – Die beiden Politiker übernehmen in Insektoidia die Macht.

Icho Tolot, Denise Joorn – Atlans Reserve im Hintergrund.

Piandreo, Mortero, Virga, Anthon, Old McGraw, Urina Dombster – Mitglieder des Rates der Neu-Terraner.

Attithorn, Rez, Steinsohn, Lasso – Lorsahls Gefolgsleute in Nevada.

1.

»Lass die Waffe fallen oder wir töten deine Kameraden, Alaska.«

General Fykkars Drohung war glaubhaft. Er würde meine Gefährten erschießen lassen. Vielleicht nicht alle auf einmal, sondern einen nach dem anderen. Doch schon die Mitschuld an einem einzigen Mord war zu viel.

Trotzdem zögerte ich. Wenn ich mich jetzt ergab, würde ich mich in die Gewalt eines skrupellosen Mörders begeben. Aber ich hatte wohl keine andere Wahl. Schließlich stand ich auf, warf die Waffe weg und hob meine Hände.

Fykkar landete vor mir. »Mensch, wie oft du auch vor mir flüchtest, ich werde dich immer wieder einfangen. Immer wieder!«

Ich wartete ab. Solange er seine Überlegenheit demonstrierte, waren wir wenigstens nicht in unmittelbarer Lebensgefahr.

»Ihr seid nichts weiter als ein Fehler der Evolution!« Verächtlich hob er die Waffe und forderte: »Auf die Knie mit dir, du Abschaum!«

Soweit ließ ich mich nicht demütigen. Ich blieb stehen und sah ihn an.

Fykkar summte wütend mit den Flügeln. »Du verdammter Flügelloser!« schrie er. Nun zielte er. Ich wusste, er würde schießen. Das war es also. Auf Terra geboren, auf Terra gestorben. Nicht einmal das Schlechteste. Bald würde die Spiralgalaxis zu sehen sein, die beim Tod des Trägers eines Zellaktivatorchips erschien. Ein historischer Augenblick! Ich fragte mich, wie die physikalischen Gegebenheiten dieses Mini-Universums sich auf das Bild der Galaxis auswirken würden.

Was wohl ein stärkerer Abgang wäre: Äußerlich unbeeindruckt auf den tödlichen Strahlschuss zu warten oder mich noch einmal in einem aussichtslosen Fluchtversuch zur Seite zu werfen?

Doch der Schuss kam nicht. Stattdessen sackte Fykkar zu Boden und streckte alle Gliedmaßen von sich.

Auch die Insektoiden, die meine Gefährten umstellt hatten, fielen zu Boden. Ich erkannte, was los war: Jemand setzte einen Paralysator ein. Der Schütze war sehr gut. Er traf ausschließlich Fykkars Soldaten und sparte die Mitglieder unserer Gruppe aus.

Dann sah ich die Space-Jet. Sie kam in der Luft vor uns zum Stehen. Ein Schott öffnete sich. Ein großer, weißhaariger Mann betrachtete mit versteinerter Miene die zerbombte Solare Residenz. Atlan fragte: »Hätte jemand die Freundlichkeit, mir zu sagen, was zum Teufel auf Terra passiert ist?«

*

Wir hatten Fykkar und seine Soldaten sorgfältig verschnürt. Nun saßen wir zu dritt im Aufenthaltsraum der Space-Jet und tauschten unsere Erfahrungen aus: Atlan, Tolotos und ich.

Atlan beugte sich vor und stütze den rechten Unterarm auf die Tischplatte: »Ich habe verstanden, dass uns eine Art Raumblase umgibt, die einen Innenraum mit einem Durchmesser von circa 0,2 Lichtjahren einschließt. Innerhalb dieser Raumblase existiert eine elektromagnetische Strahlung, die unsere Augen aufgrund ihrer Wellenlänge als grüne Farbe wahrnehmen. Im Zentrum dieser Blase befindet sich das Sol-System. Aber es ist ein Sol-System, das mir fremd ist. Auf Terra befinden sich nur noch Ruinen, wo früher blühende Städte standen!« Hilfesuchend blickte er mich an: »Alaska, was ist geschehen und wo sind wir?«

»Das hier dürfte die Erde der Zukunft sein«, erwiderte ich.

»Die Erde der Zukunft?« fragte Atlan. Erregt war er aufgesprungen. »Diese Trümmerwüste? Das kann nicht sein! So kann es nicht enden!«

Einige Minuten lang marschierte er hin und her, in Gedanken versunken. Dann setzte er sich wieder und meinte: »Nun gut, Alaska, erzähle der Reihe nach! Wie bist du hierher gekommen?«

»Ich war auf Urlaub auf SOLARIS STATION. Dort bin ich von Nadine Schneider kontaktiert worden, einem Konzept der Entität DORGON«, begann ich zu berichten. »Sie teilte mir mit, dass DORGON im Sterben liegt und meine Hilfe benötigt.«

»DORGON?«, unterbrach mich Altan. »Wer ist DORGON?«

»Du kennst sie nicht? Oder soll ich sagen ihn? Oder es? DORGON ist ein mächtiges Geisteswesen, wohl die Superintelligenz oder Entität der Galaxis M 100«, antwortete ich.

»Superintelligenzen und Entitäten! Wie ich es liebe, Figur in einem Schachspiel zu sein!« Offenbar spielte Atlan auf seine Zeit als Auserwählter der Kosmokraten an. Oder er meinte die Zeit seines langen Exils auf der Erde, als er sowohl von ES als auch von Anti-ES Aufträge erhalten hatte.

»Nun gut«, sagte er dann. »Erzähle weiter!«

»Am nächsten Tag bestieg ich auftragsgemäß den kleinen Transporter WITMAE, um nach Cartwheel fliegen. Danach sollte sich alles von selbst ergeben.

Doch die Passage der WITMAE durch das Sternenportal schlug fehl und wir wurden in dieses grüne Universum versetzt. Erst später wurde mir klar, dass es sich um die Erde der Zukunft handelte. Die WITMAE stürzte ab. Die Passagiere konnten sich in Rettungskapseln in Sicherheit bringen und wurden über die Oberfläche verstreut. Ich landete in der Wüste Gobi. Auf meiner Wanderung durch die Wüste stieß ich auf Menschen, die auf dem Zivilisationsniveau der terranischen Steinzeit standen. Ich rettete dem Häuptling des Stammes das Leben und bekam dessen Tochter Ydira zum Geschenk. Sie ist seither bei mir.«

»Die Kleine mit den Rehaugen und den langen braunen Haaren?« fragte Atlan.

»Genau die«, antwortete ich.

»Gratuliere, Alaska. Da hast du eine tolle Eroberung gemacht«, meinte Atlan ohne Spott.

»Sie bedeutet eine ziemliche Verantwortung für mich«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Atlan sah mich eigentümlich an.

»Kurz danach wurden die Steinzeitmenschen von Insektoiden überfallen«, erzählte ich weiter. »Einige wurden getötet und der Rest, darunter auch ich, in die Sklaverei entführt. In einer Festung wurden wir jenem Wesen vorgeführt, das die Insektoiden aus dem Hintergrund steuert: Es heißt Lorsahl und nennt sich einen Krieger Gottes. Er ist ein Cantaro.«

»Ein Cantaro? Hier? Bist du sicher?« Atlans Augen tränten vor Erregung, als er das hervorstieß.

Auch Tolot, der bisher reaktionslos und mit geschlossenen Augen an einer Wand gekauert war, hob interessiert das Lid des mittleren Auges.

»Ein Cantaro. So wie wir sie kennen gelernt haben. Mit allem Drum und Dran. Und er hat hier das Sagen.«

Atlan setzte sich wieder. »Das macht alles noch rätselhafter«, sagte er. »Gut, erzähle weiter, damit wir uns ein Bild machen können.«

»Der Cantaro hat sofort erkannt, dass ich mich von den anderen Gefangenen unterscheide«, erzählte ich weiter. »Er hat befohlen, dass mich ein Wissenschaftler der Insektoiden, Doktor Zarrytor, untersuchen sollte. Im Labor des Wissenschaftlers habe ich dessen Assistenten Cyvho kennen gelernt und mit ihm Freundschaft geschlossen. Später konnte ich mit Ydira fliehen und in eine der verbotenen Zonen eindringen. Dort trafen wir auch Cyvho wieder.

Die verbotenen Zonen sind Orte, an denen sich noch Hinterlassenschaften der LFT befinden. Hier bin ich auf die Reste der Solaren Residenz gestoßen. Und innerhalb der Residenz fand ich einen Bericht von Maurenzi Curtiz, in dem er schilderte, wie es zu den heute herrschenden Zuständen auf der Erde kam.«

»Was hat er berichtet?«, fragte Atlan. Ich gab den Inhalt des Berichtes kurz wieder.

Sogar der knallharte Arkonide wirkte danach ziemlich erschüttert. »Monos«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Es gibt ihn also noch immer. Es war alles eine große Täuschung!«

»Was war eine Täuschung?«, fragte ich.

»Palkaru! Und der Tod von Monos«, stieß Atlan wütend hervor. »Wir haben Anson Argyris geschickt, um Monos zu täuschen. Doch er ist anscheinend auf dieselbe Idee gekommen. Er muss uns einen Klon oder einen Doppelgänger oder was immer geschickt haben. Es war nicht der echte Monos, der in der Explosion umgekommen ist. Diese Rechnung muss noch beglichen werden.«

*

Wir schwiegen lange. Dann erkundigte sich Atlan: »Wie bist du in die Situation gekommen, in der wir dich gefunden haben?«

»Innerhalb der Residenz bin ich auch auf zwei junge Leute gestoßen«, erklärte ich. »Sie sind, wie sie sagen, aus einer Innenwelt heraufgestiegen. Dabei dürfte es sich um das Bunkersystem handeln, das seinerzeit unterhalb der Residenz rund um den See angelegt wurde. Die überlebenden Menschen nennen sich Terrans und halten sich versteckt.«

»Offensichtlich haben sie es seinerzeit geschafft, zumindest die Residenz noch ordnungsgemäß zu landen«, meinte Atlan. »Sonst wäre vom Bunkersystem nicht mehr viel übrig. Wie viele Menschen gibt es dort?«

»Die beiden haben berichtet, dort unten würden noch zumindest 792 Terrans leben. Ihr Oberhaupt ist der Ewige Hüter. Ich habe die beiden, so wie sie es gewollt haben, zur Oberfläche geführt. Dort sind wir auf Denise Joorn gestoßen, die einige Passagiere der WITMAE um sich geschart hat. Genau wie ich war sie in den letzten Tagen ständig auf der Flucht vor den Insektoiden.«

Ich hob den Kopf und sah ihm in die Augen: »Plötzlich war General Fykkar da und hat uns angegriffen. Das ist der große, wespenartige Insektoide. Seit Beginn meiner Flucht hat er uns gejagt. Er hat auch Cyvho auf dem Gewissen. Ohne deine Hilfe hätten wir seinen Angriff nicht überlebt.«

*

Jetzt war ich an der Reihe zu fragen: »Wie seid eigentlich ihr hierher verschlagen worden?«

»Das wissen wir selbst nicht so genau«, antwortete Atlan. »Ich war mit Tolotos in der Space-Jet in der Nähe der SOL unterwegs. Es war ein Routineflug. Plötzlich wurden wird von einem nebelartigen Gebilde eingeschlossen. Und als die Ortung wieder möglich war, fanden wir uns in diesem grünen Universum wieder.«

»Glaubst du, dass auch bei deinem Transfer DORGON seine Finger im Spiel hatte?« fragte ich.

»Schon möglich. Bei Superintelligenzen und ähnlichen Wesen ist viel möglich. Da habe ich meine Erfahrungen«, sagte Atlan nachdenklich. Offenbar spielte er auf seine Zeit als Auserwählter der Kosmokraten an.

»Kurz, nachdem es mich hierher verschlagen hatte, hatte ich eigenartige Visionen«, berichtete nun wieder ich. »Irgendwie habe ich den Eindruck, wir könnten uns innerhalb eines Psiqs befinden, in dem eine potentielle Zukunft ausgebrütet wird.«

»Diese Spekulation führt uns nicht weiter«, meinte Atlan. »Wir haben noch zu wenige Informationen. Wir benötigen Kontakt zu Personen, die uns mehr Informationen geben können als die Insektoiden und die Terraner, die in die Primitivität zurückgefallen sind.«

»Und wo finden wir solche Personen?«, fragte ich.

»Wir suchen Gott«, antwortete Atlan kryptisch. Ich schluckte. Diese Antwort hatte ich nicht erwartet. Hatte ich mich verhört? Verstört sah ich zu Tolot. Der hatte alle drei Augen aufgerissen und, so weit es die Tentakel zuließen, aus dem Kopf geschoben und auf Atlan gerichtet. Ich beschloss, mir seinen Gesichtsausdruck genau zu merken. Endlich wusste ich, wie ein Haluter aussah, wenn er vollkommen verblüfft war.

*

»Es ist doch ganz einfach«, erläuterte Atlan. »Jenes bisher technologisch am weitesten fortgeschrittene Wesen ist der Cantaro. Und der nennt sich Krieger Gottes. Über ihm muss es daher ein vorgesetztes Wesen geben, das sich – äußerst bescheiden – Gott nennt. Und zu diesem Wesen müssen wir uns durch die Hierarchie hinaufarbeiten.«

Durch die Hierarchie hinaufarbeiten. Nun, darin hatte er Übung. Das war etwas, das der Arkonide seit seiner frühesten Jugend getan hatte. Damals hatte er sich von einem verlassenen Wüstenplaneten durch die Hierarchie des Arkon-Imperiums bis hinauf zum Imperator selbst vorgearbeitet. So lange, bis es ihm gelungen war, den Tyrannen, der sein Onkel Orbanashol war, zu stürzen. Und diese Taktik hatte er später immer wieder und mit erstaunlicher Zähigkeit angewandt, oft gegen übermächtige Feinde. Kein Wunder, dass er auch diesmal so vorgehen wollte.

»Und wie willst du an den Cantaro herankommen?«, fragte ich.

»Als Erstes benötigen wir Verbündete«, erklärte Atlan. »Die finden wir in den Räumen unterhalb der Residenz. Deren Einwohner nennen sich Terrans, was darauf hindeutet, dass sie noch Erinnerung an die Vergangenheit haben. Wenn wir Verbindung zu den Terrans bekämen, hätten wir für unsere weiteren Schritte eine Basis – und eine erste Informationsquelle – wie sie besser nicht sein könnte.

Außerdem ist da noch ihr Oberhaupt, der Ewige Hüter. Dieser Titel deutet auf hohes Alter und eine Verbindung zur Vergangenheit hin. Vielleicht ist er sogar einer von uns, ein überlebender Unsterblicher. Um ihn sollten wir uns besonders kümmern.«

Darauf schüttelte ich skeptisch den Kopf: »Der Ewige Hüter einer der Unsterblichen! Und du hast mir gesagt, ich soll Spekulationen unterlassen!«

2.

Wir befanden uns im Tunnelsystem unterhalb der Solaren Residenz. Die Welt um mich bestand aus Rot-, Grün- und Blautönen. Ich trug eine Infrarotbrille, die Wärmemuster in Falschfarbendarstellung sichtbar machte. Die Wärme an den Wänden und auf dem Boden wurde in optische Signale umgewandelt. Dadurch entstanden Muster, die aussahen, als seien sie einem Fiebertraum entsprungen.

Als Roan und Vronka vor uns in die Tiefe gestiegen waren, hatten sie thermale Fußspuren hinterlassen. Die Temperatur der Sohlen ihrer Stiefel war höher gewesen als die Temperatur des Bodens. Die Spuren bestanden ausschließlich in der gegenüber der Umgebung geringfügig höheren Restwärme ihrer Stiefelabdrücke und würden verschwinden, sobald sich die Temperatur wieder der Umgebungstemperatur angepasst hatte. Sie waren nur mit Infrarotbrillen sichtbar. Doch für uns reichten diese Fußabdrücke aus, um ihnen zu folgen.

Wir waren zu zweit unterwegs, nur Atlan und ich. Für Tolot hätten wir die Gänge ziemlich erweitern müssen, und die anderen waren keine erfahrenen Kämpfer.

Roan und Vronka hatten bei ihrem Abstieg wiederholt die Richtung gewechselt. Immer wieder waren Gänge durch herabgefallene Trümmer blockiert und zwangen zu Richtungswechseln. Hätten wir nicht die Spuren der beiden Terrans gehabt, wir hätten niemals hinuntergefunden.

Plötzlich bedeutete mir Atlan anzuhalten und flüsterte: »Vor uns ist jemand. Es dürfte ein Posten der Terrans sein. Wir sind dort, wo wir hin wollten.«

Wir näherten uns dem Wachtposten, bis er uns anrief: »Halt! Keine Bewegung! Wie ist die Parole?«

Wir blieben stehen. »Wir kennen die Parole nicht«, rief ich ihm zu. »Aber wir hatten Kontakt zu zwei von euren Leuten. Wir sind Menschen wie ihr. Du kannst doch sehen, dass wir keine Insektoiden sind.«

»Kommt langsam näher«, rief der Posten und leuchtete mit einer kleinen Lampe in unsere Richtung. »Wie Insektoide seht ihr tatsächlich nicht aus«, stellte er fest. »Trotzdem seid ihr vorläufig festgenommen, bis wir wissen, was wir mit euch machen sollen.«

*

Der Mann dirigierte uns durch mehrere verwinkelte Gänge, bis wir in einen Flur mit mehreren verschlossenen Schotttüren gelangten. Er öffnete eine davon händisch und deutete uns einzutreten. Dann sagte er: »Wenn der Bürgermeister Zeit hat, werde ich euch zu ihm bringen. Ihm werdet ihr erklären können, was ihr hier eigentlich wollt.«

Nachdem der Posten gegangen war, untersuchten wir das Eingangsschott. Zwar war der Mechanismus zur manuellen Öffnung des Schotts unbrauchbar gemacht worden, aber es existierte noch immer ein funktionierender Entriegelungsmechanismus für Notfälle. Offensichtlich hatten die Terrans ihn übersehen, als sie die Räume zu Gefängniszellen umfunktioniert hatten. Wir konnten das Schott öffnen. Dann entschlossen wir uns, auch gleich in den anderen Zellen nachzusehen.

Als wir die erste Zelle öffneten, blickten uns Roan und Vronka entgegen.

»Hast du die Parole auch nicht gewusst?«, fragte ich Roan. »Oder gibt es einen anderen Grund, warum ihr hier einsitzt?«

»Der Hüter hat uns belogen. Es gibt nicht nur Insekten auf der Oberfläche. Es gibt Leben, das uns ähnlich ist. Leben wie euch.« rief Roan uns zu. »Das habe ich am Versammlungsort den anderen berichtet. Plötzlich sind Hüter der Ordnung erschienen und haben uns einfach verhaftet. Das war reine Willkür. Ich habe nur die Wahrheit gesagt!«

»Da wo ich herkomme, ist das so ziemlich der schlimmste Gesetzesverstoß«, meinte Atlan ironisch. »Wenn du auf Arkon beginnst, die Wahrheit zu sagen, findest du dich sofort auf einem Gefängnisplaneten wieder.«

»Wir wollen mit dem Ewigen Hüter sprechen. Kannst du uns zu ihm bringen?«, fragte ich.

»Den Ewigen können nur seine Priester herbeirufen«, erklärte Roan. »Wenn wir mit den Priestern sprechen wollen, müssen wir zunächst mit dem Bürgermeister reden. Doch diesmal werde ich mich vorbereiten, bevor ich über meine Erlebnisse zu berichten beginne.«

Der Weg zum Ewigen Hüter hörte sich einigermaßen kompliziert an. Allerdings fiel mir bei Roans Schilderung noch ein zweiter Punkt auf: Wenn der Hüter erst herbeigerufen werden musste, befand er sich offenbar nicht ständig unter den Terrans. Ich fragte mich, wo er sich in jener Zeit aufhielt, in der er nicht im Bunker seiner Gläubigen war. Seine Fähigkeit, sich aus der Zivilisation der Terrans zu entfernen, stellte eine technologische Überlegenheit unter Beweis, die den Hüter deutlich über die anderen hinaushob.

Atlans Hypothese, der Ewige Hüter könnte einer der Unsterblichen sein, erschien mir plötzlich doch nicht so abwegig.

*

Roan hatte uns in jenen Teil des unterirdischen Labyrinths gebracht, in dem sich die Terrans aufhielten. Als wir auf die ersten Passanten stießen, rief er ihnen aufgeregt entgegen: »Hey, Leute, ich habe doch Recht gehabt. Es gibt Menschen wie uns auf der Oberfläche.« Okay, das war es mit dem unauffälligen Vordringen zum Bürgermeister.

»Die subtile, diskrete Annäherung ist anscheinend nicht deine Art«, meinte Atlan trocken zu Roan. »Du bist mehr der geradlinige, offene Typ.«

Der junge Mann verstand die Anspielung nicht und blieb bei seinem Verhalten. Auch bei unserem weiteren Vormarsch verkündete Roan jedem, der es hören wollte, dass er Oberweltler bei sich habe. Einige der Passanten ergriffen die Flucht, doch viele schlossen sich uns an und begannen, uns Fragen zu stellen. Bald hatten wir einen Anhang von mehr als dreißig Personen.

Unsere Situation war heikel. Wir wollten nicht mehr als notwendig in diese Zivilisation eingreifen, bevor wir nicht mehr über sie wussten. Atlan und ich waren daher bei unseren Antworten sehr allgemein und zurückhaltend.

In einem Gang vor uns war eine Art Straßensperre errichtet worden. Dahinter warteten einige Bewaffnete. Nun wurde die Situation unangenehm. Ein Schusswechsel hätte unter den Menschen, die uns folgten, Opfer gefordert.

»Halt!«, ertönte eine markige Stimme hinter der Sperre. »Keinen Schritt weiter.«

»Was wollt ihr?«, fragte Roan. Zu uns gewandt flüsterte er: »Das sind die Hüter der Ordnung.«

»Ihr kommt jetzt mit zum Bürgermeister«, ertönte die Stimme hinter der Barrikade wieder. »Und keinen Widerstand. Sonst müssen wir euch zwingen.«

»Wir waren gerade auf dem Weg zum Bürgermeister«, rief Roan zurück. »Jetzt können wir aber nicht weiter, weil uns diese Barrikade im Weg steht.«

Daraufhin gab es eine kurze Pause. Danach hörte ich, wie der Anführer der Ordnungshüter seinen Untergebenen befahl: »Los, los, räumt die Sperre wieder weg.«

*

»Roan, was tust du mir an. Ausgerechnet in meiner Amtszeit kommst du mit Fremden daher. Wie soll ich das dem Hüter erklären?« Hektisch wischte sich der Bürgermeister mit einem riesigen, bunten Taschentuch über seine spiegelglatte Glatze.

Der offizielle Vertreter der Terrans war ein kleiner, rundlicher Mann. Er thronte hinter einem repräsentativen Schreibtisch in einem großen Raum. »Er heißt Wiekka«, flüsterte Roan mir zu.

Hinter uns stauten sich miteinander diskutierende Menschen. Die Menge war auf mehr als hundert Menschen angewachsen und reichte bis weit in den Gang hinaus.

Der Bürgermeister bemerkte, dass ich fasziniert sein Taschentuch betrachtete. »Schön, nicht?«, meinte er und entfaltete das Taschentuch in voller Pracht und Größe. »Ich habe es selbst gefärbt«, verkündete er stolz. Das glaubte ich ihm gerne. So sah es auch aus. Ich hoffte nur, dass er nicht auf die Idee kam, mir ein solches Machwerk verkaufen oder schenken zu wollen.

»Nun gut«, sagte Wiekka nach einer Weile, »das übersteigt meine Kompetenzen. Wir gehen zum Ewigen Hüter und fragen ihn, was zu tun ist.« Er seufzte und erhob sich aus seinem Stuhl. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen und er wandte sich an Roan. »Und übrigens, Roan: Wenn wir beim Ewigen Hüter sind, rede ich. Ist das klar? Nur ich rede. Da braucht man Feingefühl und Subtilität. Eine gewisse Diplomatie. Da kann man nicht so einfach drauf los reden, was man sich gerade denkt.«

»Jaja, okay, ich lasse dich reden«, beschwichtigte Roan.

»Das gilt auch für euch«, mahnte der Bürgermeister nun zu uns gewandt.

»Selbstverständlich erkennen wir die Tatsache an, dass du mehr diplomatische Erfahrung hast als jeder von uns«, bestätigte ausgerechnet Atlan. Belustigt dachte ich an die zahlreichen heiklen diplomatischen Missionen, die der Arkonide bereits durchgeführt hatte und deren Zahl er wahrscheinlich nicht einmal selbst wusste.

»Wenn das klar ist, kann es ja losgehen«, sagte Wiekka.

*

Wir durchwanderten einige Gänge. Die Nachricht über unser Kommen hatte sich weiter verbreitet. Weitere Terrans schlossen sich uns an. Als wir zum Tempel des Ewigen Hüters kamen, war bereits die Hälfte der Bevölkerung dieser Untergrundstadt hinter uns versammelt.

Der Eingang zum Tempel befand sich an der Rückwand eines gigantischen Raumes. Er bestand zunächst einmal aus einem Riss, der sich durch zahlreiche Stockwerke zog. Er reichte sowohl nach oben, was dem dadurch entstandenen Raum enorme Höhe verlieh, als auch nach unten, was einen bedrohlich wirkenden Abgrund entstehen ließ. Über diesen Abgrund führte eine ziemlich schmale Brücke.

Die Tore des Tempels befanden sich direkt an der Rückwand des Risses und waren gegenüber dem Versammlungsplatz etwas erhöht. Auch die Brücke war daher nicht eben, sondern schräg nach oben angelegt. Wenn der Hüter aus dem Tor heraustrat, konnte er auf die Menge nach unten blicken. Das verschaffte ihm automatisch eine Position der Überlegenheit.

Vor dem dünnen Konstrukt hatte man die Innenwände, die früher die verschiedenen Räume gegeneinander abgegrenzt hatten, entfernt und so einen großen Versammlungsplatz mit einem Durchmesser von fast zweihundert Metern geschaffen.

Wiekka ging voran. Vor der Brücke standen zwei Gestalten, deren Gesichter durch Kapuzen verdeckt waren. Anscheinend waren sie die Priester des Ewigen Hüters.

Direkt vor ihnen blieb er stehen, drehte sich um und begann, zur Menge zu sprechen: »Wir haben uns hier versammelt, um in einer Krisensituation den Rat des Ewigen Hüters einzuholen. Fremde sind gekommen, und stellen unsere kleine Gemeinschaft vor eine schwierige Situation. Doch ich als Bürgermeister habe nunmehr die Initiative ergriffen und habe …« Wir sahen uns an. Atlan schüttelte unmerklich den Kopf. Es war unfassbar: Der Bürgermeister hielt diesen Zeitpunkt für geeignet, eine politische Rede zu halten!

Die wachsende Spannung der Menschenmenge war spürbar. Nur Wiekka nahm diese Stimmung nicht wahr. Er setzte die Rede fort, indem er die Errungenschaften seiner Regierung schilderte.

»Bürgermeister, hör auf!« »Wir wollen wissen, was der Hüter sagt!« »Die Fremden sollen reden!« Die Rufe aus der Menge wurden immer zahlreicher. Nun entschloss sich der Bürgermeister endlich, seine Rede zu beenden. Er drehte den zornigen Gesichtern den Rücken zu, wandte sich an die beiden Kuttenträger und rief:

»Hohe Priester des Ewigen Hüters! Wir kommen, um den Rat des Hüters einzuholen. Fremde sind bei uns erschienen und haben Unruhe erzeugt. Abweichler behaupten, dass es auf der Oberfläche Leben gibt, das uns ähnlich ist. Sie meinen, dass es für uns dort oben eine Zukunft gibt. Der Hüter soll ein Machtwort sprechen, das die richtige Orientierung wiederherstellt und die Unruhe zum Verschwinden bringt.«

Er war ein richtiger Schleimer, der Bürgermeister. Und er wollte offenbar von Anfang an der Auskunft des Hüters die von ihm gewünschte Richtung geben.

»Wenn ihr den Hüter sehen wollt, müsst ihr nach ihm rufen«, ordnete der linke Kuttenträger an.

»Hüter, wir rufen nach dir«, rief der Bürgermeister.

»Ihr müsst alle rufen«, befahl der rechte Kuttenträger.

»Ruft mit mir zusammen«, forderte der Bürgermeister die Menge auf. Nach einigen Versuchen schaffte er es, dass die Menge einstimmig in sein »Hüter, wir rufen nach dir« einfiel.

Danach musste der Bürgermeister bitten: »Hüter, erscheine in unserer Mitte.« Wieder musste die Menge die rituelle Formel einige Male wiederholen, bis die Kuttenträger die Rufe der Menge für ausreichend laut und inbrünstig erachteten. Es folgte die Bitte »Hüter, wir erflehen deinen Rat.« Auch diese Bitte musste die Menge einige Male wiederholen. Zuletzt musste die Menge rufen: »Hüter, wir flehen um deine Hilfe.«

Mir war klar, welchen Sinn dieses Ritual hatte. Zunächst versetzte die gemeinsame Wechselrede die Menschen in eine religiös aufgeheizte Stimmung. Das war eine altvertraute Vorgehensweise, die in allen Religionen angewandt wurde. Zugleich gewann der Hüter Zeit.

Allerdings erschien es mir zunehmend unwahrscheinlich, dass der Hüter ein Unsterblicher war wie wir. Niemandem aus unserem Kreis wäre es angenehm gewesen, im Mittelpunkt eines derart widerlichen Rituals zu stehen.

Seit dem Betreten des Platzes war, zunächst durch die Rede des Bürgermeisters, danach durch die Äußerung der Bitten, mehr als eine Dreiviertelstunde verstrichen. Nach dem letzten »Hüter, wir flehen um deine Hilfe« entstand eine Pause, dann verkündete der Kuttenträger plötzlich: »Sehet, der Ewige Hüter erscheint.«

Langsam begannen sich die beiden Portaltüren des Tempels zu öffnen. Dahinter wurde ein Transmitter sichtbar. Das bestätigte die Vermutung, dass der Hüter von außerhalb der Residenz hierher kam. Der Torbogen bildete sich zwischen den beiden Säulen.

Eine Gestalt trat aus dem Transmitter. Atlan und ich griffen fast gleichzeitig zu den Waffen. »Schieß auf den Transmitter. Nicht auf den Mann. Schneiden wir ihm den Rückweg ab«, rief Atlan.

3.

Die Gestalt, die aus dem Transmitter heraus getreten war, war keiner der Unsterblichen. Es war Lorsahl und er war ein Cantaro.

Wir schossen auf den Transmitter in seinem Rücken. Lorsahl drehte sich um und versuchte zu fliehen. Der Bogen des Transmitters flackerte bereits. Keine optimalen Voraussetzungen für einen Sprung. Das sah auch der Ewige Hüter ein und stoppte unmittelbar vor dem Bogen. Der Transmitter explodierte und brachte den Schutzschirm des Cantaro zum Aufleuchten.

Nun drehte sich Lorsahl um und flog auf unseren Standort zu. Auch um die beiden Kuttenträger bildeten sich Schutzschirme. Sie begannen, aus mehreren Waffen gleichzeitig auf uns zu schießen.

Eigenartigerweise schienen sie nicht nur in ihren beiden Armen Waffen zu tragen, sondern schossen auch aus dem Bauch heraus. Menschen waren das nicht.

Hinter uns brach Panik aus. Menschen schrien. Der Bürgermeister hatte sich zu Boden geworfen und wimmerte.

Inzwischen waren die Kutten von innen heraus zerschossen und fielen von ihren Trägern ab. Darunter kamen keine Priester zum Vorschein, sondern Roboter. Nun begann auch der Cantaro zu feuern, während er in hohem Tempo auf die Brücke zuschwebte.

»Den Linken!«, rief Atlan. Ich schoss auf den linken Roboter. Mehrere Gegenstände flogen auf den Standort der Gegner zu. Als sie dort auftrafen, erkannte ich, dass Atlan zuerst eine Pulsgranate geworfen hatte, die im Takt von Sekundenbruchteilen elektromagnetische Pulse aussandte und so die Steuerung der Roboter beeinträchtigte. Danach hatte er vor den Füßen des linken Roboters eine Sprenggranate platziert. Als sie explodierte, brachte sie, zusammen mit dem Dauerbeschuss aus unseren beiden Waffen, den Schutzschirm des Roboters zum Zusammenbruch. Sekundenbruchteile später hatten wir einen Gegner weniger.

Der Cantaro griff uns nicht an. Stattdessen flog er mit voller Beschleunigung zum nächsten Ausgang. Dort stauten sich die Flüchtenden. Rücksichtslos rempelte er sie zur Seite. Wir hatten keine Chance, auf ihn zu schießen, ohne auch unschuldige Opfer zu treffen.

»Nicht auf den Cantaro. Zuerst den Roboter«, kam Atlans Befehl. Allein stand dieser gegen uns auf verlorenem Posten und explodierte nach kurzer Zeit.

»Alaska, schau zuerst im Tempel nach. Bringe Roan und Vronka in Sicherheit, damit sie von der aufgebrachten Menge nicht gelyncht werden. Sag ihnen, wir klären die Menge hier herunten später auf. Danach folge mir so schnell wie möglich nach oben. Ich verfolge inzwischen den Cantaro.« Mit diesen Worten verschwand Atlan in Richtung des Ausganges, in dem der Cantaro verschwunden war. Auch er stieß die Menschen rücksichtslos zur Seite.

Vorsichtig flog ich zum Tempel hinauf. Ich rechnete mit weiteren Gefahren und Überraschungen. Doch es passierte nichts. Die gesamte Anlage schien nur aus dem Transmitterraum bestanden zu haben.

Nun flog ich zurück. Der Bürgermeister lag immer noch wimmernd vor der Brücke auf dem Bauch. Im Übrigen schien er die Schießerei, die sich über seinen Kopf hinweg abgespielt hatte, recht gut überstanden zu haben.

Danach begann ich, Roan und Vronka zu suchen. Ich konnte die beiden nicht sehen und begann, sie mit Hilfe des Stimmverstärkers meines Anzuges zu rufen. Nach einiger Zeit gab es vor einem der Eingänge einen Tumult, da sich zwei Gestalten entgegengesetzt zur allgemeinen Fluchtrichtung bewegten. »Hier sind wir«, meldete sich Roan.

»Ihr kommt mit«, sagte ich. »Wir können euch nicht hier lassen. Falls die Menge zur Ansicht kommt, dass ihr an diesen Ereignissen schuld seid, lynchen sie euch. Es ist besser, wenn ihr vorläufig bei mir bleibt. Wenn sich die Gemüter ein wenig beruhigt haben, kehren wir zurück und klären alles.«

Ich forderte Roan und Vronka auf, sich an mir festzuhalten. Allerdings konnte ich mich mit meiner menschlichen Last nicht wie Atlan und der Cantaro durch die Menge der Flüchtenden hinausdrängeln. Ich flog daher durch den Riss einige Stockwerke nach oben. Schließlich landete ich auf einer Etage, die weniger durch Trümmer blockiert schien als die anderen. Dort begannen wir uns vorwärts zu arbeiten.

Ich hatte den Weg in die Tiefe der Residenz genau kartographiert. Ich wusste daher, in welche Richtung wir uns bewegen mussten. Mehrmals schafften wir herab gefallene Trümmer beiseite, wobei ich sogar zweimal meinen Strahler einsetzte. Nach einer halben Stunde hatten wir endlich die Route erreicht, auf der wir heruntergekommen waren. Ich schärfte Roan und Vronka ein, mir in jedem Fall zu folgen. Dann machte ich mich mit Hilfe meines Antigravs so schnell wie möglich an den Aufstieg.

*

Als ich oben ankam, schwebte die Space-Jet vor mir. Sonst war keiner zu sehen. Plötzlich meldete sich Leopold über den Außenlautsprecher der Jet: »Alaska, wie bin ich froh, dass du nun da bist.«

Ich stellte auf meinem Helmmikrofon seine Frequenz ein und fragte: »Was war denn hier los? Was ist mit Denise, Tolot und den anderen?«

»Tolot ist der Große mit den vier Armen, nicht wahr?«, begann Leopold. »Der war gut. Er war gerade auf einem Rundgang durch die Wüste. Jaques und ich haben die Gefangenen bewacht. Trotzdem konnte sich ein Fremder, der von unten gekommen ist, an sie heranmachen und ihnen die Fesseln durchschneiden. Plötzlich haben die Gefangenen ihre Fesseln abgeworfen, uns angegriffen und uns die Paralysatoren abgenommen. Damit haben sie die anderen betäubt. Nur ich war geschickt genug, mich zu verstecken. Zum Glück ist dieser Tolot rechtzeitig gekommen und hat die Insektoiden vertrieben.«

»Na toll, und jetzt geht alles von vorne los«, meinte ich. »Was ist mit dem Fremden aus dem Untergrund geschehen?«

»Der Fremde sieht so aus wie ihr, hat aber Maschinen im Gesicht. Als Tolot kam, ist er geradlinig in die Wüste geflogen. Dann ist auch schon dieser Atlan gekommen, auch von unten, und flog in die Wüste. Die beiden haben die Verfolgung aufgenommen. Folgt ihnen! Inzwischen sorge ich dafür, dass unseren betäubten Freunden nichts passiert.«

Gleichzeitig leuchtete auf dem Handscreen meines Ortungsgerätes ein Peilsignal auf. Es kam von Atlan. Ich kündigte Leopold die Ankunft von Roan und Vronka an und folgte dem Arkoniden.

Das Peilsignal kam aus der Richtung jenes Gebirgszuges, den wir bereits auf dem Weg zur Residenz überquert hatten.

Kurze Zeit später stieß ich auf Atlan. »Der Cantaro ist uns erst mal entkommen«, flüsterte er. »Aber er kann nicht über den Transmitter zurückkehren. Der Wespenähnliche da vorne dürfte dein General Fykkar sein. Sag mir, wenn du ihn identifizieren kannst.«

»Warum seid ihr nicht einfach mit der Jet über die Wüste geflogen und habt alles betäubt, was sich darin bewegt? Wäre das nicht einfacher gewesen?«, fragte ich.

»Wir wollen den Cantaro. Der ist uns aber sicher entkommen. Nun brauchen wir jemanden, der uns die Fährte zu ihm legt. Daher benötige ich General Fykkar bei Bewusstsein und frei und nicht als bewusstlosen Gefangenen«, sagte Atlan.

Atlan schwebte näher an die Felsen vor uns heran. Prompt wurde aus zwei Strahlenwaffen auf ihn geschossen.

Atlan näherte sich dem Standort eines der beiden Schützen. Plötzlich startete ein riesiger, wespenartiger Insektoider zu Atlan hoch und schrie: »Niederträchtiger Flügelloser. Ich werde sterben. Doch ich werde dich in den Tod mitnehmen!«

»Das ist General Fykkar«, gab ich Atlan durch.

Atlan wich ihm elegant aus. Etwas fiel zu Boden. Als es am Boden explodierte, erkannte ich, dass es sich um eine Sprenggranate gehandelt hatte. General Fykkar hatte sich gemeinsam mit Atlan ins Jenseits sprengen wollen, doch Atlan hatte ihm die Granate einfach aus seiner Klaue geschlagen.

Mit Staunen sah ich, was als nächstes passierte. Der Arkonide war dem General ausgewichen. Als der Insektoide an ihm vorbei flog, schwang er sich einfach auf dessen Rücken. Da der General in voller Lebensgröße 2,5 Meter lang war, gab er für Atlan ein taugliches Reittier ab. Atlan packte ihn bei den Fühlern. Diese stellten, wie ich wusste, empfindliche Sinnesorgane dar. Durch Atlans Griff musste das Gehirn des Generals mit heftigsten Sinneseindrücken bombardiert werden. Es fühlte sich für den General wahrscheinlich ähnlich intensiv an, wie wenn jemand beim Menschen in offen gelegten Zahnwurzeln herumstochert.

Ich hörte ein eigenartiges, unangenehmes Geräusch, das mir durch Mark und Bein ging. Es war ein helles Kreischen, wie es entsteht, wenn man Fensterscheiben ritzt, und kam von General Fykkar. Er schrie.

Der General hatte offenbar keinerlei Orientierung mehr und ging in einen Steigflug nach oben über. Seine Flugbahn – auf dem Display nachgezeichnet – erinnerte an eine Gauß‘sche Glockenkurve. Er änderte die Richtung, ging in einen Sturzflug über und raste, noch immer kreischend, direkt auf mich zu. Ich musste mich zu Boden werfen. Als er knapp über mich hinweg flog, glaubte ich, den Luftzug zu spüren. Danach stieg er wieder auf und flog eine Art Looping. Allerdings endete die Schleife nicht elegant in der Luft, wie ein Kunstflug enden soll. Die Flugbahn des Generals war schräg gegen den Boden gerichtet. Atlan sprang rechtzeitig vor dem Aufprall ab. Der General raste mit voller Wucht in den Boden. Sein Körper überschlug sich mehrmals.

Erst jetzt bemerkte ich, dass der zweite Insektoide inzwischen geflüchtet war. Der General war nicht tot, doch er benötigte eine ganze Weile, bis er sich so weit gefangen hatte, dass er taumelnd wieder losfliegen konnte. An seiner Flugbahn war zu erkennen, dass er noch bei weitem nicht Herr seiner Sinne war. Doch er entkam.

»Ich vergönne dem General jede Form von Ungemach!«, sagte ich zu Atlan. »Doch kannst du mir erklären, wozu diese Aktion gut war? Warum hast du ihn nicht einfach außer Gefecht gesetzt?«

»Von nun an ist der General Träger einer Sonde. Wir wollen doch an die Schattenmacht von Insektoidia herankommen, von der dir dein Freund Cyvho berichtet hat. Fykkar wird uns zu ihr führen. Und so, wie es ihm derzeit geht, wird er die Sonde sicherlich nicht so schnell entdecken.«

4.

Atlan und ich standen auf einem Flachdach in der Stadt der Insektoiden, mit einem guten Ausblick auf die Kaserne, in der sich Fykkar aufhielt. Wir hingegen waren für die Insektoiden nicht sichtbar, da wir unsere Deflektoren eingeschaltet hatten. Atlan konzentrierte sich auf die Signale seiner Sonde. Es war die Ruhe vor dem Sturm.

Wir beobachteten die hektischen Bemühungen der Insektoiden, ihre Verteidigung zu organisieren und ihre Kanonen in Stellung zu bringen. Da sie noch mit klassischen Schießpulverwaffen arbeiteten, würden sie für die Schutzschirme der Space-Jet keine Gefahr darstellen. Strahlenwaffen kannten die Insektoiden zum Glück noch nicht oder nicht mehr. Jene Waffen, die Fykkars Leute besessen hatten, hatten sie von Lorsahl persönlich zur Verfügung gestellt bekommen.

Dann ging es los. In der Ferne sah ich zunächst nur einen kleinen Punkt. Es war unsere Space-Jet. Denise Joorn saß am Steuer und Roan an den Waffen. Der Terrans hatte zuvor von Atlan einen Schnellkurs in der Handhabung der Bordwaffen verpasst bekommen.

Der kleine Punkt verursachte eine große Staubwolke. Denise hatte das Gebläse der Space-Jet eingeschaltet und wirbelte damit den Wüstenstaub hoch. Die Jet flog äußerst langsam. Die Insektoiden sollten genügend Zeit haben, hinreichend nervös zu werden.

Plötzlich hörte ich die Melodie. Es war ein aufwühlendes Stück in epsalischer Zwölftonmusik von Aoro Schöbbarc mit dem Titel ›Methansturm‹. Ich hatte sie schon einige Male in der Oper von Terrania gehört. Atlan hatte dieses Stück aus dem Musikspeicher der Space-Jet herausgesucht. Denise spielte es jetzt mit voller Lautstärke über die Außenlautsprecher der Space-Jet ab. Die Insektoiden sollten nicht nur etwas zu sehen, sondern auch etwas zu hören bekommen.

Anscheinend irritierte es sie: Die Aktivitäten der Insekten vor uns wurden immer hektischer.

Ein zweiter, kleinerer Punkt war am Boden zu erkennen. Es war Icho Tolot, der den Bodenangriff übernommen hatte. Auch Tolot lief nicht in Höchstgeschwindigkeit, sondern näherte sich in einem für ihn gemächlichen Schritttempo.

Insgesamt dauerte es volle sechs Minuten, bis die Jet in Reichweite der Kanonen war. Die Geschütze eröffneten das Feuer.

Denise reagierte geschickt. Der konzentrierten ersten Salve wich sie blitzschnell aus. Die Schützen hatten gut gezielt. Die Projektile der Kanonen rasten knapp an der Jet vorbei und explodierten hinter ihr wie wunderschöne Feuerwerkskörper. Wäre es Nacht gewesen, hätte es zauberhaft ausgesehen.

Nun stürzte sich die Jet auf die Stellungen der Kanoniere. Roan setzte die Paralysatoren ein. Reihenweise fielen die Insektoiden um. Wie leblos lagen sie da.

Einige Insektoide erhoben sich mit ihren Flügeln in die Luft und versuchten eine Art Sturmangriff auf die Jet. Sie hatten keine Chance. Auf halbem Weg erwischte sie Roans Paralysator und sie taumelten zu Boden.

Ununterbrochen ertönte die apokalyptische Musik.

Inzwischen hatte Tolot die Stellungen der Gegner erreicht. Er ließ ein furchterregendes Gebrüll hören und zeigte die Zähne seines beeindruckenden Gebisses. Insektoide, die sich ihm in den Weg stellten, fegte er mit seinen Handlungsarmen beiseite. Kanonen in seiner Reichweite funktionierte er in Wurfgeschosse um, mit denen er auf andere Geschütze oder Stellungen der Insektoiden warf.

Die Jet schwebte von einer Stellung zur nächsten. Ihr Paralysator setzte ganze Gruppen außer Gefecht. Die Insektoiden hatten ihren Beschuss eingestellt und suchten, wo immer die Jet auftauchte, ihr Heil in der Flucht.

Zusehends verloren sie den Überblick. Tolot befand sich in der Mitte ihrer Stellungen. Einige Kanonen schossen auf Tolot, trafen aber die eigenen Kameraden, die in seiner Nähe standen. Die so Beschossenen gaben ihre Stellungen endgültig auf und rannten von Panik erfüllt davon, Hauptsache weg von Tolot.

Atlan zeigte auf eine der Straßen, die von der Kaserne in die Stadt führte. Ein Strom geflügelter Soldaten befand sich auf dem Weg von der Kaserne in die Stadt. Militärisch hieß das Absetzbewegung, Zivilisten wie ich nannten es Flucht.

»Wo ist Fykkar? Ich will Fykkar!«, brüllte Tolot in die Menge. Dann verdichtet er die Struktur seines Körpers und durchbrach die Außenwand eines Hauses. Kurz danach sprangen aus allen Öffnungen des Gebäudes, sowohl den Türen als auch den Fenstern, Insektoide und rannten davon, so schnell sie konnten. Auf einer Seite brach das Dach ein. Einige Soldaten brachten eine Kanone in Stellung, mit der sie den Bau ins Visier nahmen. Plötzlich brach Tolot durch eine Gebäudewand ins Freie durch und rannte brüllend auf die Soldaten zu. Diese ließen, ohne einen Schuss abgegeben zu haben, ihre Kanone stehen und rissen aus.

Die Jet folgte der Menge der Flüchtenden die Straße entlang in die Stadt. Sie war unüberhörbar, da sie noch immer die ohrenbetäubend laute Musik abspielte: den ›Methansturm‹.

Unvermittelt sagte Atlan: »Unser Einsatz.« Der Punkt auf seinem Armbandorter hatte sich zu bewegen begonnen. Wir nahmen die Verfolgung auf. Ich klappte aus dem Helm ein Zoomgerät vor mein linkes Auge und versuchte, etwas in der Ferne zu erkennen. Tatsächlich, da war der General. Und er flog ohne Begleitschutz. Mehrmals blickte er sich um. Offensichtlich wollte er sicher sein, dass ihn niemand verfolgte.

Sein Weg führte fort vom Kampfgeschehen in ein Gebiet mit mehreren Fabriken. Das war eigenartig. Dieses Areal hatte keinerlei strategische Bedeutung. Es war auch keine insektoide Bevölkerung vorhanden, in deren Mitte der General hätte untertauchen können, um sich so unserem Zugriff zu entziehen. Es war völlig unklar, was er hier wollte.

Er flog zu einer Nahrungsmittelfabrik, die augenscheinlich schon vor einiger Zeit stillgelegt worden war. Dort landete er vor einer Lagerhalle. An einer Wand begann er zu hantieren. Und plötzlich war er verschwunden.

*

Wir umkreisten kurz das Gebäude. Der vordere Teil der Halle, in dem sich die Eingänge befunden hatten, war zusammengebrochen. Für einen unbeteiligten Beobachter wäre es eine Bauruine gewesen, die ihren Nutzen verloren hatte und völlig uninteressant war.

Wir untersuchten die Rückwand, in der General Fykkar verschwunden war. Atlan benötigte mit seinen technologisch weit überlegenen Geräten nur wenige Sekunden, um innerhalb der Wand Energieströme festzustellen, die hier nicht sein durften. Am Muster dieser Ströme war erkennbar, dass sich innerhalb der Wand eine Geheimtüre befand. Atlan öffnete die Wandverkleidung. Die Tür wurde sichtbar. Danach wurde es schwierig.

»Das ist ein Nummernschloss der Cantaro«, stellte er fest. »Das können wir nicht innerhalb vertretbarer Zeit knacken.«

»Jetzt haben wir zumindest den Beweis, dass hier vor Ort auch ein Stützpunkt des Cantaro ist«, sagte ich.

»Ja«, antwortete Atlan, »aber leider ist damit auch die Zeit der heimlichen Verfolgung vorbei. Wir öffnen die Tür mit Gewalt und sprengen uns durch alles durch, was sich zwischen uns und dem Ewigen Hüter befindet. Wir nehmen keine Rücksicht. Das wird ein Wettlauf mit der Zeit. Wir sind hier im Hauptstützpunkt der Schattenmacht. Wir müssen damit rechnen, dass der Cantaro in diesem Stützpunkt einen Transmitter hat, genauso wie im Tempel.«

»Wenn der Transmitter dieselbe Bauart hat wie jener im Tempel des Hüters, benötigt er nach dem Einschalten circa zwei Minuten, bis der Torbogen steht und der Transmitter benutzbar ist«, erläuterte ich.

»Diese zwei Minuten haben wir, um den Cantaro abzufangen«, stellte Atlan weiter seinen Plan dar. »Ich schlage folgende Aufgabenteilung vor: Wenn wir unten auf Mitglieder der Schattenmacht und auf ihn treffen, gehe ich auf ihn los, gelte es, was es wolle. Ihn wollen wir haben. Ich werde versuchen, ein Fluchtfahrzeug außer Betrieb zu setzen oder den Transmitter zu zerstören, bevor er hindurch fliehen kann. Ich verlasse mich darauf, dass du mir die Leute der Schattenmacht vom Halse hältst.«

»Einverstanden«, erwiderte ich.

Er brachte eine Sprengladung an der Geheimtür an. »Bereit?«, fragte er.

»Bereit!«, gab ich ruhig zur Antwort.

*

Mit einem lauten Krach explodierte die Sprengladung und zerriss die Geheimtür. Vor mir drängte sich Atlan durch die entstandene Öffnung und gelangte in eine Art Fahrstuhlkabine. Mit dem Impulsstrahler schoss er den Boden der Kabine weg und ließ sich mit aktiviertem Antigrav in den Schacht fallen.

So wie ich betrachtete er genau sein Ortungsgerät. Unter uns wurde tatsächlich ein Gerät aktiviert. Auf der neunten Ebene waren wir mit der Energiequelle auf gleicher Höhe.

Der Arkonide sprengte die Türen des Fahrstuhlschachtes auf, warf eine Nebelgranate durch die entstandene Öffnung und verschwand danach im Gang. Ich hörte mehrere Schüsse aus den Schusswaffen der Insektoiden.

Als ich Atlan in den Gang folgte, war der Kampf schon wieder vorbei. Zehn oder mehr paralysierte Insektoide der verschiedensten Formen lagen am Boden. »Leichen pflastern seinen Weg«, flüsterte ich ironisch.

Atlan sprengte auch die Tür am Ende des Ganges und stürzte in den Raum dahinter. Aus dem Raum hinter der aufgesprengten Tür leuchtete der Blitz einer lautlosen Explosion auf. Als nächstes erreichte ich den Raum.

Sechs Insektenähnliche flogen orientierungslos im Raum umher. Einer von ihnen war Fykkar. Atlan schwebte knapp unter der Decke. Im Hintergrund war die Tür zu einem anderen Raum offen, in dem die Säulen eines Transmitters erkennbar waren. Zwischen den Säulen bildete sich gerade der Torbogen. Der Cantaro war nicht zu sehen.

Ich hielt mich an den Plan, den wir besprochen hatten. Zuerst setzte ich mit meinem Paralysator Fykkar außer Gefecht, da er mir als der Gefährlichste erschien. Danach folgten im Sekundentakt die übrigen Insektoiden. Es gab praktisch keine Gegenwehr. Aus den Augenwinkeln sah ich im Nebenraum eine Bewegung. Als ich hinblickte, verschwand eine Gestalt im Transmittertor. Ich hörte eine Explosion. Vom Transmitter waren nur noch Trümmer übrig. Atlan schwebte noch immer über mir und brüllte mir etwas zu. Ich erkannte, dass ich die Sache vermasselt hatte.

*

Wir saßen zusammen im Cockpit der Space-Jet. Es war ziemlich eng. Auf dem Bildschirm waren die Reste der Kaserne zu sehen, aus denen an den verschiedensten Stellen Rauch aufstieg.

»Der Angriff war ein voller Erfolg«, fasste Atlan zusammen. »Das Ziel der Mission wurde allerdings nicht erreicht. Der Cantaro ist entkommen.«

Wir hätten es fast geschafft. Von der Sprengung der Tür am oberen Ende des Aufzugsschachtes bis zum Tagungsraum der Schattenmacht hatten wir 98 Sekunden benötigt. Als Atlan den Tagungsraum der Schattenmacht betrat, war genügend Zeit, den Transmitter zu zerschießen. Doch der Cantaro warf eine Blendgranate in den Raum, ohne Rücksicht auf seine Mitstreiter. Der grelle Blitz setzte die sechs Insektoiden der Schattenmacht, aber auch Atlan außer Gefecht. Aus diesem Grund war der Arkonide, als ich in den Raum kam, orientierungslos unter der Decke geschwebt.

Hätte ich Atlans Plan ignoriert und sofort auf den Transmitter geschossen, hätten wir den Cantaro an der Flucht hindern können. Die Insektoiden der Schattenmacht waren zu diesem Zeitpunkt geblendet und hatten keine Gefahr dargestellt. Dass ich zuerst die Insektoiden ausschaltete, hatte mich wenige, aber entscheidende Sekunden gekostet. Dadurch war der Cantaro entkommen.

Wenigstens die sechs Anhänger der Schattenmacht hatten wir gefangen nehmen können. Sie waren gut verschnürt im Frachtraum der Space-Jet eingelagert. Wir wussten noch nicht, was wir mit ihnen anfangen würden. Allerdings nahm ich mir vor, Fykkar diesmal keinesfalls wieder entkommen zu lassen.

Plötzlich meldete sich Denise zu Wort. »Vielleicht habe ich da etwas«, sagte sie. »Ich habe hier Aufzeichnungen der Energieortung während der Schlacht. Da Fykkars Männer ihre Strahlwaffen zum Großteil in der Wüste verloren hatten und der Rest der Insektoiden nur mit Waffen auf Schießpulverbasis kämpften, gab es während des Kampfes kaum Energieortungen. Wenn man von unseren eigenen Waffen absieht, waren die einzigen Energieortungen euer Sturm auf die Zentrale der Schattenmacht und die Ortung des Transmitters.«

»Wie hilft uns das weiter?« fragte Atlan. »Dass der Cantaro einen Transmitter benutzte, wissen wir ja schon.«

Denise schüttelte den Kopf. »Jetzt kommt es«, meinte sie. »Zum Zeitpunkt des Abstrahlimpulses des Transmitters gibt es einen sehr schwachen, korrespondierenden Energieimpuls weit im Osten, schräg durch die Erdkruste hindurch. Ich kann diesen zweiten Impuls nicht zuordnen, aber der Verdacht drängt sich auf, dass er etwas mit dem Transmitter zu tun hat. Vielleicht können wir etwas Nützliches herausfinden, wenn wir diesen zweiten Impuls analysieren.«

Tolot hatte genau zum Ortungspult hingesehen. Nun sagte er: »Für mich ergibt das Sinn. Normalerweise werden Transmitter auf zivilisierten Welten eingesetzt. Falls das Gerät einigermaßen isoliert ist, geht die Streustrahlung einer Empfangsstation dort vollkommen im energetischen Hintergrundrauschen unter. Doch diese Welt ist frei von höherwertigen Energieformen. Aus diesem Grund kann man hier auch Impulse empfangen, die sonst untergehen. Vielleicht können wir die Empfangsstation wirklich lokalisieren.«

Drei Stunden später hatte Tolot ein Ergebnis: Das Empfangsgerät befand sich auf dem nordamerikanischen Kontinent, irgendwo zwischen den Rocky Mountains und der Sierra Nevada. In diesem Gebiet lagen das Death Valley, Las Vegas und Nevada Fields, jener Raumhafen, von dem Perry Rhodan im Jahr 1971 zu seiner historischen Mondmission gestartet war.

5.

Die Situation erfüllte mich mit Unruhe. »Bevor wir abfliegen, müssen wir etwas tun, damit hier eine etwas stabilere Ordnung eintritt. Sonst geht hier alles im Chaos unter, im Kampf jeder gegen jeden«, sagte ich zu Atlan.

»Wir müssen den Cantaro verfolgen«, antwortete er. »Wir dürfen keine Zeit verlieren!«

»Ich fühle mich den Lebewesen hier verpflichtet«, erwiderte ich. »Außerdem müssen wir uns überlegen, was wir mit unseren Gefangenen anfangen wollen. Nach Nevada will ich diese Schattenmacht jedenfalls nicht mitnehmen.«

Der Arkonide zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Und wie stellst du dir das vor, hier eine funktionierende Regierung zu installieren? Außer Roan und Vronka haben wir hier kein Lebewesen getroffen, mit dem man auch nur annähernd vernünftig reden kann.«

»Ich hätte da einige Ideen«, sagte ich.

*

Ich suchte mir aus einem Einwohnerverzeichnis der Stadt die Adresse des Schriftstellers Gineryl heraus.

Offenbar hatte Gineryl beschlossen, die unruhigen Zeiten in seiner Wohnung zu überdauern. Er hatte anscheinend nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet sein Heim zum Ziel der Invasoren werden könnte. Als ich es betrat, saß er gerade vor seinem Textverarbeitungsgerät und tippte konzentriert sein neuestes Werk ein.

Dann blickte er auf, sah mich, und machte einen Hechtsprung hinter das Sofa. »Ich habe nichts, was für euch von Nutzen ist«, wimmerte er dort. »Keine Reichtümer. Auch keine politischen oder wirtschaftlichen Geheimnisse. Ich bin nur ein armer Schriftsteller. Bitte geht und lasst mich in Ruhe.«

»Ich bin Alaska. Ich bin mir sicher, mein Freund Cyvho hat von mir erzählt.«

»Du kennst Cyvho?« So schnell wie er gesprungen war, hatte Gineryl seine Souveränität zurückgewonnen, richtete sich hinter dem Sofa auf und blickte mich interessiert an.

»Ich kannte ihn. Leider wurde er von General Fykkar ermordet. Doch er hat mir von dir erzählt. Und ich bin mir sicher, er hat dir auch von mir erzählt.«

Erst danach wurde mir bewusst, dass die Art, wie ich Gineryl den Tod seines Freundes mitgeteilt hatte, nicht sehr feinfühlig gewesen war. Gineryl ließ sich äußerlich nichts anmerken. Nur seine Fühler schienen ein wenig zu zittern.

»Wie ist er gestorben?«, fragte er.

»Es ist schnell gegangen«, antwortete ich. »Er hat nicht leiden müssen.« Ich berichtete kurz, wie Cyvho gestorben war.

Nach einigen Minuten des Schweigens stellte Gineryl fest: »Du bist der Außerirdische aus Zarrytors Labor.«

»Ja, der bin ich«, antwortete ich.

»Und was willst du von mir?« fragte Gineryl.

»Ich will, dass du mich zum Untergrund von Insektoidia führst.«

»Ich werde meine Kameraden nicht verraten«, stieß Gineryl hervor.

»Wir wollen deine Freunde nicht verhaften. Wir benötigen jemand, der die Regierung übernimmt.«

Gineryl begann nachzudenken.

*

Wir waren auf dem Flug zum Hauptquartier der Rebellen. Ich saß am Steuer der Space-Jet. Hinter mir unterhielt sich Roan mit Gineryl. Roan fragte: »Und, wie geht es dir so als neuer Freund der Außerirdischen?«

»Was meinst du mit dieser Frage, Mensch?« fragte Gineryl zurück.

»Ich kann dir erzählen, wie es mir geht«, begann Roan, über seine Gedanken zu sprechen. »Einerseits ist es total interessant, mit den Fremden unterwegs zu sein. Ich habe Dinge gesehen, die hätte ich mir früher nicht einmal in meinen kühnsten Träumen einfallen lassen.

Andererseits bin ich derzeit auf der Flucht vor meinen Artgenossen. Die halten mich für einen Verräter, weil ich an einem Anschlag auf unser geistliches Oberhaupt, den Ewigen Hüter, beteiligt war. Wenn die Fremden abgeflogen sind, werde ich ziemliche Probleme haben. Glaubst du, dass du deinen Artgenossen die Freundschaft mit den Fremden erklären können wirst?«

»Das wird wahrscheinlich ziemlich schwer«, gab Gineryl zu.

Wie es schien, hatten die beiden über die Artengrenzen hinweg eine gemeinsame Basis gefunden. Ein guter Anfang. Ich drosselte die Geschwindigkeit der Space-Jet, um den beiden genügend Zeit für ihr Gespräch zu geben.

*

Im Hauptquartier der Rebellen musste ich zunächst einige Bewaffnete paralysieren. Byykoy selbst entwaffnete ich lieber händisch. Immerhin wollte ich mich mit ihm noch unterhalten.

Als der Insektenführer vor mir auf dem Boden lag, rief er zunächst, er werde sein Volk nicht verraten und sein Leben bis zum letzten Zug seiner Tracheen verteidigen. Ich erklärte ihm, dass ich nicht seinen Tod wollte, sondern jemanden benötigte, der die Regierung übernahm. Von diesen Aussichten war Byykoy sofort begeistert und erklärte sich bereit, sich für sein Volk zu opfern und die gesamte Regierungsverantwortung auf sich zu nehmen.

Da musste ich ihn wieder zurück auf den Boden der Tatsachen bringen. Ich machte ihm klar, dass er diese Verantwortung nicht allein bekommen würde. Uns würde vielmehr eine gemeinsame Regierung von Menschen und Insektoiden vorschweben, in einem gemeinsamen Staat, der sich bewusst als Gegensatz zum rassistischen Unterdrückungsstaat von General Fykkar verstand. Das war Byykoy überhaupt nicht recht. Erst als ich ihn vor die Alternative stellte, entweder so oder gar nicht mitzuregieren, war er schließlich bereit, sich auf eine Gleichstellung einzulassen.

Als Nächstes suchte ich den Bürgermeister auf. Auf dem Weg zu ihm musste ich zunächst einige Hüter der Ordnung paralysieren. Zu meiner Überraschung zog auch der Bürgermeister selbst, als ich in seinem Büro erschien, eine Pump-Gun unter dem Schreibtisch hervor. Ich sprang über den Bürotisch und entwaffnete den Bürgermeister händisch. Immerhin wollte ich mich mit ihm unterhalten.

Als der Würdenträger vor mir auf dem Boden lag, rief er mir zunächst zu, er werde sein Volk nicht verraten und sein Leben bis zum letzten Atemzug verteidigen. Ich erklärte ihm, dass ich nicht seinen Tod wollte, sondern jemanden benötigen würde, der die Interessen der Terrans in einer gemeinsamen Regierung mit den Insektoiden vertrat.

Der Bürgermeister war dazu bereit, verlangte aber, die Insektoiden mögen herunterkommen, da auf der Oberfläche bekanntlich kein Leben möglich war. Ich packte den Politiker, der sich heftig wehrte, und trug ihn zur Oberfläche. Vor der Residenz saßen Denise Joorn, Vronka, Ydira, Jaques de Funes und Leopold an einem Lagerfeuer beisammen. Ich setzte meinen Gefangenen zu ihnen und fragte ihn: »Nun, wie ist es? Bist du nun noch immer der Überzeugung, dass auf der Oberfläche kein Leben möglich ist?«

*

Byykoy und der Bürgermeister standen einander vor der Stadt der Insektoiden gegenüber.

»Wir sollen also die Verantwortung für eine gemeinsame Zukunft von Terrans und Insektoiden übernehmen«, sagte der Mann und wischte sich stöhnend mit seinem bunten Taschentuch über die Glatze.

»Es ist der Wunsch geäußert worden, dass wir unsere Völker in einen einzigen Staat zusammenführen und so für beide die wirtschaftliche und kulturelle Prosperität erhöhen«, antwortete Byykoy und tupfte mit einem eigenartigen Fetzen aus Spinnenseide unter eine seiner zahlreichen Achselhöhlen.

»Das ist ein schönes Tuch, das Ihr da habt«, sagte der Insektoide plötzlich.

»Das habe ich selbst gefärbt«, erklärte der Bürgermeister stolz. »Wenn es Euch gefällt, könnt Ihr es haben. Ich färbe mir ein Neues.«

»Danke«, meinte Byykoy, »das nehme ich gerne an. Es ist sehr ästhetisch. Ich weiß ästhetische Tücher zu schätzen. Seht her, das ist ein Tuch aus Spinnenseide. Ich habe es selbst gewebt.« Er zeigte Wiekka das Tuch, mit dem er sich unter den Achselhöhlen getupft hatte.

Der Bürgermeister betrachtete es. »Das ist ja eine äußerst feine Webart. Derartiges habe ich noch nie gesehen.«

»Wenn es Euch gefällt, könnt Ihr es haben. Ich webe mir ein Neues. Damit können wir den kulturellen Austausch zwischen unseren Völkern beginnen.«

Wiederum hatten zwei über die Artgrenzen hinweg eine gemeinsame Basis gefunden. Auch das war ein guter Anfang.

Wie der Schweiß von der Glatze des Bürgermeisters für den Insektoiden roch, oder die Körperflüssigkeit des Insektoiden, die er sich unter der Achselhöhle weggetupft hatte, für die Nase des Bürgermeisters, das wollte ich mir gar nicht vorstellen. Politiker müssen eben Opfer bringen.

Leider war nicht alles so einfach.

*

Vor uns lag Fykkars Festung. In diese Festung war ich gebracht worden, nachdem ich bei den Steinzeitmenschen gefangen genommen worden war. Hier hatte ich zum ersten Mal den Cantaro getroffen. An diesem Ort hatte er den Befehl erteilt, dass ich von Zarrytor untersucht werden sollte. Erst danach war ich zu Zarrytor in die Stadt gebracht worden.

Unter der Festung befand sich ein Bergwerk. Hier mussten die Steinzeitmenschen, zu denen auch Ydiras Vater gehörte, noch immer Sklavendienste leisten. In der Festung befanden sich Elitesoldaten von Fykkar. Trotzdem wollten wir eine friedliche Übergabe der Festung erreichen.

Der Insektoide flog voran. Als er vor der Festung schwebte, rief er in ein Megaphon: »Hier spricht Byykoy, Vorsitzender der Übergangsregierung. Es hat einen Wechsel der Regierung gegeben. General Fykkar ist nicht mehr im Amt. Eure Befehle sind nicht mehr in Kraft. Ich fordere euch auf, eure Posten zu verlassen und euch in die Kasernen der Stadt zu begeben. Dort werden euch neue Posten zugeteilt. Weiters fordere ich euch auf, die Festung zu übergeben.«

Auf der Mauer Festung stand ebenfalls ein Insektoider. Er war – wie Fykkar – ein Wespenartiger. Er drohte Byykoy, der mit summenden Flügeln vor der Festung schwebte: »Verschwinde, Verräter. Du paktierst mit Unterwesen. Mit dir wollen wir nichts zu tun haben.« Er ließ sich ein Gewehr geben und zielte demonstrativ auf den Unterhändler.

»So nicht«, sagte Atlan, der am Feuerleitstand der Space-Jet saß. Mit einem gezielten Schuss aus dem Paralysator betäubte er den Festungskommandanten. Danach rief er in das Mikro, das mit dem Lautsprecher der Space-Jet verbunden war: »Wenn ihr wollt, könnt ihr es auch auf die harte Tour haben. Ich hoffe, ihr habt gehört, was sich in Insektoidia abgespielt hat. Viel Vergnügen. Ich gebe euch sechzig Augenblicke Zeit. Wenn ich dann keine weiße Fahne sehe, geht es los, genauso wie in Insektoidia.«

Wieder schaltete er den ›Methansturm‹ ein. Zugleich begann er von sechzig abwärts zu zählen.

Bei fünfundfünfzig tat sich etwas. Auf der Mauer brach eine wilde Rauferei los. Bei neunundvierzig wurden einige Insektoide von der Mauer geworfen. Bei zweiundvierzig rannte einer von der Mauer hinunter in einen Ausstattungsraum, während die Rauferei oben weiterging. Bei achtunddreißig kam der einzelne Insektoide mit einer Art Leintuch zurück. Bei zweiunddreißig hatte er wieder die Mauer erreicht.

Die eine Fraktion der Insektoiden warf sich geschlossen auf ihn. Bei achtundzwanzig hatte die andere Fraktion der Insektoiden den Leintuchmann befreit. Bei dreiundzwanzig wurde das Leintuch über die Mauer geworfen, wobei die letzten Widerspenstigen gleich mit hinunter gestoßen wurden. Zwei von ihnen hielten sich am Leintuch fest, das daraufhin entzwei riss. Nun hing nur noch ein kümmerlicher Rest der Friedensfahne von der Mauer.

»Reicht das?«, fragte ich Atlan.

»Lassen wir es gut sein«, meinte er.

*

Wir standen auf der Festungsmauer: Atlan, Roan, Ydira, Byykoy und der Bürgermeister. Wir sahen hinunter auf den Auszug der Steinzeitmenschen. Sie waren von den Strapazen im Bergwerk entsetzlich ausgemergelt. Trotzdem begrüßten sie voller Freude das Sonnenlicht. Jubelnd rannten sie aus der Festung hinaus. »Ihr werdet euch um sie kümmern müssen«, sagte ich zu Roan.

»Klar, machen wir«, antwortete Roan. »Byykoy hat dem Bürgermeister bereits zugesagt, die Nahrungsvorräte der Festung so lange an diese Leute verteilen zu lassen, bis sie sich wieder selbst erhalten können. Das wird noch einige Zeit dauern.«

»Damit ist es aber nicht getan«, antwortete ich. »Diese Leute sind nicht wie ihr. Sie müssen noch viel lernen, falls sie das überhaupt können. Ihr müsst euch um sie kümmern und in diesem neuen Staat auch ihre Interessen vertreten. Es darf nie mehr vorkommen, dass sie zu Sklaven gemacht werden. Dies gilt auch, wenn sie mit euch nicht Schritt halten können.«

»Der Bürgermeister hat versprochen, sich um sie zu kümmern«, sagte Roan.

»Kann man sich auf dieses Versprechen auch verlassen?« fragte ich.

»Frag ihn doch selbst«, sagte Roan

Das tat ich auch. Der Bürgermeister begann eine seiner politischen Reden über die Nutzung sämtlicher Ressourcen, zu denen auch die Oberflächenmenschen gehörten. Nach zwei Minuten eintönigem Sermon kam er jedoch zur Sache und schloss seine Rede mit folgenden Worten ab: »Ich weiß sehr wohl, dass wir es uns nicht leisten können, unsere Brüder an der Oberfläche im Stich zu lassen. Falls sie wieder versklavt werden, sind wir als Nächste dran. Da ist es nur ein kleiner Schritt. Und deshalb werden wir alles tun, um das zu verhindern.«

Das klang logisch. Völlig beruhigt war ich jedoch noch nicht.

Plötzlich schrie Ydira aufgeregt. »Laska, Laska, schau, da unten, mein Vater.« Tatsächlich konnte ich unten den Häuptling erkennen.

»Willst du ihn nicht begrüßen?«, fragte ich sie.

»Komm, Laska, wir zwei ihn begrüß. Wir gehörn zusamm.«

Ydira war seit dem Überfall auf das Dorf der Steinzeitmenschen eine treue Begleiterin gewesen. Doch nun würden wir diesen Kontinent verlassen. Ich wusste, dass ich sie nicht mitnehmen konnte. Das wäre verantwortungslos gewesen.

»Ydira, ich werde von hier fortgehen und nicht mehr zurückkommen«, sagte ich knapp. Ich ballte die Fäuste und streckte die Finger wieder aus. »Ich werde dich nicht mitnehmen können. Dein Platz ist bei deinen Leuten. Ich werde dich zu deinem Vater bringen, und du wirst mit ihm gehen. Das hier ist dein Zuhause.«

»Nein, Ydira bei dir. Ydira dich lieb. Ydira dir Geschenk. Nur Vater begrüßen, dann mit dir gehn.« Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht, ließ sie sinken und blickte mich aus großen, traurigen Augen an.

Ich nahm Ydira bei der Taille und schwebte mit ihr von der Mauer hinunter. Ihr Vater jubelte, als er sie sah. »Ydira, du lebt. Das Freude. Laska, du auch lebt. Ihr mitkommen, jetzt frei. Wir jagen.«

»Euch wiederzusehen ist mir eine Freude, Häuptling«, begrüßte ich ihn. »Ihr seid jetzt wirklich frei. Geht zurück in euer Dorf. Und nimm Ydira mit. Kümmere dich um sie. Sie braucht jetzt Trost.«

»Ich nimm Ydira mit. Und ich nimm dich mit. Viel Freude im Dorf.«

»Ich kann nicht mitkommen. Ich muss an einen Ort gehen, der sehr weit weg ist von hier. Dorthin kann mir Ydira nicht folgen. Und du genauso wenig. Deshalb bringe ich dir deine Tochter zurück.«

Ydira brach in Tränen aus: »Laska mich verlassen! Mich zurückgeben!«

Der Häuptling meinte: »Du Ydira Geschenk. Ydira gut Frau. Gut kochen. Gut Liebe. Alles gut. Du mitkomm. Du zu Stamm gehörst. Du nicht gehen darfst.«

Ydira hielt meine Hand fest. »Nimm Ydira mit. Ydira geht mit dir. Is auch jetz immer mit dir gegang. Macht auch weiter so.«

Ich war ratlos und fühlte mich wie ein Schuft, aber ich sah keine Alternative. Ich drückte ihre Hand und ließ sie dann los. Ich räusperte mich: »Ydira, ich wünsche dir alles erdenklich Gute in deinem Leben. Suche dir einen Mann, der zu dir passt. Macht Liebe. Macht Kinder. Und vergiss mich.« Ich betätigte meinen Antigrav und schwebte ein wenig nach oben.

Ydira hielt meine Hand fest, solange sie konnte. Mit der linken fuhr sie sich in die langen Haare. Sie heulte und rief: »Ydira will kein Mann. Ydira will dich. Du Mann von Ydira. Du bleib.«

Schließlich musste sie mich loslassen. Sie stürzte zu Boden, rollte sich zusammen und weinte bitterlich. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und war ebenfalls den Tränen nahe. Ich fragte mich, ob es nicht doch einen Weg gegeben hätte, sie mitzunehmen.

Die anderen hatten die Szene beobachtet. Ich landete bei Byykoy und sagte: »Du hast unsere Macht gesehen, als wir Insektoidia angegriffen haben. Wir können Insektoidia jederzeit wieder angreifen.

Du hast jetzt gesehen, dass da unten meine Frau ist. Falls ihr auch nur einem der Oberflächenbewohner etwas antut, oder wenn ihr wagen solltet, sie wieder zu versklaven, kommen wir wieder. Dann stürzen wir dich oder deinen Nachfolger. Danach wird es keinen Staat Insektoidia mehr geben.«

Byykoy antwortete: »Ich habe gesehen, dass dir diese Frau nahe steht. Wir werden die Oberflächenbewohner schonen. Wir werden sie lehren und schützen. Ihr werdet keinen Anlass haben zurückzukommen.«

Ich konnte Körpersprache und Mimik der Insektoiden kaum einschätzen. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass sich Byykoy duckte, ziemlich erschrocken war und es daher im Augenblick ehrlich meinte. Ich konnte nur hoffen, dass das auch nach unserem Abflug so bleiben würde.

*

»Wie fühlst du dich?«, fragte Atlan. »Glaubst du, dass du richtig entschieden hast?«

Die Frage überraschte mich. »Du meinst, dass ich Ydira zurückgelassen habe? Das war keine Entscheidung. Das war pure Notwendigkeit. Hätte ich sie einfach mitnehmen sollen?«

»Warum nicht? Ydira war doch hübsch. Schlank, lange braune Haare, große Augen, und sie war in dich verliebt. Eine Weile hättet ihr doch zusammenbleiben können. Nur um zu sehen, was daraus wird. Sie hätte dir gut getan. Ich habe meine Erfahrungen mit Barbarenmädchen.«

»Es wäre absolut unverantwortlich gewesen, wenn ich sie nur wegen der Befriedigung meiner Bedürfnisse aus ihrer Heimat herausgerissen hätte. Sie wäre in Situationen gekommen, die sie früher oder später getötet hätten.«

»Glaubst du das wirklich?«, fragte Atlan. »Ydira hat sich während eurer gemeinsamen Flucht sehr geschickt angestellt, obwohl sie von ihrem bisherigen Leben nicht darauf vorbereitet wurde, von Insektoiden mit Strahlern gejagt zu werden, oder durch technisch ausgestattete Labyrinthe zu flüchten. Warum hätte sie in Zukunft auftretende neue Situationen schlechter meistern sollen?«

»Was willst du damit sagen?«, fragte ich heftig. »Mit diesen Fragen machst du es mir nicht leichter. Die Situation geht mir schon so genug an die Nieren. Da brauche ich nicht noch deine versteckten Vorwürfe. Außerdem geht dich diese Sache überhaupt nichts an.«

»Es gibt etwas, das haben Perry, Bully, Homer und die anderen Unsterblichen gemeinsam«, meinte Atlan seufzend. »Ihr könnt zwar die Verantwortung für ganze Galaxien, für Entscheidungen von kosmischer Reichweite und äonenlange Entwicklungen übernehmen. Doch wenn es um einzelne Menschen geht, tut ihr euch schwer. Die lasst ihr nicht an euch heran. Die wehrt ihr ab.« Er blickte mich direkt an. »Auch und besonders du, Alaska. Du lässt dich lieber auf aussichtslose Beziehungen mit weit entfernten, unerreichbaren Wesenheiten ein, als die Liebe eines lebensfrohen jungen Barbarenmädchens an dich heranzulassen.«

*

Eine unserer letzten Verpflichtungen vor dem Abflug bestand darin, die Mitglieder der Schattenmacht offiziell an Byykoy und den Bürgermeister übergeben. »Wir werden dafür sorgen, dass ihnen der Prozess gemacht wird und sie ihre gerechte Strafe erleiden werden«, versprach Byykoy feierlich. Ich konnte nur hoffen, dass Byykoy und der Bürgermeister dieses Versprechen auch einhalten würden und nicht auf die Idee kamen, mit den Vertretern des alten Regimes irgendeinen Deal zu machen.

Wir verabschiedeten uns von Roan, Vronka und Gineryl. Die Drei erschienen mir von allen Personen im Umfeld von Insektoidia am verlässlichsten. Atlan empfand ähnlich und überließ ihnen drei Strahler. Sie versprachen, sie nur einzusetzen, wenn es die Situation erfordern würde.

Danach wollten wir Denise, Jaques des Funes, Icho Tolot und Leopold bei der Solaren Residenz abholen und unseren Flug nach Amerika beginnen. Doch am vereinbarten Treffpunkt war niemand. Als wir Denise anfunkten, meldete sie sich aufgeregt. »Ich bin im Tempel des Ewigen Hüters. Ihr müsst sofort kommen. Wir haben etwas entdeckt. Das müsst ihr mit eigenen Augen sehen. Jetzt wissen wir endlich, warum der Cantaro bei den Terrans als Ewiger Hüter aufgetreten ist.«

*

Wir befanden uns im Raum hinter der Tempeltür, in dem immer noch die Trümmer des zerstörten Transmitters lagen. Ich hatte mich hier bereits einmal kurz umgesehen. Denise hatte den Raum genau untersucht. Dabei hatte sie ein verborgenes Schott gefunden. Dahinter befand sich ein Waffenleitstand, mit dem eine Anlage zum Abschuss von Raketen kontrolliert wurde.

»Tolot hat entdeckt, dass der Cantaro die Abschussrampe in einem der oberen Teile der Residenz eingebaut hat«, berichtete Denise.

»Einen tollen kleinen Raketenstützpunkt hat er sich hier errichtet«, meinte Atlan.

»Das Tollste kommt aber noch«, erklärte Denise. »Die Raketen waren bereits auf ein bestimmtes Ziel programmiert. Ratet mal, auf welches Ziel sie eingestellt waren.«

Mir fiel beim besten Willen nichts ein, was für den Cantaro im Umkreis der verbotenen Zone von Interesse sein konnte. »Mit den Insektoiden war er enger verbündet als mit den Menschen. Daher kann es keinesfalls Insektoidia sein«, meinte ich.

»Die Raketen waren aber genau auf Insektoidia gerichtet«, behauptete Denise.

Atlan stieß einen Pfiff aus und sagte: »Der Cantaro kennt aber wirklich keine Skrupel.«

Mir erschien das unlogisch. »Wenn er die Insektoiden hätte vernichten wollen, hätte er ganz andere technische Mittel gehabt. Wozu sollte er den Aufwand betreiben, bei den Menschen einen Raketenstützpunkt einzurichten, um damit auf Insektoidia zu schießen?«

»Es ging ihm sicherlich nicht um die Vernichtung der Insektoiden«, antwortete Atlan. »Er wollte bei ihnen eine bestimmte Reaktion hervorrufen. Stellt euch vor, die Stadt wäre von Raketen getroffen worden, die tausende von Insektoiden getötet oder verstrahlt hätten. Was wäre passiert, sobald die Insektoiden herausgefunden hätten, dass diese Raketen von einem Stützpunkt der Menschen abgeschossen wurden? Sie hätten sofort einen Krieg begonnen. Und wie ein derartiger Kriegszug für die Menschen der Residenz ausgegangen wäre, könnt ihr euch sicherlich vorstellen.«

»Aber auch das ergibt keinen Sinn«, widersprach ich. »Die Terrans hätte der Cantaro ebenfalls im Alleingang vernichten können, wenn er das wollte. Dazu hätte er dieses Doppelspiel wirklich nicht inszenieren müssen.«

»Das stimmt!«, sagte Atlan hart. »Aber dieser Krieg hätte nicht nur dazu dienen sollen, die Terrans der Residenz auszurotten. Es ging um die gesamte Menschheit.

Offenbar gibt es noch an anderen Stellen versprengte Reste menschlicher Bevölkerung. Der Cantaro wollte einen allgemeinen Kriegszug der Insektoiden gegen die Menschen anzetteln. Wäre halb Insektoidia in Trümmern gelegen, hätten sich die Insektoiden nicht mit der Ausrottung der Terrans begnügt, sondern hätten die Menschheit wieder als Ganzes bekämpft. Alles mit dem Ziel, einen solchen Terroranschlag für immer zu verhindern.«

Etwas zog sich in meinem Magen zusammen, als Atlan das sagte.

Wir zerstörten den Computer in der Zentrale und entfernten die Steuerungschips aus den Raketen. Weder mit den technischen Mitteln der Menschen noch jenen der Insektoiden konnte die Abschussanlage wieder aktiviert werden. Dazu fehlte ihnen das Verständnis. Danach berieten wir, ob wir den Insektoiden oder den Terrans über unsere Entdeckung berichten sollten. Wir entschieden uns dagegen. Wir hätten mit diesen Informationen niemandem genützt, sondern lediglich gegenseitiges Misstrauen geschürt.

Endlich waren wir zum Abflug bereit. Atlan hatte den Platz des Piloten eingenommen, ich saß am Platz des Navigators. Der Arkonide seufzte: »Mir gefällt nicht, dass wir die eigentliche Absicht des Cantaro erst am Ende durchschaut haben. Sein Plan war nicht unbedingt raffiniert, aber ziemlich bösartig. Dabei habe ich im arkonidischen Imperium viele skrupellose Machenschaften erlebt.

Jetzt geht es in ein Gebiet, in dem der Cantaro seine Machtbasis hat. Ich frage mich, auf welche Gemeinheiten wir dort stoßen werden.«

6.

Wir erreichten die Westküste des amerikanischen Kontinents auf Höhe der San Francisco-Bay. Die beiden Halbinseln, auf denen sich San Francisco und Sausalito befunden hatten, waren zum Großteil überflutet. Lediglich einige Wolkenkratzer durchbrachen die Wasseroberfläche.

Bei einigen Ruinen war erkennbar, dass sie früher berühmte Bauwerke gewesen waren: Ich sah die Reste der Transamerica Pyramid, die aus dem 20. Jahrhundert einer uralten Zeitrechnung stammte, den Halbbogen des New Galaxy Centers, das während der Zeit des Vereinten Imperiums errichtet wurde, und die eigentümliche Schraubenform des Civic-Centers, das aus der Larenzeit stammte. Alle Gebäude waren von Wasser umgebene Ruinen, einsame Felsen, die aus dem Meer emporragten.

»Sieht nicht so aus, als würden wir hier noch Menschen finden«, sagte ich. Atlan schüttelte den Kopf.

Wir flogen die Küste entlang nach Südosten. Überall zeigte sich uns das gleiche Bild: Verfallene Anwesen und überflutete Städte.

Hinter Los Angeles lenkte Atlan den Gleiter nach Nordosten ins Landesinnere. »Unser Ziel ist Nevada Fields. Voraussichtlich hat der Cantaro dort sein Hauptquartier aufgeschlagen«, meinte Atlan.

Nevada Fields war historischer Boden. Von dort war Perry Rhodan im Jahr 1971 zu seiner Mondmission aufgebrochen. Ich fragte mich, ob es Zufall war, dass sich der Cantaro ausgerechnet an einem Ort eingenistet hatte, an dem Geschichte geschrieben worden war. Mirona Thetin kam mir in den Sinn, die versucht hatte, den Ablauf der Historie zu verändern. Falls der Cantaro ähnliche Pläne hatte, war Nevada Fields dafür jedenfalls ein guter Ausgangspunkt.

»Ich steuere zunächst Las Vegas an. Von dort nehmen wir die alte Verbindungspiste und nähern uns dem Raumhafen wie ein Bodenfahrzeug«, erklärte Atlan.

Wir überflogen die Berge der Sierra Nevada und die Mojave Wüste. Plötzlich hörte ich das Signal des Annäherungsalarms. »Zwei Raketen aus Nordosten«, meldete Denise Joorn.

Wieder Raketen, so wie in der Solaren Residenz. Das musste ein Hinweis auf den Cantaro sein.

»Der Startpunkt liegt vor uns, irgendwo in den Außenbezirken von Las Vegas«, sagte Denise.

»Eigentümlich«, meinte Atlan. Auch ich war verwundert. Las Vegas war eine Stadt der Unterhaltung gewesen. Abwehrbunker oder Raketenabschussrampen hatte es dort niemals gegeben, nicht einmal in der Spätzeit der LFT.

Atlan aktivierte die automatische Zielerfassung.

»Jetzt!« Atlan feuerte. Die erste Rakete explodierte. »Treffer. Nochmals.« Atlans Stimme war völlig ruhig und beherrscht. Es war eine Situation, wie er sie schon unzählige Male erlebt hatte.

Seine Ruhe war nicht gerechtfertigt. Die zweite Rakete konnte dem Schuss ausweichen.

Neuerlich erfasste die Zielautomatik den Flugkörper. Wieder löste Atlan einen Schuss aus. Abermals entkam die Rakete durch eine plötzliche Bahnänderung.

Es war unmöglich, sie noch ein drittes Mal mit der Zielautomatik zu erfassen. Sie war schon zu nahe. Sie raste auf uns zu – und zog an der Space-Jet vorbei. Offenbar war sie, als sie unseren Schüssen auswich, vom direkten Zielkurs abgekommen.

Knapp hinter uns explodierte das Geschoss. Die Explosion in unmittelbarer Nähe der Space-Jet brachte den Schutzschirm zum Flackern. Damit schien die Gefahr gebannt.

Plötzlich stieß Atlan einen arkonidischen Fluch aus und stellte auf Handsteuerung um. »Die Explosion hat irgendetwas mit der Bordautomatik gemacht. Es muss ein elektromagnetischer Impuls gewesen sein, der in die Programmintegrität eingegriffen hat. Die Steuerung reagiert nicht mehr zuverlässig. Wir können nicht weiter, bevor wir nicht einen Gesamtcheck des Systems durchgeführt haben.«

*

Atlan landete die Space-Jet in einem Vorort von Las Vegas. Auch diese Stadt bestand nur noch aus Trümmern und verfallenen Gebäuden.

Icho Tolot begann einen Systemcheck. Denise Joorn unterstützte ihn dabei. Wenn nötig, wollten die beiden auch Teile des Systems rebooten.

Leopold konnte es nicht lassen, anzügliche Bemerkungen über Denises Hinterteil von sich zu geben. Allerdings war diesmal Atlan anwesend. Und der Arkonide war nicht bereit, sich die peinlichen Äußerungen des Somer anzuhören. Er erklärte ihm, er solle gefälligst Belästigungen jeglicher Art unterlassen, sonst würde sich Atlan mit seinem Hinterteil befassen – aber nicht nur mit Worten. Daraufhin verzog sich Leopold schmollend.

Atlan und ich brachen auf, um uns in Las Vegas umzusehen.

Während des ersten Teils unserer Erkundungsmission verwendeten wir Antigravs, auch wenn damit eine gewisse Ortungsgefahr verbunden war. Auf diese Art kamen wir viel rascher vorwärts, als wenn wir zu Fuß gegangen wären. Wir schwebten immer knapp über dem Erdboden und nutzten jede Deckung aus.

Plötzlich hielt Atlan vor mir an und winkte mich zu sich. »Eine ganz leichte Energieortung, da vorne unter den Trümmern.« Er deutete auf die Reste eines Gebäudes. An der Außenwand des Gebäudes befand sich ein Schild, das nur mehr rudimentär erhalten war: »MEND … LASSI… MUSEUM« stand darauf.

»Sind da unten Leute in Schutzanzügen?«, fragte ich.

»Nein, schwächer. Eher ein Gerät im Bereitschaftsmodus«, antwortete Atlan.

»Sollen wir uns das ansehen?«

»Wir wissen nicht, was da unten in Bereitschaftsmodus ist. Es könnte etwas Nützliches sein. Oder etwas Gefährliches. Sehen wir nach.«

Vom Gebäude selbst standen nur noch Reste der Außenmauern. Nach kurzem Suchen fanden wir eine Treppenflucht, die noch gut erhalten war. Sie war nichts anderes als der Notausgang eines unterirdischen Parkdecks. Wir schalteten unsere Helmlampen ein und stiegen hinunter.

Das Parkdeck hatte die Zeit des Niederganges besser überstanden als die Gebäude an der Oberfläche. Damit ähnelten die Verhältnisse in Las Vegas denen in der Gobi. Auch dort überdauerten die unterirdischen Bunker die Zeit, während die anderen Bauwerke verfallen waren.

Das Parkdeck war voll besetzt. Doch es waren keine Gleiter, die wir dort fanden, sondern eigenartige Karren mit Rädern. Ich hatte derartige Gefährte bereits in historischen Hologrammen gesehen. Mit solchen Fahrzeugen hatte man sich auf Terra in der Zeit knapp vor Rhodans Mondflug fortbewegt.

Atlan, der die gesamte menschliche Geschichte miterlebt hatte, wusste natürlich, was das war. »Automobile«, sagte er. »Das ist ein Automobilmuseum.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte ich.

»Das stand auch auf dem Schild oben«, erläuterte Atlan. Dieser Mend …, wie immer er geheißen haben mag, war der Besitzer. Lassi …, das dürfte klassisch bedeuten, und welche Art von Museum das war, siehst du an diesen Geräten.«

Atlan ging zum ersten der Fahrzeuge. »Mit diesen Dingern konnte man durch die Gegend fahren«, setzte er fort. »Als sie Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt wurden, waren sie das schnellste Oberflächenfahrzeug, das man bis dahin auf Terra gekannt hatte.«

Er begann, die Fahrzeuge der Reihe nach zu untersuchen.

»Leider nicht mehr viel übrig.« Das erste der Automobile war durch Trümmer, die von der Decke herabgestürzt waren, beschädigt worden.

Das zweite wirkte ziemlich gut erhalten. Prüfend trat Atlan gegen den Rand eines der Räder und meinte: »Das haben wir zu meiner Zeit einen Platten genannt. Der Gummi des Reifens ist alt und spröde. Ohne neue Reifen fährt das Ding keinen Meter mehr. Und Reifen gibt es in dieser Zeit sicherlich nirgends.«

Atlan untersuchte auch die anderen Automobile. Bewundernd strich er mit seiner Hand über die Karosserie der Fahrzeuge. »Ich bin mit solchen Vehikeln gefahren. Früher, in einer ganz anderen Zeit.

Ich weiß noch, wie toll es war, in einem Kabrio über das Land zu fahren – das war ein Auto mit offenem Verdeck, den Arm um ein hübsches Mädchen gelegt, das neben dir sitzt, und dir den Fahrtwind durch das Haar streichen zu lassen. Das war Freiheit. Das war Vision.«

Ich hatte von dieser historischen Epoche bereits gelesen. Ich wusste auch, dass ganz verschiedene Völker auf Sauerstoffplaneten oftmals Fahrzeuge in ähnlicher Form entwickelten. Mit dem Lebensgefühl, das Atlan äußerte, konnte ich allerdings nicht viel anfangen. Der Fahrtwind in einem Gleiter konnte nicht allzu angenehm sein.

Während Atlan noch die abgestellten Autos prüfte, entdeckte ich am Ende der Halle ein Tor. Auf diesem stand: »Werkstatt. Kein Zutritt.« Die Energieortung meines Anzuges zeigte an, dass sich die gesuchte Energiequelle genau hinter dem Tor befand. Ich sah mir die Seiten des Tores an und entdeckte einen Hebel, der einen mechanischen Öffnungsmechanismus auslöste. Ich zog kräftig daran, und plötzlich klappte das Tor nach oben. Dahinter befand sich etwas, das mir vertrauter war als die historischen Automobile: ein Gleitertruck. »Hallo, Atlan«, rief ich über die Schulter, »ich habe etwas gefunden.«

Der Truck war die Energiequelle gewesen, die wir die ganze Zeit geortet hatten. Irgendwo war die Abschirmung seiner Batterien undicht geworden, aber sonst war er noch funktionsfähig. Die eigentliche Sensation befand sich jedoch im Laderaum des Gefährts.

»Das ist ein 1976er Ford Mustang GTB 500«, rief Atlan begeistert aus. »Das war eines der letzten Automobile, das auf Terra in Serie ging. Damals war Rhodan bereits seit fünf Jahren von seiner Mission auf dem Mond zurückgekehrt. Zu dieser Zeit existierten bereits die ersten Fabriken der GCC zur Erzeugung von Gleitern, vor allem in Asien, aber auch an einigen Stellen in Amerika. Es gab aber noch genügend Straßen, die für den Verkehr von solchen Fahrzeugen geeignet waren, nicht nur Gleiterpisten wie in späteren Zeiten. Und so wurden noch bis ins Jahr 1983 oder 1984 neue Autos gebaut.«

»Nostalgische Erinnerungen?«, fragte ich.

»Historische Recherche. Als das 1976er Modell gebaut wurde, war ich bereits in meiner Kuppel im Tiefschlaf.«

Atlan hatte sich vor den Wagen hingehockt und eines der Räder geprüft: »Dieser Wagen ist sogar noch fahrtüchtig. Das ist Melavit, ein Kunststoff, der in dieser Spätzeit der Automobile den Kautschuk bei der Herstellung von Reifen abgelöst hatte. Dieses Material kann sehr lange Zeiträume ohne Alterung überstehen.«

Atlan erläuterte mir noch das Material der Sitze, untersuchte den Motor und die Armaturen. Als er schließlich in den Kofferraum blickte, stieß er einen Schrei der Begeisterung aus: »Benzin.«

Im Kofferraum befand sich ein unförmiger Behälter. Atlan erklärte: »Das ist ein Patentkanister. Normalerweise hätte sich nämlich dieser Treibstoff schon längst verflüchtigt. Doch mit diesen Kanistern, die luftdicht verschließbar waren, konnte das Benzin auch lange Zeiträume überdauern.« Er grinste mich an: »Weißt du was: Wir fahren standesgemäß in Las Vegas ein, mit diesem Auto.«

Meine spontane Antwort kam schnell: »Du spinnst.«

Doch manchmal war es sehr schwer, den Arkoniden von einer anderen Meinung zu überzeugen. Er nannte zahlreiche gute Gründe, warum wir den Wagen für die Fahrt nach Las Vegas benutzen sollten: Er war schwerer zu orten als die Aggregate unseres Anzuges, da er mit chemischer Energie betrieben wurde; wir kamen mit ihm schneller vorwärts, als zu Fuß – und wenn wir Glück hatten, verwendeten auch Einheimische solche Fahrzeuge, und wir fielen damit weniger auf.

Kurze Zeit später half ich Atlan, die Rampe zum Ausgang freizuräumen. Dann betankte Atlan den Ford Mustang mit dem gefundenen Benzin. Am Tor zur Oberfläche fand ich denselben Öffnungsmechanismus wie am Tor zur Werkstatt. Atlan setzte sich ans Steuer, ich auf den Beifahrersitz. Mit einem Gefährt aus dem zwanzigsten Jahrhundert fuhren wir in das verfallene Las Vegas ein.

*

Wir fuhren über eine Gleiterpiste aus gehärtetem Kunststoff. Atlan steuerte souverän. Immer wieder musste er umher liegenden Bruchstücken und Stellen ausweichen, an denen der Pistenbelag aufgebrochen war. Für mich war es interessant, mit einem Fahrzeug zu fahren, das direkten Bodenkontakt hatte und in dem man mit seinem Gesäß die Unebenheiten der Straße spüren konnte.

Plötzlich begann Atlan zu singen:

If you ever plan to motor west,
Travel my way, take the highway that’s best.
Get your kicks on route sixty-six.
It winds from Chicago to L.A.,
More than two thousand miles all the way.
Get your kicks on route sixty-six …

*

Ich kannte die Sprache. Es war eine altterranische Sprache, jene Sprache, die das alte Interkosmo des Solaren Imperiums am stärksten beeinflusst hatte. Und ich hatte den Song schon einmal gehört.

»Dein musikalischer Tag heute?«, fragte ich.

»Ich bin einfach nur fröhlich. Ich denke an alte Zeiten. Früher bin ich mit solchen Straßenkreuzern gefahren. In der Zeit, bevor Rhodan vom Mond zurückkehrte und ich in meine Kuppel flüchtete.«

»Ich kenne solche Gefährte ebenfalls. Aus geschichtlichen Holos«, antwortete ich.

»Das ist nicht dasselbe. Für mich ist der Großteil der terranischen Geschichte persönliche Geschichte. Ich hatte in jeder Epoche der Geschichte Menschen, die mir persönlich nahe standen. Und ich habe Erinnerungen, die mich mit jeder Epoche verbinden.

Die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg, als wir begannen, solche Straßenkreuzer zu bauen, war eine optimistische und positive Epoche. Eine Epoche des Aufbruchs. Die späten fünfziger und frühen sechziger Jahre sind für mich mit guten Erinnerungen verbunden.«

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Es wäre interessant zu wissen, wie sich die Geschichte weiter entwickelt hätte, wenn Perry unseren Raumer auf dem Mond nicht gefunden hätte.«

Wieder einmal wurde mir bewusst, wie alt Atlan eigentlich war und wie viel er erlebt hatte. Er war viel älter als jeder andere der Unsterblichen.

»Weißt du, …«

Plötzlich knallte es und die Scheibe vor mir wurde von unzähligen Sprüngen durchzogen. Wir hatten keine Sicht mehr. Atlan riss am Steuer und der Wagen dreht sich nach links. Ich spürte die Fliehkraft, die mich gegen die Seitentür presste. Als der Wagen stand, öffnete ich sie und rollte mich zum Straßenrand, wo ich hinter einem aufragenden Mauerteil zum Liegen kam.

Der Ford Mustang stand nun quer zum Verlauf der Straße. Von mehreren verschiedenen Stellen vor uns wurde mit alten Projektilwaffen auf den Wagen geschossen.

Atlan hatte sich ebenfalls hinter den Resten eines Gebäudes verschanzt und gab einige Schüsse in Richtung der vor uns liegenden Schützen ab. Sofort wurde sein Standort zum Ziel der Angreifer. Als sich einer von ihnen zu weit vorwagte, konnte ich ihn mit einem gezielten Schuss meines Paralysators außer Gefecht setzen. Er fiel, für alle sichtbar, leblos aus seiner Deckung heraus. Kurz darauf sackte ein weiterer Angreifer zusammen. Diesmal war es Atlan, der getroffen hatte. Danach konnte ich in den Ruinen vor uns Bewegung erkennen. Anscheinend setzten sich die Angreifer ab. Trotzdem feuerte Atlan weiter auf sie. Noch zweimal sah ich Menschen stürzen, die von Atlans Paralysator getroffen wurden. Danach war der Rest der Angreifer im Trümmerfeld verschwunden.

7.

Wir sammelten die bewusstlosen Körper unserer Angreifer ein und legten sie an einem Ort zusammen. Zum ersten Mal konnten wir sie uns näher ansehen. Sie hatten unterschiedlichste Hautfarben und wahllos zusammengewürfelte Kleidung. Allen war gemeinsam, dass sie Stirnbänder trugen, an denen sie Vogelfedern verschiedenster Art befestigt hatten. Offenbar ahmten sie Ureinwohner des amerikanischen Kontinents nach.

Atlan verabreichte einem der Betäubten ein Injektionspflaster, um ihn schneller aufzuwecken. Zu mir sagte er: »Wenn es Probleme gibt, bin ich der böse Bulle und du der gute Bulle.« Wieder einmal das alte Spiel.

Langsam erlangte der Pseudo-Indianer sein Bewusstsein wieder. Wütend blickte er uns an.

»Was sollte dieser Angriff?«, fragte ihn Atlan.

»Ihr seid die Angreifer. Ihr seid in unser Gebiet eingedrungen. Diese Stadt gehört uns.«

»Und da müsst ihr gleich auf jeden schießen?«, fragte Atlan. »Hätte Fragen nicht auch genügt?«

»Fremde sind Feinde!« Wenn alle Einwohner dieser Stadt solche Meinungen vertraten, konnte es noch richtig gemütlich werden.

»Wer ist denn der Bürgermeister oder Anführer dieser Stadt?«, fragte Atlan weiter.

»Wartet nur, bis euch Attithorn erwischt. Der hat auch Blitzwaffen. Der wird euch fertigmachen.« Offenbar hatte unser Gefangener noch nie etwas davon gehört, dass man Informationen vor dem Gegner zurückhalten musste. In seinem Zorn sprudelte er die Hinweise nur so heraus, ohne dass wir irgendeine Verhörmethode anwenden mussten.

Dass wir bereits hier auf Gegner mit Energiewaffen stießen, war allerdings nicht erfreulich. Zugleich konnte es ein Hinweis sein, dass diese Gestalten mit dem Cantaro in Verbindung standen. Auch in Asien hatten nur jene Insektoiden über Energiewaffen verfügt, die mit dem Cantaro unmittelbar zusammenarbeiteten.

»Und wo finden wir diesen Attithorn?«, fragte Atlan.

»Nicht ihr werdet ihn finden, er wird euch finden«, stieß der Verhörte hervor.

»Wenn du uns die Richtung zeigst, können wir schneller zu Attithorn gelangen. Dann kann er uns schneller fertigmachen. Das spart uns und ihm Zeit«, sagte Atlan zum Gefangenen.

Ich hätte nie gedacht, dass diese Logik ziehen könnte. Unserem Gefangenen hingegen schien dieses Argument einzuleuchten. Er zeigte in jene Richtung, in die die Angreifer geflohen waren. »Dort ist er«, meinte er, »und beeilt euch, denn solche wie euch gehören schnell erledigt.«

Irgendwie musste die Verdummung, die unter den Oberflächenbewohnern in Asien herrschte, auch hier ganz schön zugeschlagen haben.

*

Bedauernd betrachtete Atlan das ausgebrannte Wrack des Ford Mustang. »Schade drum«, meinte er, »es war ein schöner Ausflug in die Vergangenheit. Einen wie den finden wir hier wohl nicht mehr.«

Wir unterwiesen den Erwachten kurz in der Behandlung von Paralysierten und ließen ihn dann bei seinen bewegungslos daliegenden Gefährten zurück. Nun bewegten wir uns in die Richtung weiter, die er uns gewiesen hatte.

Bald beantwortete sich die Frage, in welche Richtung wir weiter vorstoßen sollten, von selbst. Mein Handscreen zeigte an, dass irgendwo vor uns eine starke Energiequelle hochgefahren wurde. Das war kein Gerät im Bereitschaftsmodus, wie hinten im Automobilmuseum. Vor uns musste jemand ein Energiegeschütz oder einen bodengebundenen Energieschirm aktiviert haben. Damit war das Ziel unseres weiteren Vorstoßes klar.

Dann hielt Atlan unvermittelt an und drückte sein Ohr gegen den Boden. »Pferde«, meinte er, »irgendjemand nähert sich uns auf Pferden.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte ich. »Spricht der Boden zu dir, wenn du dich an ihn schmiegst?«

»Alte Indianertaktik«, antwortete Atlan. »Auch bei ihnen habe ich einige Zeit verbracht und ihre Tricks gelernt. Physikalisch ist es so: Wenn du dein Ohr gegen den Boden presst, kannst du die Schallwellen aufnehmen, die die Hufe der Pferde im Boden verursachen.«

Atlan wollte mit den Reitern reden. Er suchte sich einen Platz, der halbwegs frei von Trümmern war, und wartete dort. Ich sollte ihm Rückendeckung geben. Zu diesem Zweck suchte ich ein Wandstück, das ein wenig emporragte. Über einen Geröllberg kletterte ich hinauf und wählte mir einen Standplatz, an dem ich Deckung und guten Ausblick auf die Stelle hatte, an der Atlan stand. Der einzige Nachteil war, dass ich auf einem ziemlich schmalen Sims balancieren musste.

Nach kurzer Zeit tauchten am anderen Ende des Platzes drei Reiter auf. Atlan zeigte sich und rief sie an: »Sucht ihr etwas?«

Der erste Reiter forderte den Arkoniden auf: »Ergib dich und wirf deine Waffen fort. Dann werden wir dir nichts tun!«

Atlan antwortete: »Ich komme in Frieden. Ich will mit euch reden. Aber meine Waffen gebe ich euch nicht.«

Sein Gesprächspartner erwiderte: »Widerstand ist zwecklos. Hier haben wir das Sagen. Ich werde bis fünf zählen. Dann musst du die Waffen vor dich hingeworfen und deine Hände über den Kopf gehoben haben. Sonst holen wir dich.«

Demonstrativ resignierend meinte Atlan: »Ihr wollt unbedingt Prügel beziehen.«

Der Anführer zählte. Atlan stand einfach locker da und tat nichts. Nachdem der Anführer ausgezählt hatte, geschah zunächst für zwei Sekunden nichts. Dann stieß er einen wütenden Schrei aus, bellte einen Befehl und seine Begleiter warfen zwei Speere in Atlans Richtung. Der Arkonide hatte keine Probleme, den Wurfgeschossen auszuweichen. Dann gab der Anführer seinem Pferd die Sporen und ritt frontal auf Atlan zu, wobei er ein wildes Kriegsgeheul ausstieß. Er hatte eine Waffe in der Hand, die aus einem eckigen Stahlstück bestand, das an einer Kette befestigt war und das er kreisen ließ. Ich kannte derartige Waffen. In Holos über die Ritterzeit wurden sie Morgenstern genannt.

Die mit metallenen Stacheln besetzte Kugel wirkte nicht professionell, aber gefährlich. Offensichtlich hatte sie sich der Reiter selbst gebastelt.

Atlan ließ sich von der Tatsache, dass ein Angreifer im Galopp auf ihn zuritt, nicht aus der Ruhe bringen. Er drehte ihm einfach den Rücken zu und beschäftigte sich in Nerven aufreibender Ruhe mit einem der beiden auf ihn geworfenen Speere. Er prüfte die Schärfe der Spitze, indem er mit dem Zeigefinger drauftippte, und die Bruchfestigkeit des Schaftes, indem er versuchte, ihn über das Knie zu brechen. Mit den Ergebnissen schien er zufrieden zu sein.

Atlans Ruhe machte mich ungeheuer nervös. Der berittene Krieger war schon viel zu nah. Atlan schien das auf die leichte Schulter zu nehmen und sich mit dem Angreifer lediglich einen Spaß machen zu wollen. Ein gefährlicher Spaß! Vorsorglich nahm ich den Angreifer ins Visier meines Paralysators.

Dann ging alles sehr schnell. Nicht einmal ich, der ich Atlan schon sehr lange kannte, konnte allen seinen Bewegungen folgen. Offenbar hatte er genau auf den Angreifer geachtet. Blitzschnell hatte er sich umgedreht und es irgendwie geschafft, dass sich die Kette des Morgensterns in seinem Speer verhedderte. Dann riss er den Angreifer, der noch immer seine Waffe festhielt, vom Pferd.

Der Arkonide hatte nicht nur die Zeit der Indianer auf Terra mitgemacht, sondern auch die Zeit der Ritter. Er wusste, wie man jemanden, der einen Morgenstern schwang, vom Pferd riss.

Der Angreifer hatte vorläufig genug. Er blieb einfach liegen. Sein Pferd war weitergelaufen und blieb nun in sicherer Entfernung stehen.

Dafür wurden die beiden anderen Reiter aktiv. Sie stießen ein Kriegsgeheul aus und ritten gleichzeitig auf Atlan zu.

Deutlich entspannter als vorher harrte ich der Dinge, die kommen würden. Auch für diese Angreifer würde sich Atlan etwas Originelles einfallen lassen. Ich fragte mich nur, weshalb er sich das antat. War das seine Art von Morgengymnastik?

*

Die beiden Reiter griffen gleichzeitig an. Sie sprengten mit gesenkten Speeren auf Atlan zu und nahmen ihn in die Zange. Atlan hatte den erbeuteten Speer in der Mitte gefasst und ließ ihn nun wie einen Propeller vor seinem Körper rotieren.

Knapp vor Atlan änderten beide plötzlich ihre Richtung. Der Reiter rechts von Atlan wich ein wenig nach links aus, während der andere plötzlich voll auf den Arkoniden zuritt. Er wollte ihn offenbar nicht aufspießen, sondern einfach niederreiten.

Im letzten Augenblick sprang Atlan beiseite, so dass er wieder zwischen den Reitern zu stehen kam. Dann stieß er jenem Reiter, der direkt auf ihn zugeritten war, das stumpfe Ende seines Speers in den Magen. Der Bewegungsimpuls des Angreifers ließ Atlan in die Knie gehen, doch zugleich rammte der Arkonide die Spitze des Speers in den Boden und hebelte den Angreifer einfach aus dem Sattel. Vom eigenen Schwung getragen, flog dieser in einem Halbkreis über ihn hinweg. Atlan dirigierte das Speerende ein wenig nach links, wodurch die Flugbahn des Angreifers eine neue Richtung bekam: Er klatschte voll auf das Hinterteil des Pferdes seines Partners, das bereits im Galopp an Atlan vorbeigelaufen war. Das Tier knickte hinten zur Seite, stolperte und überschlug sich. Sein Reiter flog in hohem Bogen aus dem Sattel.

Der Effekt der Aktion war beeindruckend: Beide Reiter lagen am Boden und waren, so wie zuvor der erste Angreifer, für längere Zeit außer Gefecht gesetzt. Das gestürzte Pferd rappelte sich auf und trottete etwas wackelig zum Rand des Platzes, wo es bereits von seinen beiden Gefährten erwartet wurde. Nur der Arkonide stand wieder unbeeindruckt an seinem Platz.

*

Ich hatte von meinem erhöhten Standort aus einen guten Ausblick auf den Kampfplatz. Atlan ging zum ersten der gestürzten Reiter, der sich inzwischen zumindest aufgesetzt hatte. Keiner der drei machte den Eindruck, als ob von ihm in den nächsten Minuten irgendeine Gefahr ausgehen würde.

Wir fühlten uns den jämmerlichen Gestalten in der Trümmerstadt unendlich überlegen. Das war ein Fehler.

Plötzlich wurden mir die Beine unter dem Körper weggerissen. Während ich mich auf das Kampfgeschehen konzentriert hatte, hatte sich unbemerkt ein Typ an mich herangeschlichen, meine Stiefel in Höhe der Sprunggelenke gepackt und vom Sims weggezogen.

Ich sah den steinernen Rand auf mich zukommen und riss die Hände vor das Gesicht. Ich schlug auf, und dann begann eine Rutschpartie über den Geröllberg, über den ich heraufgeklettert war, zum Bodenniveau hinunter. Unten blieb ich benommen liegen.

Vor mir landete eine langhaarige Gestalt. In der linken Hand hielt der Angreifer ein Messer von beachtlicher Größe.

Noch während er seinen Sprung abfederte, änderte der Angreifer seine Richtung und hechtete geduckt auf mich zu. Er wollte mich einfach aufschlitzen, gleich während des Sprunges. Mich retteten zwei Fakten: Er hatte kein Vibromesser und ich trug einen leichten Schutzanzug. Er kam mit seinem Messer einfach nicht durch das Gewebe meines Anzuges durch.

Blitzschnell wendete ich meinen Kopf zur Seite, damit er mich nicht im Gesicht erwischte. Dann kam ich zum Zug. Ich gab ihm mit den gestreckten Beinen, noch während ihn der Schwung seines Sprunges in meine Richtung trug, einen kräftigen Tritt, so dass er über mich hinwegsegelte. Dann rollte ich mich auf den Bauch und hockte mich auf. Als sich der Langhaarige wieder mir zuwandte, sprang ich ihn noch aus der Hocke an und rammte ihm meinen Kopf ans Kinn. Er ging nochmals zu Boden. Das gab mir Zeit, endgültig auf die Füße zu kommen. Dann zeigte ich ihm, was ich in der Nahkampfausbildung gelernt hatte, platzierte einen Faustschlag genau auf seinem KO-Punkt und schickte ihn ins Land der Träume.

*

Ich hatte keine Ahnung, wie es inzwischen Atlan ergangen war. Jedenfalls konnte ich ihm von diesem Platz keine Rückendeckung geben. Auf meinen Aussichtsturm zurückzukehren, würde zu lange dauern.

Immer auf Deckung achtend, rannte ich in die Richtung von Atlans letztem Standort. Endlich erreichte ich eine Lücke zwischen den Trümmern, von der ich Ausblick auf den Kampfplatz hatte. Ich sah als erstes, dass der Arkonide auf dem Boden lag. Eine Art Bola hatte sich um seine Füße gewickelt und ihn zu Fall gebracht. Ein Angreifer, dessen Frisur aus einem auffallenden pinkfarbenen Sichelkamm bestand, stürzte auf ihn zu. Er war sicherlich über zwei Meter groß. Mit beiden Händen hielt er einen kleinen Felsbrocken über den Kopf und stieß dazu ein schauerliches Kriegsgeheul aus.

Atlans Lage wurde dadurch verschlimmert, dass ein zweiter Angreifer auf seinem rechten Arm kniete und diesen zu Boden drückte. Die Waffe war ihm bereits aus der Hand geschlagen worden und lag nutzlos im Sand. Er hatte nur eine Hand frei, um den tobenden Angreifer abzuwehren.

Die Situation zu sehen und zu reagieren war für mich eins. Ich hatte bereits den Paralysator gehoben, zielte auf den Sichelhaarigen und drückte ab. Ich traf ihn in vollem Lauf. Plötzlich erstarrte er. Während seine Beine vom Boden gebremst wurden, wirkte der Bewegungsimpuls seines Oberkörpers unvermindert weiter und zwang ihm eine halbkreisförmige Bewegung auf, die seinen Oberkörper mit voller Wucht in Richtung des Bodens steuerte. Irgendwie sah das Ergebnis meines Schusses sehr zufriedenstellend aus.

Ich erwartete einen spektakulären Aufprall des pinkhaarigen Riesen. Dann wurde mir bewusst, dass ich etwas Wichtiges übersehen hatte. Es traf mich wie ein Schock, da ich keine Chance hatte, jetzt noch etwas zu tun. Fast in Zeitlupe hatte der Felsbrocken die Hände des Angreifers verlassen und war seiner eigenen Bahn gefolgt. Und diese führte genau an jene Stelle, an der sich Atlans Kopf befand.

Blitzschnell rollte sich der Arkonide in Richtung des zweiten Angreifers, der noch immer auf seinem rechten Arm kniete und fassungslos in die Richtung seines stürzenden Gefährten blickte. Atlan nutzte seine Ablenkung aus und knallte ihm die Faust seitlich gegen das Kinn. In diesem Augenblick schlug der Felsbrocken dort auf, wo sich zuvor der Kopf des Arkoniden befunden hatte. Ich fühlte mich nicht besonders wohl.

Der zweite Angreifer kam durch Atlans Schlag aus dem Gleichgewicht und Atlan konnte seinen Arm unter ihm hervorziehen. Der Arkonide schlug nochmals zu, diesmal mit beiden Händen. Als der Angreifer zurücktaumelte, konnte ich auch ihn ohne Gefahr paralysieren. Danach bestrich ich sicherheitshalber auch noch die drei Reiter mit dem Strahl des Paralysators.

»Was war los?« fragte ich Atlan, nachdem ich hinter meiner Deckung hervorgekommen war.

»Hey, du schaust übel aus!« begrüßte mich Atlan.

In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass etwas Feuchtes über meine Wange rann. Ich wischte mir über das Gesicht und sah, dass meine Hand rot gefärbt war. Blut.

»Vorher hat mich ein Typ aus dem Hinterhalt angegriffen«, erklärte ich.

Offensichtlich hatte ich, als mich der Langhaarige mit seinem Messer angegriffen hatte, den Kopf nicht schnell genug zur Seite gedreht. Es war ihm gelungen, meine Wange aufzuritzen. Jetzt wurde mir auch bewusst, dass die rechte Hälfte meines Gesichts höllisch brannte. Mist.

»Früher hätte das bedeutet, dass dich für den Rest deines Lebens eine schöne Narbe ziert«, meinte Atlan.

Ich hatte mich auf einen Stein gesetzt. Atlan begann, mein Gesicht zu versorgen.

»Ich war abgelenkt. Was war eigentlich bei dir los?«, fragte ich.

»Ich war abgelenkt«, äffte mich Atlan nach. »Eine schöne Rückendeckung bist du, die haben mich ganz schön in die Mangel genommen.«

»Na ja, du hast eine tolle Show hingelegt«, meinte ich. »Du weißt, wer sich in Gefahr begibt, und so …«

»Was war das Letzte, was du gesehen hast?«, fragte Atlan und kam damit auf das frühere Thema zurück.

»Wie du die beiden Reiter zu Fall gebracht hast und dann zwischen ihnen herumstolziert bist.«

»Ich bin nicht herumstolziert, ich habe das Gelände gesichert«, verbesserte Atlan, offenbar um historische Wahrheit bemüht. Dann begann er zu erzählen: »Der Kerl mit dem Sichelkamm ist wirklich gut. Irgendwie ist es ihm gelungen, sich während des Kampfes an mich anzuschleichen. Dort oben«, – Atlan deutete auf ein Trümmerstück, das in der Nähe in die Höhe ragte – »hat er gewartet. Als ich in seine Reichweite kam, ist er plötzlich heruntergesprungen. Er hat mich vollkommen überrascht. Ich habe die Bewegung eigentlich nur aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Immerhin hat es gereicht, dass ich ihm zumindest ein wenig auszuweichen konnte und so nicht die volle Wucht des Angriffes abbekam. Trotzdem, der Bursche ist wirklich gut, denn um mich zu überraschen, muss man gut sein.«

»Und der andere?«, fragte ich.

»Ich benötigte meine gesamte Aufmerksamkeit, um den Sichelkopf abzuwehren. Immerhin war ich von Anfang an in der Defensive. Es muss ihm relativ leicht gefallen sein, mich zu überraschen. Ich hatte gerade den Paralysator gezogen, um die Situation mit unserem pinkfarbenen Freund zu bereinigen, als mich die Bola an den Beinen traf und zu Boden warf. Dann stürzte der andere hervor, trat mir den Paralysator aus der Hand und drückte meine Schusshand zu Boden. Und dann bist du dazugekommen.«

»Was machen wir mit ihnen?«, fragte ich.

»Das, was wir mit den anderen auch gemacht haben. Wir legen sie in eine Reihe, und sehen zu, dass wir möglichst weit weg sind, wenn sie aufwachen.«

Das taten wir dann auch. Als wir den Platz verließen, auf dem der Kampf stattgefunden hatte, blickte Atlan noch einmal zurück. »Diese Kerle habe ich nicht gerne im Rücken«, sagte er.

»Haben wir andere Handlungsoptionen?«, fragte ich.

Atlan seufzte. »Wir gehören zu den Guten. Jedenfalls glauben wir das. Da können wir nicht einfach jeden beseitigen, der eine potentielle Gefahr darstellt.«

8.

»Übergebt uns die Basis. Dann werden wir euch anständig behandeln. Eure Frauen bekommen anständige Männer. Und ihr bekommt ein anständiges Begräbnis.«

Der Typ, der dieses verlockende Angebot in ein Megaphon brüllte, war offensichtlich ein Topsider.

Wir hatten den Ort erreicht, an dem wir die starke Energiequelle geortet hatten. Nun beobachteten wir von einem versteckten Aussichtspunkt die Szenerie.

Vor uns lag eine Versorgungsbasis der LFT. Die Basis wurde von einem Energieschirm geschützt. Dieser Energieschirm war auch die Quelle der Emissionen, die wir geortet hatten.

Vor der Basis hatte eine Gruppe von heruntergekommen aussehenden Kämpfern einige auf Lafetten befestigte Energiegeschütze aufgefahren. Bis vor kurzem hatten sie damit auf den Energieschirm geschossen. Nun hatten sie eine Kampfpause eingelegt, und der Topsider, offenbar der Anführer, hatte sein Friedensangebot in das Megaphon gebrüllt.

Unwillkürlich fragte ich mich, wie ein Topsider hierher kam. Dieses grüne Universum, in das wir geraten waren, endete an den Grenzen des Sonnensystems. Bis Topsid reichte es keinesfalls.

Nun folgte die Antwort auf das Friedensangebot. Irgendwer rief hinter dem Energieschirm in einen Lautsprecher: »Du bist ein blödes Arschloch, Attithorn. Du bist noch viel blöder, als du aussiehst. Glaubst du im Ernst, dass man so Verhandlungen führen kann?«

Also war der Topsider jener Attithorn, von dem uns der Gefangene erzählt hatte. Auch seine Behauptung, Attithorn würde Energiewaffen besitzen, entsprach den Tatsachen, wie wir bereits gesehen hatten.

Nun war wieder Attithorn am Zug. Wütend stampfte er mit dem Fuß auf und schrie ins Megaphon: »Ich habe gewusst, dass ihr zu blöd seid, ein gutes Angebot zu erkennen. Ich hätte nie mit euch verhandelt. Das war nur Manitus Befehl. Aber ihr seid dafür zu blöd. Wir werden jetzt eure Basis stürmen, euch kochen und verspeisen, euch die Haut bei lebendigem Leib abziehen, euch am Hals aufhängen, bis ihr tot seid, und euch fertigmachen, dass ihr bereuen werdet, überhaupt geboren worden zu sein. Genau das werden wir tun!«

Der Sprecher hinter dem Energieschirm fragte: »Werdet ihr auch die Reihenfolge einhalten?« Diese Frage hatte Attithorn mit seiner Aufzählung wirklich provoziert.

Mit seinen nächsten Äußerungen bewies Attithorn, dass auch mein Wortschatz noch ausbaufähig war, jedenfalls auf dem Gebiet der Schimpfwörter und Flüche. Allerdings war ebenso offensichtlich, dass er seine Grammatik, sofern seine Äußerungen überhaupt einen Satzbau hatten, noch deutlich verbessern musste.

»Der Topsider hat vorher diesen Manitu erwähnt«, sagte ich zu Atlan. »Ich meine denjenigen, auf dessen Befehl er die Verhandlungen überhaupt begonnen hat. Das dürfte ein Anführer sein, der Attithorn übergeordnet ist.«

»Der große Manitu war der große Geist der Indianer«, erklärte Atlan. »Er war jenes Wesen, das bei den Indianern einem Gott am nächsten kam. Erinnert dich das an etwas?«

»Du meinst, an den Ewigen Hüter?«

»Genau. Bescheidenheit war kein herausragendes Charakteristikum des Cantaro. Vielleicht hat er sich auch hier eine derartige Rolle zugelegt.«

»Sickern wir bei Attithorn ein?«, fragte ich. »Oder nehmen wir besser mit der Gruppe innerhalb des Schutzschirms Verbindung auf?«

»Was ist deine Meinung?«, fragte Atlan zurück.

»Wenn die Leute aus Attithorns Gruppe ähnlich reagieren wie ihr Anführer, ist das Risiko eines Einsickerns zu groß«, antwortete ich. »In der geistigen Verfassung, in der sie sind, kann man nicht erkennen, was ihnen im nächsten Augenblick einfällt. Wenn man das Gespräch vorher als Maßstab nimmt, scheinen mir die Leute in der Versorgungsstation über mehr Intelligenz zu verfügen.«

»In Ordnung. Ich wollte nur meine Meinung bestätigt haben«, antwortete Atlan.

»Und hast du schon einen Plan, wie wir hineinkommen?«, fragte ich.

»Ich habe jedenfalls interessante Ortungsergebnisse«, meinte Atlan. Er zeigte auf den Handscreen, auf dem die Ergebnisse unserer Ortungssonden abgebildet waren. »Hier in der Nähe ist ein langer, gerader Hohlraum, der direkt zur Basis unter dem Energieschirm führt. Das kann ein Abwasserkanal, ein Lüftungsschacht oder ein Geheimgang sein. Jedenfalls etwas, das wir uns ansehen sollten.«

*

Wir kamen zu der Stelle, an der nach den Ergebnissen von Atlans Ortung der Gang unter uns endete. Es sah hier genau so aus wie an jedem anderen Ort der Trümmerwüste. Wir sahen uns eine Weile um. Schließlich bat Atlan: »Komm, hilf mir einmal!« Er stand bei einer umgestürzten Mauer und hantierte an einem Felsen, der dagegen gelehnt war. Gemeinsam schafften wir es, den Felsblock zu bewegen. Darunter wurde eine Spalte sichtbar, durch die ein Mensch gerade hindurchpasste. Atlan leuchtet hinein. »Scheint ziemlich tief zu sein«, meinte er. »Komm, probieren wir es.«

In der Art von Kaminkletterern – Arme und Beine gegen die Wandungen gestemmt – stiegen wir in einen Schacht, der fast fünf Meter vertikal nach unten reichte. Danach war ein Gang erkennbar, genauso, wie es die Ortungsergebnisse gezeigt hatten. Als wir unten angekommen waren, wurde es über uns plötzlich dunkel. Ich leuchtete nach oben und sah, dass der Felsbrocken über den Eingang zurückgerutscht war.

»Der Eingang ist wieder zu«, sagte ich zu Atlan.

»Das ist nicht von alleine passiert«, sagte Atlan. »Jemand hat am Eingang eine Schließautomatik angebracht. Das bedeutet, dass wir hier richtig sind.«

Ich setzte wieder die Infrarotbrille auf. Zunächst war im Gang nichts Erwähnenswertes zu sehen, außer einigen Bruchstücken, die von der Decke gefallen waren. Wir gingen hinein.

Plötzlich ertönte vor uns eine Stimme: »Seht euch an, welche Ratten Attithorn zu uns geschickt hat. Bleibt schön ruhig stehen, macht keine Bewegung, sonst kommt ihr aus dieser Falle nicht mehr heraus.«

Vor uns lagen mehrere Deckenfragmente, die eine Barriere bildeten. Doch diese Sperre war offenbar nicht natürlich gebildet worden. Und noch weniger natürlich waren die Läufe von Energiewaffen, die über die Blockade hinweg auf uns gerichtet waren.

»Wir kommen in Frieden!«, rief Atlan.

»Glauben wir euch gerne. Dann legt mal schön friedlich eure Waffen vor euch auf den Boden«, tönte es über die Barriere zu uns.

Demonstrativ langsam zogen wir unsere Strahler aus den Holstern und legten sie vor uns. Wenigstens hatten wir in unseren Gürteln, Stiefeln und an einigen verborgenen Stellen unserer Anzüge noch Waffen versteckt, mit denen wir uns jederzeit unserer Haut wehren konnten.

»Das war direkt vernünftig«, hörten wir dieselbe Stimme sagen. »Kommt jetzt schön langsam und mit erhobenen Händen zu uns herüber.«

Wir befolgten den Befehl. Zugleich rief Atlan: »Wir wollen mit euren Anführern sprechen!«

»Das könnt ihr haben, und zwar schneller, als euch lieb ist«, kam prompt die Antwort.

*

Die Absperrung reichte bis zur halben Höhe des Ganges. »So, und jetzt klettert ihr schön herüber«, sagte die Stimme, »schön einer nach dem anderen.« Atlan stieg zuerst hinauf. Als die Stimme sagte: »So, und nun der Zweite«, kam ich nach. Auf der anderen Seite standen, aufgereiht an der linken und der rechten Gangseite, je drei Bewaffnete. Sie hielten zu einander einen Abstand von je fünf Metern, damit sie bei einem Überraschungsangriff niemand gleichzeitig ausschalten konnte. Ihre Energiewaffen waren auf uns gerichtet.

»So, jetzt bliebt mal schön stehen«, sagte der zweite Mann von links. Er kam hervor zur Barriere, kletterte über sie hinweg und kam kurze Zeit später zurück. »Schöne Waffen habt ihr«, sagte er. Dann befahl er: »So, und jetzt werdet ihr uns ganz brav begleiten. Toby und Arno gehen vor euch her, und ihr geht ihnen einfach nach. Ihr bleibt immer brav fünf Meter hinter ihnen, und kommt ihnen nicht näher. Wir wollen doch nicht, dass es zu Missverständnissen kommt, oder? Und wir passen hinter euch auf, dass nichts passiert.« Der Anführer legte offenbar auf einen gewissen Sicherheitsabstand wert, damit wir nicht die Chance bekamen, eine Geisel zu nehmen.

Der Gang zog sich noch einige Zeit dahin. Mein Orter zeigte verschiedene verborgene Energiequellen an. Einige Male gab der Anführer Befehle, bestimmten Stellen auszuweichen. Anscheinend waren hier für jeden Eindringling unangenehme Überraschungen versteckt.

Vielleicht war es ein Glück gewesen, dass uns diese Gruppe aufgelauert hatte. So kamen wir viel schneller vorwärts und ersparten uns viel Arbeit beim Entdecken und Entschärfen von Fallen. Arbeit, die Attithorns Leute, falls sie den Gang je entdeckten, noch vor sich hatten.

Nach einer halben Stunde erreichten wir die eigentliche Station. Der Anführer betätigte einen verborgenen Schalter. Danach war der Gang hinter uns durch einen Energieschirm abgeschottet. Er ging zu einem Komgerät und meldete: »Mortero hier. Diesmal kein durch Ratten ausgelöster Fehlalarm. Diesmal waren zwei Fremde im Gang.«

Der Mann, der uns gefangen genommen hatte, hieß also Mortero.

»Das ist schlecht«, antwortete eine Stimme aus dem Komgerät. Ich erkannte jene Stimme, die ich auch während der Verhandlungen mit Attithorn gehört hatte. »Ich hätte lieber gehabt, dass der Geheimgang geheim geblieben wäre.« Ein Seufzer war zu hören. »Na ja, was soll’s. Ich berufe den Rat ein. Der Termin ist in einer halben Stunde. Sehen wir uns die beiden an.«

Das ging äußerst flott. Ich empfand es als sehr angenehm, dass wir bereits in einer halben Stunde mit den entscheidenden Leuten sprechen konnten. Anscheinend gab es hier sehr kurze Befehlsketten.

Wir wurden durch einige Gänge geführt. Nach wie vor achteten unsere Begleiter auf die Einhaltung des Sicherheitsabstandes. Wenn uns in den spärlich beleuchteten Gängen Menschen begegneten, wurden sie zur Seite gewiesen, um uns auch hier keine Chance auf einen Angriff mit Geiselnahme zu geben.

Schließlich wurden wir in eine Art Warteraum geführt, an dessen hinterem Ende sich eine Tür befand. Mortero befahl uns: »Setzt euch und verhaltet euch ruhig.« Dann verließ er uns. Die übrigen fünf Bewaffneten behielten uns im Auge und sicherten die Ausgänge.

Wir warteten. Zu reden gab es nichts, weil jedes Wort von aufmerksamen Zuhörern registriert wurde.

Um halb fünf öffnete sich schließlich die Tür am anderen Ende des Warteraumes, Mortero trat heraus und sagte: »Okay, ihr könnt kommen.«

*

Wir wurden in eine Art Hörsaal geführt. Die Eingangstüren befanden sich an der Rückwand des Saales. Vor ihr zogen sich halbkreisförmig angelegte Bankreihen stufenförmig nach unten zu einem Podium, auf dem fünf Personen saßen. Zwischen der dritten und der vierten Person war ein Platz frei.

Am freien Platz vor dem Podium hatte man zwei Sessel aufgestellt. Mortero wies uns an, dort Platz zu nehmen, dann ging er auf das Podium und nahm den freien Platz ein. Die fünf Soldaten hatten sich an der Rückwand des Saales aufgestellt und konnten von dort aus jederzeit eingreifen.

Der Mann neben Mortero war offensichtlich die zentrale Persönlichkeit des Rates. Als er zu sprechen begann, erkannte ich die Stimme aus dem Komgerät und den Verhandlungen mit Attithorn wieder.

»Ich darf euch sehr herzlich zu dieser Befragung durch den Rat begrüßen«, begann er. »Ihr steht hier unter Wahrheitspflicht. Ich erteile euch auch den gut gemeinten Rat, mit uns zu kooperieren und unsere Fragen zu beantworten. Wir stehen hier unter enormem Druck und tragen die Verantwortung für die gesamte Besatzung der Station. Sollten wir zur Auffassung kommen, dass ihr uns nicht die ganze Wahrheit sagt, werden wir Wahrheitsdrogen einsetzen. Leider können wir sie nicht exakt dosieren. Wenn wir eine Überdosis erwischen, seid ihr nach der Befragung geistig ein wenig eingeschränkt. Das wollen wir doch alle nicht, oder?«

Ich sah mir den Sprecher des Rates genauer an. Im Gegensatz zu Mortero wirkte er gepflegt. Er war überhaupt die erste gepflegte Person, die ich in dieser Zeit auf der Erde traf. Er schien klein zu sein, doch konnte man das nicht genau einschätzen, da er hinter dem Podium saß. Er trug einen sorgfältig gestutzten Oberlippenbart. Sein weißes Stehkragenhemd war sauber, und um den Hals trug er eine breite Goldkette, an der eine Art Orden befestigt war. An den Fingern der linken Hand trug er zwei Ringe. Seine Nägel waren gewissenhaft manikürt.

Er hatte eine angenehme Stimme, die markant klang, aber auch ein wenig näselnd, so dass er arrogant wirkte. Sein Auftreten erinnerte mich an arkonidische Politiker.

Eine von Attithorns Figuren hätte von dieser Begrüßung nichts verstanden und hätte nun wahrscheinlich unartikuliert zu schimpfen begonnen. Zunächst mussten wir also lediglich beweisen, dass wir auch einen komplizierteren Satzbau verstehen und darauf antworten konnten.

Wir hatten uns darauf geeinigt, dass Atlan die Verhandlungen übernahm. Er erwiderte: »Wir kommen in Frieden. Wir haben den Kontakt zu euch gesucht und wir bedanken uns, dass wir so rasch Gelegenheit bekommen, mit den entscheidenden Leuten sprechen zu können. Ich möchte sagen, dass mich eure Leistung, in dieser Wüste der Ignoranz und des Verfalls eine Bastion der Zivilisation aufrecht zu erhalten, sehr beeindruckt.«

Ziemliches blah, blah, dachte ich. Doch wer auf Arkon erzogen worden war, dem waren solche Höflichkeiten offenbar in Fleisch und Blut übergegangen.

»Ja, das ist wahrlich eine große Leistung«, nahm der Gepflegte Atlans Kompliment sofort auf. »Wir wollen auch dafür sorgen, dass diese Leistung weiter besteht. Wir können uns daher keine Unvorsichtigkeiten leisten. Ich will daher, dass ihr uns jetzt genau erklärt, wer ihr seid, von wo ihr kommt und was ihr hier eigentlich wollt.«

Wir hatten offenbar die erste Hürde genommen. Nun wurde es schwieriger. Wie konnten wir dem Rat glaubwürdig erklären, dass wir aus einer anderen Dimension oder aus einer anderen Zeit stammten? Atlan versuchte es.

»Ich heiße Atlan und wurde auf Arkon geboren. Mein Gefährte heißt Alaska Saedelaere. Er stammt von Terra. Wir sind hier in der Nähe abgestürzt und versuchen, uns nun zurechtzufinden. Wir benötigen jemand, der uns über die Verhältnisse hier informiert. Als Gegenleistung bieten wir unsere Hilfe an. Und Hilfe können wir geben, denn wir sind technisch weit fortgeschritten.«

Der Gepflegte begann zu klatschen: »Das machst du gut. Du hast mit vielen Worten keine einzige, handfeste, überprüfbare Information gegeben. Dafür versuchst du nun, uns mit nicht überprüfbaren Angeboten zu kaufen. Mach nur so weiter und die Befragung wird für euch nicht gut ausgehen.« Offensichtlich war Menschen mit dem Erfahrungshorizont dieser Welt unsere Geschichte kaum glaubhaft zu machen.

Nach einer kurzen Pause fragte er weiter: »Kannst du mir zumindest erklären, warum ihr ausgerechnet hier bei uns hereinmarschiert?«

»Wir haben eure Verhandlungen mit Attithorn beobachtet«, antwortete Atlan. »Es war für uns klar erkennbar, dass es einfacher sein wird, mit euch zu reden als mit Attithorn. Daher haben wir uns entschlossen, zu euch vorzudringen.«

»Die lügen, dass sich die Balken biegen. Piandreo, machen wir kurzen Prozess, dieses Verhör bringt nichts. Und die beiden da sind eine Gefahr für uns. Lass sie hinrichten, so wie es den Kreaturen von Attithorn gebührt.«

Zum ersten Mal hatte eine der anderen Personen das Wort ergriffen. Es war eine junge Frau, mit schwarzem, widerspenstigem, lockigem Haar, dunkler Haut und einem wilden, leidenschaftlichen Feuer in den Augen. Ebenso wie Mortero trug sie einen Kampfanzug in grün-schwarz-braunem Military-Look. Sie war eine interessante und schöne Frau. Allerdings zeigte ihre Wortmeldung, dass wir sie wenig beeindruckt hatten. Offensichtlich war sie der Meinung, dass es besser war, zuerst zu schießen und erst dann zu fragen.

Jedenfalls kannten wir nun den Namen des Gepflegten. Er hieß Piandreo.

»Dieser hier hat nicht gelogen. Es ist nur die Frage, ob er die ganze Wahrheit gesagt hat. Und ob er die ganze Wahrheit überhaupt kennt.«

Ein weiteres Mitglied des Rates hatte sich zu Wort gemeldet. Ähnlich wie einige unserer Angreifer sah man ihm einen starken Einschlag der Ureinwohner dieses Kontinents an. Er hatte dunkle Haut, eine dürre Gestalt, schulterlanges graues Haar und eine beeindruckende Adlernase. An den Falten seines vom Wetter gegerbten Gesichts war erkennbar, dass er ein hohes Lebensalter erreicht hatte. Seine Augen hingegen wirkten ungeheuer jung und lebendig.

Seine Äußerung überraschte mich. Einerseits ergriff er Partei für uns. Andererseits schien er sich sicher zu sein, dass er den Wahrheitsgehalt unserer Erzählung einschätzen konnte.

Irgendwie wirkte er auf mich wie ein Medizinmann der Ureinwohner. Angeblich hatten diese Schamanen mystische Fähigkeiten entwickelt. War dieser aufmerksame, alte Mann eine Art Empath? Hatte er die Möglichkeit, festzustellen, ob jemand die Wahrheit sagte?

»Arkon ist eine Kleinstadt im Mittelwesten. Das ist ein überprüfbares Faktum. Allerdings lebt dort niemand mehr«, meldete sich ein weiteres Ratsmitglied zu Wort. Der Sprecher war ein schmächtiger junger Mann, der ein wenig in sich gekehrt wirkte. Offenbar versuchte er, sein Faktenwissen unter Beweis zu stellen. Allerdings führte dieses Faktenwissen zu völlig falschen Schlüssen.

Auffallend war, dass er eine Hornbrille trug. Der einzige Mensch, der zu unserer Zeit noch eine Brille getragen hatte, war Homer G. Adams. Der trug sie allerdings aus nostalgischen Gründen. Unwillkürlich fragte ich mich, wer dem jungen Mann die Brille angefertigt hatte und wie man in dieser barbarischen Zeit mit Sehfehlern umging.

Der junge Mann fuhr fort: »Aber Terra ist unser gesamter Planet. Wenn ihr sagt, jemand kommt von Terra, ist das keine Information. Das heißt, ihr wollt etwas verstecken. Der da« – dabei deutete er auf mich – »hat noch nichts gesagt. Er ist daher besonders verdächtig.«

So steht man, ehe man es sich versieht, im Mittelpunkt des Interesses.

Nun griff Piandreo wieder ins Geschehen ein: »Toll, so wird blitzschnell aus einer Befragung eine Diskussion der Ratsmitglieder. Herzlichen Glückwunsch, Virga!« Damit wandte er sich der wilden, jungen Frau zu, die als erste ihre Meinung geäußert hatte. »Glaubt ihr, dass wir durch diese Diskussion rascher zu Informationen von unseren Gästen oder Gefangenen kommen werden?«

*

Piandreo hatte Führungsqualitäten, trotz seiner snobistischen Art. Das erkannte ich daran, wie er mit seiner Frage die Diskussion abgeschnitten hatte. Nun konzentrierte er sich wieder auf Atlan: »Sag mir etwas, das mich überzeugt! Überlege, denn es geht um dein Schicksal!«

Atlan versuchte zu erklären, dass wir aus einer anderen Zeit kamen und daher die genauen Verhältnisse auf dieser Welt nicht kannten. Er betonte neuerlich, dass wir technische Möglichkeiten hatten, den Stationsbewohnern das Leben leichter zu machen. Weiter berichtete er, dass wir jemanden suchten, nämlich Lorsahl, den Krieger Gottes.

Piandreo glaubte ihm kein Wort. Er fragte nach Fakten, die er überprüfen konnte. Allerdings bestätigte uns der alte Indianer, der McGraw genannt wurde, dass wir keine bewussten Lügen erzählten. Das half uns, denn irgendwie schienen alle der Überzeugung zu sein, dass man McGraw nicht bewusst belügen könnte.

Während der Befragung lernten wir auch die anderen Mitglieder des Rates kennen, ebenso deren Funktionen. Mortero war Piandreos Stellvertreter und für die Strategie bei Kämpfen mit Außenfeinden zuständig. Daher war es seine Aufgabe gewesen, nach dem von uns ausgelösten Alarm eine Kampfgruppe zu sammeln und uns entgegen zu gehen.

Virga war, wie Mortero, eine Kämpferin. Ihr Bereich war die interne Sicherheit. Sie wollte uns beseitigen, da wir nun in ihren Bereich fielen und sie uns als Sicherheitsrisiko sah. Mortero vertrat eine andere Meinung: »Wir können es uns nicht leisten, potentielle Mitkämpfer zu verschwenden«, meinte er. Offensichtlich sah er uns schon als Soldaten seiner Truppe.

Der junge Mann, der Arkon im Mittelwesten lokalisiert hatte, hieß Anthon. Er war Mechaniker und für die Technik der Station zuständig. Er war auch der Einzige, der sich zur Vorstellung äußerte, dass wir aus der Vergangenheit kommen könnten. »So etwas ist grundsätzlich möglich«, meinte er. »Es besteht die Möglichkeit, mit einem Raumschiff knapp unterhalb der Lichtgeschwindigkeit zu fliegen. Das nennt man Dilatationsflug. Wenn man mit derartiger Geschwindigkeit fliegt, verläuft die Zeit an Bord des Raumschiffes langsamer. Auf diese Art könnte man, wenn man zum Beispiel ein Verbrechen begangen hat, in die Zukunft fliehen.«

Das sechste Mitglied des Rates war Urina Dombster. Sie war noch älter als McGraw. Eine Flechte überzog ihre rechte Gesichtshälfte und entstellte sie. Wenn sie sich allerdings äußerte, wirkte sie unerhört freundlich.

Sie war auch das einzige Ratsmitglied, das den Namen Atlan schon gehört hatte. Sie berichtete: »Es gab da einen mystischen Kontinent, der Atlantis hieß. Sein Herrscher war Prinz Atlan. Er war ein Albino, so wie unser Besucher auch. Er hatte ein verfluchtes Schwert, das den Namen Seelenfresser trug und mit dem er viele Feinde tötete. Und er hat seine schöne Schwester Crysildor geliebt und gegen den Willen der Götter geheiratet. Als die Götter diese Sünde sahen, ließen sie den Kontinent Atlantis in einer einzigen Nacht in den Fluten des Meeres versinken.«

Ich blickte zu Atlan hinüber, um seinen Gesichtsausdruck zu sehen.

Urina Dombster glaubte Atlan nicht, dass er aus der Vergangenheit kam. Sie vermutete vielmehr, dass wir eine fremde Identität vorspiegelten. Die psychologischen Gründe für die Annahme dieser Identität interessierten sie allerdings brennend: »Ihr wollt dem Rat vorspiegeln, dass ihr eine Person von historischer Bedeutung seid. In Ordnung. Aber warum habt ihr euch, von allen geschichtlichen Persönlichkeiten, ausgerechnet die Identität des verfluchten Prinzen von Atlantis ausgesucht?«

Atlan wies darauf hin, dass die Sage über diesen Prinzen nichts mit dem Atlantis der geschichtlichen Realität zu tun hatte. Das ignorierte Urina Dombster und fragte weiter: »Hast du eine Schwester gehabt?« Atlan schüttelte den Kopf: »Nein, ich bin ein Einzelkind.« Urina fragte weiter: »Und wie war dein Verhältnis zu deiner Schwester? Hast du sie geliebt?«

Ich bekam langsam den Eindruck, es wäre besser, wir würden den Rat nicht von Atlans Identität überzeugen.

Zum Glück unterbrach Piandreo dieses Gespräch. Atlans Verhältnis zu seiner Schwester oder Nicht-Schwester interessierte ihn herzlich wenig.

Schließlich schlug der Arkonide vor: »In historischen Aufzeichnungen müsste etwas über uns zu finden sein. Existieren in dieser Station solche Daten?«

Anthon antwortete: »Nein, das war nur eine Versorgungsstation. Da gibt es keine Aufzeichnungen. Aber wir könnten versuchen, Verbindung zum Computer des Entertainment Museums von Las Vegas zu bekommen. Ich habe Hinweise, dass dieser Computer zumindest noch im Bereitschaftsmodus läuft. In diesem Computer findet man auch historische Dateien. Wenn ihr so fortschrittlich seid, wie ihr sagt, könnten wir eine Verbindung zu diesem Computer herstellen.«

Piandreo kam zu einem Entschluss: »Okay, was wir machen werden ist dies: Anthon, du nimmst dir diesen Atlan. Ihr versucht, euch von unserem Terminal zum Computer des Entertainment Museums vorwärts zu hacken.«

Dann wandte er sich mir zu: »Inzwischen setzt du, der du auf den Namen Alaska hörst und bisher der große Schweiger warst, dich mit Old McGraw zusammen. Du erzählst ihm, wie die Welt war, aus der du angeblich gekommen bist. Viele Details. Du erzählst und erzählst und erzählst. Keine Pausen. Du erzählst nur aus deinem Alltag. Da musst du nicht nachdenken. Old McGraw wird dir zuhören. Er wird dir Fragen stellen. Diese Fragen wirst du ihm beantworten. Dann werden wir feststellen, ob die Welt, aus der du angeblich kommst, glaubwürdig ist oder nicht.«

Falls ich eine Phantasiewelt schilderte, waren Piandreo Anweisungen durchaus geeignet, mich in Widersprüche verwickeln. Insbesondere, wenn ich einem Mann wie Old McGraw berichtete, der wahrnehmen konnte, ob ich die Wahrheit sprach oder nicht.

Von zwei Bewaffneten flankiert, suchte ich mit Old McGraw einen Besprechungsraum auf.

*

Es wurde ein interessantes Gespräch. Ich erzählte Old McGraw von einer Welt, in der Terra allein den Menschen gehörte und sie ihre Welt nicht mit intelligenten Insekten teilen mussten. Eine Welt, in der Milliarden von Menschen diesen Planeten bewohnten, die in riesigen Städten lebten, deren Gebäude bis in den Himmel ragten. Eine Welt, in der die Menschen andere Planetensysteme erreicht und fremde Welten besiedelt hatten. Ich erzählte davon, wie die Menschen meiner Welt die Geheimnisse der Elementarteilchen zu enträtseln begonnen hatten und die Geheimnisse der Kosmologie, die Geheimnisse des Alterns und des Geistes.

Old McGraw hörte sich alles aufmerksam an. Und er stellte Fragen mit oft ungewöhnlichem oder überraschendem Inhalt.

Drei Stunden dauerte dieses Gespräch. Schließlich wurden wir wieder in den Versammlungsraum gerufen.

Diesmal trafen wir uns nicht im Saal des Rates für öffentliche Anhörungen, sondern in einem normalen Besprechungsraum. Das war bereits ein Hinweis auf einen geänderten Status. Alle wirkten ein wenig nervös. Etwas Entscheidendes schien passiert zu sein.

Als Erster ergriff Anthon das Wort: »Ich verstehe das nicht. Wir waren endlich im Computer des Entertainment Museums, haben auch erste Daten herausgeholt, insbesondere Daten über Atlan und Alaska Saedelaere. Und dann heißt es plötzlich: alles stopp. Brecht alles ab. Es gibt eine Besprechung.«

Piandreo antwortete: »Es gibt eine neue Entwicklung, die unsere ganze Aufmerksamkeit benötigt. Daher bitte alles sehr kurz halten. Ich will eine Einschätzung der Gefangenen. Ich muss jetzt endgültig wissen, ob sie eine Gefahr sind oder ein positiv nutzbares Potential. Was hast du über Atlan herausgefunden?«

Anthon begann: »Die Datenbank des Entertainment Museums hat Urinas Geschichte nicht bestätigt. Es gab zwar einen Kontinent oder eine Insel Atlantis und es stimmt auch, dass deren Herrscher ein gewisser Atlan war. Die Sache mit der Schwester ist allerdings reine Mythologie.

Atlantis ist bei einem Angriff aus dem All untergegangen. Der Herrscher Atlan soll ein Gerät gehabt haben, das ihn unsterblich machte. Er war dann durch zehntausend Jahre Mentor der Menschheit. Eine ganze Abteilung des Museums beschäftigte sich mit seiner Geschichte. Dann brach das goldene Zeitalter der Menschheit an. In dieser Zeit war Atlan eine Zeit lang Herrscher eines Sternenreiches, das nach dieser Stadt im Mittelwesten benannt wurde.« – In diesem Augenblick wünschte ich mir, Bostich oder ein anderer aufgeblasener Arkonide könnte zuhören. Arkon, benannt nach einer Kleinstadt im Mittelwesten, das war hörenswert. Auch Atlans Gesichtsausdruck war in diesem Augenblick sehenswert. – »Danach war er als Ritter und Geheimdienstchef tätig. Doch seit die Insekten auf der Erde die Macht übernommen haben, hat man nichts mehr von ihm gehört.«

»Gut«, meinte Piandreo, »ich habe dazu zwei Fragen. Erste Frage: Gibt es überhaupt Einträge im Computer des Museums, die aus der Zeit nach der Machtübernahme der Insekten stammen?«

»Nein!«, antwortete Anthon. »Wir haben jedenfalls keine entdeckt.«

»Zweite Frage: Glaubst du, dass dieser Atlan jener Atlan ist, von dem der Computer berichtet.«

Wiederum antwortete Anthon: »Nein!« Dann fügt er hinzu: »Die Datenbank des Computers enthält Geschehnisse aus einer Zeit vor über tausend Jahren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der echte Atlan so lange verschwunden gewesen wäre und ausgerechnet jetzt auftaucht.«

»Wer ist unser Besucher dann?«, fragte Piandreo.

»Ich glaube, dass unsere Besucher Geschichten von historischen Persönlichkeiten gehört haben und sich entschlossen haben, deren Identität anzunehmen. Von solchen Begebenheiten hört man immer wieder.«

»Ich weiß nicht, auf was du anspielst. Mir würde es niemals einfallen, unter fremden Namen durchs Land zu ziehen«, widersprach Piandreo.

»Ich bin mir jedenfalls sicher, dass uns unsere Besucher wohl gesonnen sind«, betonte Anthon.

»Und woher nimmst du diese Sicherheit«, fragte Piandreo.

»Um zum Computer des Entertainment Museums vorzudringen, waren eine Reihe von improvisierten Maßnahmen notwendig. Zunächst schalteten wir einige Sicherheitsroutinen frei, damit wir überhaupt mit unserer Syntronik im Netz hacken konnten. Dann mussten wir einen funktionierenden Netzrechner lokalisieren und Netzknoten finden, die zum Entertainment Museum führten. Bei diesen Arbeitsschritten konnte ich mich voll auf Atlan verlassen. Während der ganzen Zeit lag das stationsinterne Netz vor Atlan relativ offen. Wenn er etwas Böses vorgehabt hätte, hätte er alles machen können, sogar den Schutzschirm abschalten.«

Piandreo hatte Anthons Ausführung bestenfalls mit mäßigem Interesse zugehört. Bei den letzten beiden Sätzen war er blass geworden. Jetzt sprang er auf und schrie: »Bist du völlig irre geworden? Lässt einen Fremden, der keinerlei Sicherheitsüberprüfung hinter sich hat, ins Innerste unseres Abwehrsystems! Da können wir gleich alle Tore aufmachen und Attithorn hereinbitten.« Es war das erste Mal, dass ich den sonst so unerschütterlichen Piandreo schreien hörte.

Anthon zuckte merklich zusammen. Er murmelte, dass seine Bemühungen Erfolg gehabt und ihnen einen wichtigen Zugang zum Netz verschafft hätten. Allerdings wirkte er nun nicht mehr stolz auf seinen Erfolg, sondern ziemlich verstört.

Piandreo wandte sich nun an Old McGraw. »Und welche Katastrophe hast du gerade noch vermieden?«

»Soll das eine Aufforderung sein, meinen Teil zu berichten?«, fragte McGraw. »Genau das«, erwiderte Piandreo. Daraufhin schilderte McGraw kurz, worüber wir gesprochen hatten. Er erzählte auch, dass er in meiner Schilderung keine Widersprüche entdeckt hatte und er die von mir geschilderte Welt insgesamt für schlüssig hielt.

Als ihn Piandreo nach seiner Einschätzung fragte, antwortete er: »Es gibt noch andere Welten als diese. Dazu gehört die Welt der Dämonen, die Welt der Toten und die Welt der Schattenwesen. Diese Welten sind von uns durch Nebelwände getrennt. Doch vielleicht stammen diese beiden Männer aus einer Welt, die neben der Unsrigen liegt. Vielleicht gibt es diese Welt der großen Städte wirklich, und sie ist von unserer Welt getrennt, genauso wie die Welt der Dämonen oder der Schattenwesen. Vielleicht stimmt das, was die beiden Männer gesagt haben und sie sind einfach aus einer Welt jenseits der Nebel zu uns geraten.«

McGraw beeindruckte mich neuerlich. Man musste nur das mystisch-religiöse Beiwerk wegdenken, dann hatte er einen Übertritt in eine andere Dimension ziemlich genau beschrieben. Viel besser jedenfalls, als der Techniker Anthon. Dabei stand McGraw eigentlich auf dem Erkenntnisstand eines Medizinmannes der alten Indianer.

Piandreo rief Virga zu sich. Die beiden flüsterten miteinander, wobei vor allem Piandreo sprach und Virga zuhörte. Danach wandte sich der Anführer der New-Desert-Terraner wieder uns zu und meinte: »Nun gut. Ihr seid schon derart weit in die Prozesse unserer Station einbezogen worden, dass wir euch nicht länger den Status von Gefangenen geben wollen. Trotzdem seid ihr noch keine vollwertigen Mitglieder der Station. Ihr seid von nun an Gäste. Ihr könnt euch grundsätzlich frei bewegen, müsst aber die Anweisungen von Virga befolgen. Ihr bekommt Quartiere zugewiesen. Ich ersuche euch, diese Quartiere jetzt aufzusuchen.«

Danach sah er auf die Uhr und fuhr fort: »In fünfzehn Minuten beginnt für alle Bewohner der Station eine Ausgangsperre. Ich muss euch bitten, dass auch ihr während dieser Sperre euer Quartier nicht verlasst. Das Ende der Sperre wird mit einem Signalton angezeigt.«

»Warum beginnt unser Status als Gast gleich mit einer Ausgangssperre?«, fragte Atlan.

»Die Ausgangssperre gilt für alle Bewohner der Station. Wir müssen eine Situation bewältigen, die mit euch nichts zu tun hat. Wir wissen nicht, wie das ausgehen wird. Die Sperre dient eurem eigenen Schutz und dem Schutz der Bewohner der Station.«

*

Virga wies uns ein Quartier zu, das früher der Unterbringung von Soldaten gedient hatte. Es verfügte über zwei übereinander angeordnete Schlafstellen, zwei in die Wand eingelassene Spinde, eine einfache Waschgelegenheit und eine Dusche. Die Toiletten waren außerhalb des Quartiers. »Hier, ihr könnt es unter euch ausmachen, wer welches Bett benutzt. Gepäck habt ihr anscheinend keines dabei. Ihr werdet wohl keine Probleme haben, eure Utensilien unterzubringen.«

Ich legte meine Handschuhe auf die obere Schlafstelle, um mein Terrain zu markieren. Dann bemerkte ich, dass Virga an der Tür stehen geblieben war und unschlüssig zu uns hereinblickte. »Ist etwas?«, fragte ich.

»Ich verstehe euch nicht. Ihr tischt uns phantastische Geschichten auf, die sofort als Lügengeschichten erkennbar sind. Im entscheidenden Moment, als Atlan im Netz war und uns hätte verraten können, hat er sich aber als vertrauenswürdig erwiesen. Warum sagt ihr uns nicht, wer ihr wirklich seid? Wir vertrauen euch doch auch.«

Das war eine andere Virga als jene, die bei der ersten Befragung vehement unseren Tod gefordert hatte. Diesmal schien sie ehrlich bemüht, uns zu verstehen. Doch ich wusste beim besten Willen nicht, was ich ihr antworten sollte. Wir hatten uns die ganze Zeit bemüht, die Wahrheit zu sagen. Nur waren die Tatsachen für die Menschen hier einfach zu phantastisch.

Atlan stellte sich vor sie hin und blickte ihr direkt in die Augen. »Ich habe meine Eltern kaum gekannt«, begann er. »Kurz nach meiner Geburt tötete mein Onkel meinen Vater. Daraufhin ergriff ein Freund meiner Mutter mit mir die Flucht. Ich wuchs in der Fremde auf. Ich wurde ausgebildet, um gegen meinen Onkel zu kämpfen. Meine Mutter lernte ich erst Jahre später kennen. Doch zu dieser Zeit waren wir uns längst fremd. Irgendwann gelang es mir, meinen Onkel zur Rechenschaft zu ziehen. Aber es war ein anderer, der ihn schließlich getötet hat.

Ich war zu lange von meiner Familie getrennt und konnte mit ihren Idealen nichts mehr anfangen. So zog ich in die Fremde. Eine Katastrophe schnitt mir den Rückweg ab. Als ich nach vielen Jahren doch zurückkehren konnte, lebte von ihnen keiner mehr. Seither bin ich auf Wanderschaft.«

Es war eine stark vereinfachte Version von Atlans persönlicher Geschichte. Doch es war die Wahrheit. Virga erkannte das.

»Das habe ich nicht gewusst.« Ihre Stimme war voll Mitgefühl. Sie lächelte schüchtern. »Warum hast du das nicht erzählt?«, fragte sie. »Wir hätten dir viel eher geglaubt, wenn du uns die Wahrheit erzählt hättest!« Und nach einigem Zögern setzte sie hinzu: »Du musst sehr einsam gewesen sein.«

»Ich habe immer das Beste aus meinem Leben gemacht. Ich hatte einen guten Ziehvater, der mich vieles gelehrt hat. Ich konnte es nicht besser treffen«, antwortete Atlan.

Die beiden standen sich noch immer regungslos gegenüber. Ich konnte die Spannung spüren, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte. Noch immer sahen sie einander tief in die Augen.

In den Augen befinden sich Zellen, die empfangene Sinneseindrücke vorverarbeiten. Sie sind eine Außenstelle des Gehirns. Wenn du jemandem tief in die Augen blickst, siehst du buchstäblich einen Teil seines Geistes. Es ist Empathie, fast Telepathie. Es baut eine Brücke zwischen Menschen. Und eine derartige Brücke baute Atlan zu Virga auf.

Plötzlich streckte Virga ihren Arm aus und ergriff Atlans Unterarm. Der spürte davon sicher nichts, da er noch im Kampfanzug steckte. Aber es war eine Geste der Zuneigung. »Du hast auch nie die Nestwärme einer Familie verspürt«, sagte Virga. »Ein Ziehvater, und mag er noch so gewissenhaft sein, kann dir nie die Mutter ersetzen. Die Geborgenheit und Sicherheit, die ein Mensch braucht, hast du in deinem Leben nicht gefunden.«

»Ich suche die Sicherheit in mir selbst«, sagte Atlan. »Aber ein wenig Geborgenheit, ein wenig Zuneigung und ein wenig Verständnis benötigt jeder, wenn das Leben zu hart und einsam wird. Suchst du das nicht auch? Was hat dich zu dieser harten und unnahbaren Kämpferin werden lassen?«

Ihre Hand blieb auf seinem Arm. Es war atemberaubend, wie Atlan gerade die Kurve gekratzt hatte. Nun gab er Virga Gelegenheit, über sich zu erzählen. Das taten Frauen immer gerne. Und tatsächlich, sie stieg darauf ein. »Das ist eine lange Geschichte«, begann sie. »Interessiert sie dich wirklich?«

Die Situation hatte sich rasant in eine Richtung entwickelt, in der ich mir störend vorkam. Ich äußerte, dass ich auf die Toilette musste und stellte mich bereits darauf ein, die nächsten Stunden auf dem Klo zu verbringen. Doch Virga erkannte das Problem und meinte: »Hier ist eine Chipcard für das Quartier nebenan. Wenn du willst, kannst du dich dort ausruhen, während wir hier noch ein bisschen reden.«

*

Ich lag auf meiner Pritsche, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und dachte über den heutigen Tag nach. Für Atlan musste es ein toller Tag gewesen sein. Er hatte eine alte Benzinkutsche gefahren, ein improvisiertes Ritterturnier erlebt so wie in der alten Zeit, und jetzt war er gerade dabei, eine schöne Frau herumzukriegen.

Ich hatte schon einiges über Atlans Frauengeschichten gehört, doch eine Szene wie vorhin war mir neu. Ich fragte mich, ob es nicht besser gewesen wäre, Ydira mitzunehmen. Dann hätte ich jetzt auch jemanden bei mir. Hatte Atlan recht gehabt, als er behauptete, ich hätte Angst vor Nähe? Dass ich mich aus diesem Grund in unerreichbare Wesenheiten wie Kytoma oder Vaiyatha, die Seele der VIRTUA, verliebte?

Plötzlich meldete sich die Haut, die nach ihrer täglichen Nahrungsversorgung verlangte. »Alaska, du wirkst so bedrückt. Kann ich dir irgendwie helfen?«

Ich dachte daran, was gerade im Nebenraum geschah, während ich hier lag und von einem Extraterrestrier eingehüllt wurde. Ich überlegte kurz, ob ich aufstehen und mehrmals kräftig mit dem Kopf gegen die Wand klopfen sollte. Dann wurde mir klar, dass das mir selbst größere Schmerzen zufügen würde als der Haut. Daher ließ ich es bleiben.

9.

Ich konnte circa zwei Stunden schlafen. Dann ertönte ein Signal, mit dem offenbar die Ausgangssperre aufgehoben wurde. Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht.

Ich trat auf den Gang hinaus und sah, dass sich notdürftig bekleidete Stützpunktbewohner in eine bestimmte Richtung bewegten. Ich ging ihnen nach. Bald erkannte ich, dass das Ziel der Tagungssaal des Rates war. Also bedeutete das Signal nicht die Aufhebung der Ausgangssperre, sondern diente dazu, die Bewohner des Stützpunktes zusammenzurufen. Das war kein gutes Zeichen.

Als ich den hörsaalartig eingerichteten Raum erreichte, waren die Bankreihen bereits zu zwei Dritteln besetzt. Auf dem Podium waren Old McGraw, Anthon und Mortero zu erkennen. Piandreo ging innerhalb des halbkreisförmigen Raumes, der sich zwischen dem Podium und den Bankreihen des Hörsaales befand, auf und ab. Stimmgewirr herrschte im Saal. Piandreo machte, die Handfläche zum Boden gekehrt, nach unten gerichtete Gesten. Sie sollten den Anwesenden andeuten, sich zu beruhigen.

Virga betrat zusammen mit Atlan den Saal. Sie winkten einander zu, danach ging Virga zum Podium hinunter. Atlan kam zu mir. »Wie ist es gelaufen?«, fragte ich. Atlan gab keinen Kommentar.

Urina Dombster betrat aus einer Seitentür unmittelbar neben dem Podium den Innenraum. Sie eilte zu Piandreo, flüsterte kurz mit ihm und ging hinauf zum Podium. Es wurde ruhiger. Die allgemeine Anspannung war fast greifbar.

Piandreo hob die Hände über den Kopf, klatschte und rief in den Saal: »Ich bitte um Ruhe.« Die Sitzung war eröffnet.

»Es hat Friedensverhandlungen mit Attithorn gegeben«, berichtete Piandreo. »Und diesmal waren sie ernsthaft. Keine gegenseitigen Beschimpfungen über Megaphon, keine Internkontakte über Visiphon, sondern richtige Gespräche, von Angesicht zu Angesicht.«

Piandreo wartete kurz ab und ließ seine Worte wirken. Dann fuhr er fort: »Wir haben uns an der Grenze der Station getroffen. Anthon hat den Schutzschirm so geschaltet, dass er in einem begrenzten Sektor aufgehoben wurde. Wir saßen innerhalb des Schutzschirmbereiches, Attithorn und seine Leute außerhalb. Hinter uns stand ein von Mortero zusammengestellter Trupp von Wachen.

Die Gegenseite hat ihre gesamte Spitze geschickt, Attithorn, Oneeye, Rez, Steinsohn, Lasso und Brains. Die haben es diesmal ernst gemeint. Nur der Gotteskrieger selbst war nicht dabei.«

»Rez ist der Typ mit dem pinkfarbenen Sichelkamm, der mich angegriffen hat«, flüsterte Atlan mir zu. »Steinsohn dürfte der Langhaarige sein, der dich angegriffen hat. Lasso war der Typ mit der Bola, der mich zu Fall gebracht hat. Die drei sind Attithorns Team für Spezialeinsätze. Das war kein Zufall, dass sie uns angegriffen haben, Attithorn hat uns seine besten Leute entgegen geschickt.

Und der sogenannte Gotteskrieger, der sich immer im Hintergrund hält, ist fast sicher unser Cantaro.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte ich.

»Woher wohl? Von Virga.«

Atlan hatte doch nicht nur Süßholz geraspelt, sondern auch gleich an Informationen herausgeholt, was herauszuholen war. Der Arkonide war immer auf allen Linien präsent.

Piandreo fuhr fort: »Es ist zunächst gar nicht so schlecht gelaufen. Diesmal hat Brains, und nicht Attithorn, die Verhandlungen geführt. Und mit Brains kann man reden. Der begreift Argumente.

Sie haben uns freien Abzug angeboten. Mitnahme aller Güter, die wir benötigen. Die Bedingung war, dass wir Nevada verlassen. Nach Süden gehen, aus dem Wüstenbecken hinaus. Der Krieger Gottes will hier ungestört sein.«

Ein Zwischenruf erklang: »Wer garantiert uns, dass sie uns nicht betrügen? Dass sie uns nicht mit allen Mitteln angreifen, wenn wir den Stützpunkt verlassen haben?«

»Das ist ein berechtigter Einwand«, antwortete Piandreo. »Darüber hätten wir uns den Kopf zerbrechen müssen, wenn die Verhandlungen Erfolg gehabt hätten. Aber dieses Problem hat sich ohnehin erledigt.«

Wieder machte Piandreo eine Pause. Er wusste offenbar genau, wie er Spannung erzeugen konnte. Er hätte das Zeug gehabt, Schauspieler zu werden.

»Wir haben Gespräche über die genauen Bedingungen des Abzugs geführt«, fuhr er fort. »Plötzlich zog Toby das Toastbrot, den wir in unserem Schutztrupp dabei hatten, einen Impulsstrahler und strahlte Steinsohn ein Loch in den Kopf. Schnell, unerwartet, genau gezielt. Steinsohn war sofort tot.«

Wieder entstand Unruhe unter den Zuhörern. Jeder wollte das Gehörte mit seinem Nachbarn erörtern. Zornig meldete sich Mortero zu Wort: »Ihr wisst, sie haben Tobys Schwester geschändet und getötet: Rez, Steinsohn und Lasso. Er hat lediglich seine Chance zur Rache genutzt, die ihm zustand. Und niemand von uns weiß, ob Attithorns Angebot ehrlich war. Niemand darf Toby einen Vorwurf machen. Und Toby hat für seine Tat bezahlt.«

»Für die Einteilung der Wachen ist Mortero zuständig«, flüsterte mir Atlan zu. »Ich frage mich, warum er Toby dem Wachtrupp zuteilte, wenn er wusste, dass der noch eine Rechnung mit Rez offen hatte. War Mortero vielleicht an einem Erfolg der Verhandlungen gar nicht interessiert?«

Wieder kam Atlans Erziehung durch. Da er mit Intrigen und Doppelbödigkeiten aufgewachsen war, vermutete er sie hinter allem und jedem. Dummerweise hatte er meistens Recht.

Nun zog Piandreo die Berichterstattung wieder an sich. Er sprach weiter: »Zum Glück hat Anthon schnell und richtig reagiert. Er hat sofort den Schutzschirm geschlossen. Leider war Rez noch schneller. Er hat eine Art Wurfpfeil auf Toby geworfen und ihn an der Schulter getroffen.

Urina, bitte berichte jetzt du.«

Urina Dombster ergriff das Wort: »Der Pfeil war vergiftet. Es war ein Gift, das wir nicht kennen und nicht einschätzen können. Eine Art Cybergift. In Tobys Arm bildete sich ein paralleles Nervensystem, das von der Stichwunde ausging. Es bildete sich schneller, als wir es hätten herausoperieren können. Wir mussten Tobys Arm amputieren, bevor sich das Geflecht in die andere Richtung ausbreiten konnte. Sonst hätten wir Toby überhaupt nicht mehr retten können. Nun ist der Arm in unserem Labor zur Beobachtung.«

»So ein Gift stammt keinesfalls von diesen Barbaren um Attithorn«, flüsterte mir Atlan zu. »Das haben sie auch nicht irgendwo durch Zufall gefunden. Das ist nicht terranische Technologie. Das ist Cantaro-Technologie.«

Nun berichtete Piandreo weiter: »Nachdem der Schutzschirm stand und er ausgesperrt war, hat Rez zu toben begonnen. Er nannte uns Verräter, die er alle umbringen wird. Auch Attithorn und die anderen haben uns Verrat vorgeworfen. Sie haben mit neuen Waffen gedroht, mit denen sie uns endgültig fertigmachen wollen. Fest steht, dass wir nun, statt des erhofften Friedens, mit einer Intensivierung der Angriffe rechnen müssen. Und was von dem Hinweis auf neue Waffen zu halten ist, das müsst ihr selbst beurteilen.«

Wieder meldete sich Mortero zu Wort: »Nach dem, was Urina über das Cybergift herausgefunden hat, müssen wir diese Drohung sehr ernst nehmen.«

Wieder wurde es unter den Zuhörern laut, diesmal noch hektischer als zuvor. Piandreo rief in die Menge: »Freunde, ich habe das alles berichtet, damit ihr nicht auf Gerüchte angewiesen seid. Wir haben noch keinen festen Plan. Wir sind für alle Vorschläge offen. Ihr wisst, wie ihr mich erreichen könnt. Nun entschuldigt uns bitte. Der Rat wird eine Strategie entwickeln. Morgen um neun Uhr berichten wir euch darüber. Bis dahin bitte ich euch, Ruhe zu bewahren.«

Piandreo war ein Politiker, mit allen Vor- und Nachteilen. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass er auf seine Art ehrlich war. Er wirkte weitaus verlässlicher als Byykoy oder der Bürgermeister.

*

Die Versammlung löste sich auf. Die Menschen verließen den Saal, wobei sie zum Teil eifrig miteinander diskutierten. Die Mitglieder des Rates räumten das Podium und gingen durch eine Seitentür in das kleinere Besprechungszimmer nebenan. Nur Virga war am Podium geblieben und redete von dort eifrig auf Piandreo ein. Plötzlich drehte sich Piandreo um und bedeutete Atlan und mir, zu ihm hinunterzukommen. Als wir neben ihm standen, sagte er: »Virga berichtet, dass ihr einen Plan habt, wie wir von hier wegkommen können. Sie möchte, dass ihr diesen Plan dem Rat vortragt.«

Ich wusste nichts von einem derartigen Plan. Wieder ein Hinweis, dass Atlan und Virga, neben anderen Aktivitäten, auch intensiv miteinander gesprochen hatten.

Im Besprechungsraum begann der Arkonide, seinen Plan zu erläutern: »Ich habe ein Raumschiff, das in der Lage ist, weite Strecken zu fliegen. Ich kann mit diesem Raumschiff bis zu 70 Leute gleichzeitig transportieren.

Auf der anderen Seite des Ozeans lebt eine Gruppe von Menschen, denen ihr euch anschließen könntet. Diese Menschen haben es gerade geschafft, mit den Insektoiden ihrer Nachbarschaft Frieden zu schließen. Sie wären sicher froh, wenn ihr ihre Gruppe verstärkt. In eurem Stützpunkt leben 192 Menschen. Ich könnte alle in drei Flügen evakuieren.«

»Was soll das für ein beschissener Plan sein?«, fragte Mortero aufgebracht. »Wo wollt ihr ein Raumschiff her haben? Niemand hat ein Raumschiff, außer dem Gotteskrieger. Und der ist unser Feind.«

»Glaubst du mir, wenn du das Raumschiff siehst?«, fragte Atlan.

»Dann weiß ich, dass du ein Spion des Gotteskriegers bist«, legte Mortero seine Art von Logik dar. »Niemand hat ein Raumschiff außer dem Gotteskrieger. Wenn du ein Raumschiff hast, wissen wir, dass du zu ihm gehörst.«

»Bist du verrückt?«, fuhr Virga Mortero an. »Atlan bietet uns seine Hilfe an und du verdächtigst ihn gleich der Spionage? Wir benötigen jede Hilfe, die wir kriegen können.«

Ich fand es interessant, wie sich die Rollen geändert hatten. Bei unserer ersten Befragung hatte Virga unseren Tod gefordert und Mortero zu unseren Gunsten das Wort ergriffen. Nun war es Mortero, der uns beschuldigte, und Virga, die sich für uns einsetzte.

Es folgte eine längere Diskussion der Ratsmitglieder. Morteros Argument, dass nur der Gotteskrieger über Raumschiffe verfügte, erschien den Ratsmitgliedern logisch. Aber die Chance, der zunehmend gefährlicher werdenden Situation in Las Vegas zu entkommen, wollten sie auch nicht einfach vorübergehen lassen.

Schließlich war der Rat bereit, sich mit Vorbehalten auf Atlans Transportangebot einzulassen. Man wollte sichergehen, nicht in eine Falle gelockt zu werden. Den endgültigen Plan erläuterte schließlich Mortero:

»Zunächst sehen wir uns Atlans Space-Jet an. Wenn sich deren Existenz als richtig herausstellt, fliegt ein kleiner Trupp von zwanzig Mann mit Atlan nach Asien. Wenn wir dort Menschen finden, kehrt Atlan mit dem vollständigen ersten Trupp sowie zehn Menschen aus dem Zielgebiet zurück.

Wir benötigen zwanzig Mann. Denn eine größere Anzahl von Leuten kann man weniger gut unter Druck setzen als wenn sich nur ein Einzelner das Zielgebiet ansieht. Alle zwanzig kehren zurück, keiner bleibt dort zurück. Dadurch stellen wir sicher, dass kein Zurückgelassener als Geisel dienen kann. Wenn zehn Menschen aus dem Zielgebiet dabei sind, haben wir im Falle eines Betruges oder Betrugsversuches Geiseln in der Hand.

Wenn wir uns auf diese Art von der Richtigkeit von Atlans Angaben überzeugt haben, können wir mit dem Transport beginnen.«

Anthon brachte ein weiteres Problem zur Sprache: »Wir haben hier eine funktionierende Syntronik, die wir nicht aufgeben sollten. Und der Energiekern des Stützpunktes ist unentbehrlich.«

Daraufhin begann eine Beratung, wie man die beiden Geräte sichern könnte. Der Reaktor war ein besonderes Problem, da ihn nur ein schwerer Gleitertruck transportieren konnte. Ein solcher war aber im Stützpunkt nicht vorhanden.

Atlan bot an, den Energiekern mit der Space-Jet zu befördern. Doch diese Art der Beförderung kam für den Rat erst in Frage, nachdem man sich von der Existenz der Menschen auf dem asiatischen Kontinent überzeugt hatte.

Zunächst aber war ein anderes Problem zu lösen: »Wenn Attithorn weitere Energiegeschütze oder die angekündigten neuen Waffen erhält, wird der Schutzschirm dem Beschuss nicht mehr standhalten«, erklärte Anthon. »Wir müssen daher einen Standortwechsel vornehmen.«

»Aber welcher Standort ist sicherer als die Station, in der wir ohnehin schon sind?«, fragte Urina Dombster.

»Der Adlerhorst«, sagte Piandreo. »Er liegt weit oben in den Rocky Mountains. Dort sind noch viele Aggregate intakt. Wenn es uns gelingt, den Energiekern anzuschließen, können wir uns dort verschanzen. Und bis Attithorn seine Truppe dorthin gebracht hat, haben wir die von Atlan vorgeschlagene Evakuierungsaktion schon durchgeführt.«

»Falls uns Atlan nicht belogen hat«, unkte Mortero, »und falls sie durchführbar ist. Wie stellst du dir den Transport des Reaktors vor?«

»Wieder das Problem mit dem Energiekern!«, stöhnte Piandreo. »Es kann uns passieren, dass die ganze Aktion daran scheitert, dass wir den Energiekern nicht transportieren können.«

»Ich weiß, wo sich ein funktionierender Gleitertruck befindet«, meldete sich Atlan zu Wort.

*

Der Arkonide berichtete über den Gleitertruck im Automobilmuseum. Der Rat beschloss, einen Stoßtrupp ins Museum zu schicken. Dem Trupp gehörten Atlan, Mortero, Virga und acht Mann aus Morteros Truppe an. Ich musste als Geisel im Stützpunkt bleiben, damit Atlan nicht einfach die Flucht ergreifen konnte.

Als wir für einen kurzen Moment keine Zuhörer hatten, erkundigte ich mich bei Atlan: »Als ich drüben in Asien zwischen Menschen und Insektoiden für Frieden sorgte, hattest du große Bedenken wegen des Zeitverlustes. Hier hast du plötzlich alle Zeit der Welt. Hat das etwas mit Virga zu tun?«

Atlan sagte, zunächst ziemlich süffisant: »Sieh an, Alaska plötzlich ganz kritisch. Gut, ich gebe zu, dass ich ihren Leuten gerne helfen möchte. Das Hauptargument ist jedoch Folgendes: Hier sind wir im Bereich des Cantaro. Der Cantaro ist irgendwo dort draußen. Wenn wir diese ganze Transferaktion durchziehen, muss er irgendwie reagieren. Und dann können wir ihn uns schnappen.«

»Und wenn er nicht reagiert?«

»Dieser Transfer in den Adlerhorst wird ziemlich kompliziert, da wir unsere Kräfte auf zwei Orte verteilen müssen. Das gilt aber nicht nur für uns, sondern auch für Attithorn und den Cantaro. Auch sie müssen ihre Leute auf zwei Orte verteilen. Damit ist ihre Zentrale schwach besetzt.

Falls sich daher Lorsahl nicht von selbst zeigt, werde ich mit Tolot und der Space-Jet einen direkten Vorstoß nach Nevada Fields versuchen. Du siehst, alles hat seinen Zweck.«

Atlan wirkte sehr selbstbewusst und schien seine düsteren Ahnungen vollkommen vergessen zu haben. Ich hoffte nur, dass er sich nicht täuschte.

10.

Während Atlan mit dem Stoßtrupp unterwegs war, half ich Anthon beim Ausbau des Energiekerns. Mir war bei dieser Arbeit nicht wohl. Nach Abschluss der Arbeit hatten wir nur mehr die in den Speicherbänken vorhandene Energie zur Verfügung. Nach einer Ablaufzeit von zwei Tagen würde der Schutzschirm zusammenbrechen.

Beim Energiekern handelte sich um keinen der mir bekannten Reaktoren, sondern um eine Technologie, die während der Zeit der Isolation der Erde entwickelt worden war, bevor die Insektoiden an die Macht kamen.

Während einer Arbeitspause ging ich in die Cafeteria. Dort traf ich Old McGraw. Da er von der Vergangenheit am meisten wusste, fragte ich ihn, wie es zu den nun herrschenden Verhältnissen gekommen war.

»Es war nicht immer so schlimm wie heute«, berichtete er. »Früher wohnten wir in New Desert. Es war eine kleine Ortschaft. Es war nicht mehr die Zivilisation der Sternenfahrer, die es früher auf der Erde gegeben haben soll. Wir hatten nicht viel, trotzdem lebten wir in Frieden.

Die Kämpfe zwischen Insektoiden und Menschen waren schon lange vorbei. Heutzutage müssen beide Rassen ums Überleben kämpfen. Hier in Amerika hatten wir uns arrangiert und trieben sogar Handel.

Es waren nicht die Insektoiden, sondern Menschen, die begannen, uns Probleme zu machen. Ich weiß nicht, wo Attithorn herkam, und ich weiß auch nicht, was er eigentlich ist, so wie er aussieht. Jedenfalls war er eines Tages hier und begann, Halbstarke um sich zu sammeln. Von da an starteten sie Überfälle auf Ortschaften der Insektoiden.

Das war keine gute Idee. Die Insektoiden waren noch immer zahlreicher als wir und hatten die stärkeren Waffen. Plötzlich hatten wir wieder unter Repressalien zu leiden. Sie setzten in New Desert einen Verwalter ein, und plötzlich mussten wir Schutzsteuern bezahlen.

Attithorn und sein Mob flohen in die Rocky Mountains. Die Insektoiden haben ihn nicht einmal gejagt. Sie dachten, er sei für sie ganz brauchbar, falls sie wieder einen Vorwand benötigen sollten, um gegen die Menschen vorzugehen.

Plötzlich war Attithorn wieder da. Diesmal verfügte er über neue Waffen. Mit diesen konnte er ganze Ortschaften der Insektoiden niedermetzeln. Und er verfügte über einen neuen Verbündeten, einen Krieger Gottes. Diesmal war es ernst. Diesmal konnten sie die Insektoiden wirklich jagen. Und irgendwann flohen die in die Länder jenseits der Berge.

Damit war es aber nicht genug. Nun forderte Attithorn auch unsere Unterwerfung. Als wir uns weigerten, überfiel er New Desert. Viele Menschen starben, darunter auch die Eltern von Virga und Mortero.«

»Dass ihre Eltern beim selben Vorfall getötet wurden, verbindet sie offenbar«, meinte ich.

McGraw stutzte. Dann sagte er: »Die Eltern starben nicht beim selben Vorfall. Sie hatten dieselben Eltern. Die beiden sind Geschwister. Sieht man ihnen das nicht an? Virga ist Morteros kleine Schwester und er hat geschworen, sie immer zu beschützen.«

Das überraschte mich. Bisher war mir die Ähnlichkeit zwischen den beiden nicht aufgefallen. Aber irgendwie erklärte es ihr Verhalten. Als Virga Atlan töten wollte, hatte Mortero uns unterstützt. Bei der Besprechung vorhin, als Virga Atlans Pläne befürwortete, hatte Mortero plötzlich opponiert. Dass sie Geschwister waren, erklärte dieses Verhalten. Oder machte es ihr Benehmen noch unverständlicher? Menschen waren, wie ich wusste, komplizierte Wesen.

McGraw fuhr mit seiner Erzählung fort: »Uns blieb nichts anderes übrig, als zu fliehen. So wie zuvor Attithorn flohen wir in die Rocky Mountains. Auf die andere Seite der Berge konnten wir nicht fliehen, da dort bereits die Insektoiden waren.

Oben in den Rockys ließen wir uns in einem Bergdorf nieder. Piandreos Vater war der Bürgermeister. Auch dort war Attithorn schon bekannt. Die Bewohner hofften, mit ihm nie wieder zu tun zu haben. Doch dann begann Attithorn, auch die Bewohner der Bergdörfer zu tyrannisieren.

Seine Basis war der Stützpunkt, zu dem wir jetzt fliegen. Er nennt sich Adlerhorst und ist eigentlich eine Ortungsstation der ehemaligen LFT. Piandreo, Rez, Mortero und mein Neffe Steinherz versuchten, bei Attithorn einzusickern.«

Das überraschte mich noch mehr als die Tatsache, dass Virga und Mortero Geschwister waren. Verblüfft fragte ich nach: »Rez und Piandreo waren früher Gefährten?«

»Ja«, antwortete McGraw. »Sie trafen sich heimlich und heckten einen Plan aus, um etwas gegen Attithorn zu unternehmen. Ein Plan, der letztlich nicht funktioniert hat.«

Nochmals fragte ich: »Und Rez, der Anführer von Attithorns Stoßtrupp, hat früher tatsächlich zu euch gehört? Seine Leute auch?«

»Steinherz war mein Neffe. Rez hat im Bergdorf gelebt. Nur Lasso ist später dazugekommen. Ja, gestern ist mein Neffe getötet worden, der Sohn meiner verstorbenen Schwester. Er war der letzte Spross unserer Familie.« Ich hörte in seiner Stimme keine Trauer und Erschütterung, nur eine gewisse Melancholie. Nach diesem Satz sagte er eine längere Zeitspanne nichts. Ich wagte nicht, die Stille zu unterbrechen.

Schließlich fuhr er mit seiner Schilderung fort: »Die vier meldeten sich bei Attithorn als Freiwillige. Sie passten in das Schema von Leuten, die sich um ihn sammelten: jung, ehrgeizig, zum Teil brutal. Er glaubte ihnen und nahm sie. So lernten sie seine Festung kennen.

Dann kam der Überfall auf unser Dorf. Piandreo sagt, sie hätten keine Chance gehabt, uns vorher zu warnen.« Hörte ich in McGraws Stimme Zweifel? Ich war mir nicht sicher. »Offenbar war es als Test der Treue für die Vier gedacht. Hätten sie nicht versucht, bei Attithorn einzusickern, hätte er das Bergdorf vielleicht noch eine Weile in Ruhe gelassen.

Der Überfall war eine richtige Metzelei. Piandreos Vater wurde getötet. Toby musste zusehen, wie Rez und Steinherz über seine Schwester herfielen. Sie war ein hübsches Mädchen. Früher einmal hatte sie die beiden abgewiesen. Nun holten sie sich das Mädchen auf ihre Weise. Und dann überließen sie sie dem Mob.

Nur die, die sich verstecken konnten, haben den Überfall überlebt.«

Nun verstand ich Toastbrot besser, der oben auf der Krankenstation lag und dem sie den linken Arm bis hinauf zur Schulter amputiert hatten. Wieder machte McGraw eine längere Pause. Die Erzählung beschwor alte Erinnerungen herauf. Ich fragte mich, von welchen Gräueltaten er noch berichten würde. Nach einer Minute des Schweigens erzählte er weiter:

»Insbesondere Rez hatte sich bei dem Überfall bewährt und durfte Attithorn begleiten, als er dem Krieger Gottes Bericht erstattete. Inzwischen feierte Attithorns Mob eine wilde Siegesfeier. Piandreo ging herum und bot ihnen Whisky an mit einer besonderen Zutat. Jeder, der davon kostete, war nach zwei Stunden tot. Der Rest des Mobs konnte von unseren Überlebenden getötet werden.

Danach mussten wir fliehen, praktisch mit dem, was wir am Leib hatten. Wir wussten, dass Attithorn mit Verstärkung zurückkommen würde. Piandreo hatte ihm seine bis dahin schwerste Niederlage zugefügt. Nie zuvor hatte Attithorn so viele Männer verloren, nicht einmal bei den Angriffen auf die Insektoiden. Piandreo führte uns von den Rockys hinunter, durch die Wüste, bis hierher. Überall sammelte er Unzufriedene und Flüchtlinge um sich. Schließlich fand Piandreo diese Station. Dann entdeckte uns Attithorn. Und seither herrscht der Stellungskrieg.«

»Warum sind eigentlich Rez und Steinherz bei Attithorn geblieben?«, fragte ich.

»Im Gegensatz zu Piandreo und Mortero hatten sie sich gegen uns mehrerer Verbrechen schuldig gemacht. Du kannst über Piandreos Aktion mit dem vergifteten Whisky denken, wie du willst, aber von uns hat er niemanden auf dem Gewissen. Rez und Steinherz schon.

Rez und Piandreo beschuldigen sich seit Piandreos Frontwechsel gegenseitig des Verrats. Die beiden hassen einander.«

Es war eine schlimme Erzählung, die ich von Old McGraw gehört hatte. Sie erklärte viel von den Emotionen, die ich an den handelnden Personen wahrgenommen hatte. Nur das Ende der Geschichte fehlte. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass ich dieses Ende miterleben würde.

*

Wieder ertönte der Alarm. Die Zivilsten rannten in die Schutzräume der Station, die Wachmannschaft auf ihre Posten. Ich eilte mit Anthon zu dessen technischem Leitstand.

An der Oberfläche wurde gekämpft. Attithorns Kanoniere schossen diesmal in die Stadt hinein. Hinter einigen Trümmern konnte ich Bewegung erkennen. Mehrere Männer aus Morteros Stoßtrupp eilten, jede Deckung ausnutzend, auf den Stützpunkt zu. Die Kanonen hatten keine Chance, eine der flinken Gestalten zu treffen.

Dann war plötzlich der Gleitertruck da. Atlan saß am Steuer. Überraschend war er um eine der Ruinen gebogen und fuhr nun geradewegs auf die Station zu.

Die Aktion der Stoßtrupp-Soldaten hatte nur als Ablenkung gedient. Auf den schwerfälligeren Truck hätten sich die Kanonen leichter einschießen können. Doch nun war es zu spät. Anthon schaffte direkt vor dem Fahrzeug im Schirm eine halbkreisförmige Öffnung. Bevor die Kanoniere ihr Ziel neu einstellen konnten, passierte der Truck die Öffnung. Danach schloss Anthon sie sofort.

Ich erwartete, dass die Leute aus dem Trupp nachkommen würden. Doch sie zogen sich in die Stadt zurück.

Der Truck wurde in eine Garage der Station eingewiesen. Atlan und Virga stiegen aus dem Truck und wurden beglückwünscht.

In einem unbeobachteten Augenblick erzählte mir Atlan, dass er mit Tolot Kontakt aufgenommen hatte. Tolot und Denise waren mit dem Systemcheck fertig. Nun hielten sie die Space-Jet für einen Einsatz bereit.

Zwei Stunden später traf auch Mortero mit seinen Leuten ein. Sie hatten sich in die Stadt zurückgezogen und sich über die Reste des Kanalnetzes und einige Geheimgänge zur Station durchgeschlagen. Mortero hatte keine Verluste zu verzeichnen.

Nun war alles für den Ausbruch bereit.

11.

Im Stützpunkt befanden sich drei funktionsfähige Gleiter, ein Gleiterbus und nun, nach Atlans Beschaffungsaktion, ein Gleitertruck. Das war zu wenig, um alle 192 Personen, den Energiekern und die Syntronik in einer Fahrt zum Adlerhorst zu transportieren. Wir mussten uns einen Plan ausdenken, wie wir die Personen und Güter am besten auf zwei Transporte verteilen konnten.

Piandreo hatte schon vor einiger Zeit einen Durchgang zu einem nahe gelegenen Gleitertunnel graben lassen. Wir konnten davon ausgehen, dass ihn Attithorn nicht kannte und dass wir auf der ersten Fahrt das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben würden. Bei der zweiten Fahrt würde Attithorn vorgewarnt sein und uns sicherlich irgendwo einen Hinterhalt legen.

Wir entschlossen uns, den Energiekern, die Syntronik, und die siebzehn im Stützpunkt befindlichen Kinder bereits bei der ersten Fahrt mitzunehmen. Ebenso würde Anthon mitkommen, der dann sofort mit der Installation des Energiekerns im Adlerhorst beginnen konnte. Da Piandreo neben Mortero der Einzige war, der die Räumlichkeiten des Adlerhorstes kannte, musste er ebenfalls mitkommen.

Fünfzehn Männer aus Morteros Miliz würden dem Konvoi Begleitschutz geben, die restlichen Neunzehn würden den Stützpunkt halten. Weiter nahmen Atlan und ich, Virga, Old McGraw, sieben Techniker aus Anthons Team sowie zehn Personen aus dem Kreis der Eltern am ersten Transport teil. Die Leute aus Anthons Team sollten auch die Fahrer der Gleiter stellen.

Auf zwei der Gleiter hatte Mortero schwere Energiegeschütze montieren lassen. Diese beiden Gleiter standen nur der Miliz zur Verfügung und bildeten die Spitze und das Ende des Konvois. Im dritten saß Piandreo mit der Führungsspitze, zu der mittlerweile auch Atlan und ich gezählt wurden. Der Gleitertruck transportierte nur den Energiekern und die Syntronik, während die Kinder und Eltern den Gleiterbus benutzten.

Mit einem unguten Gefühl im Magen brachen wir um Mitternacht auf.

*

Um fünf Uhr früh begann das Morgengrauen. Wir hatten Attithorns Leute getäuscht und Las Vegas unbemerkt verlassen. Nun näherten wir uns bereits den ersten Ausläufern der Rocky Mountains. Um uns war noch Wüste, doch allmählich tauchten die ersten Felsformationen auf. Wir hatten es fast geschafft.

Das gefährlichste Stück des Weges war der Anfang gewesen, da Attithorn seine Leute in Las Vegas konzentriert hatte. Da er nicht wissen konnte, wohin wir fuhren, konnte er uns nicht mehr gefährlich werden, sobald wir Las Vegas einmal verlassen hatten. Er hätte schon einen Weg finden müssen, seine Leute zu unserem jetzigen Standort zu transportieren. Dazu fehlten ihm die Mittel.

Erst wenn wir den Adlerhorst erreichten, konnte wieder eine gefährliche Situation entstehen. Niemand wusste, was wir tun würden, falls die Station der LFT neue Bewohner gefunden hatte.

Derzeit ließ die allgemeine Spannung nach. Müdigkeit begann, sich breit zu machen. Lediglich Mortero lag auf dem Dach des Gleiterbusses und musterte mit einem digitalen Feldstecher unermüdlich die Umgebung.

Es war Morteros unermüdliche Aufmerksamkeit, die uns zwei wertvolle Minuten Zeitgewinn verschaffte. Plötzlich schrie er: »Alarm! Gefahr! Bildet sofort eine Wagenburg!«

Morteros Leute waren gewohnt, seinen Befehlen zu gehorchen, ohne viel zu fragen. Der Gleitertruck hielt sofort an, die beiden vorderen Gleiter bogen nach links und rechts ab, der Gleiterbus stellte sich hinter dem Truck quer und der hinterste Gleiter flog in eine Lücke. Der Mittelpunkt der Wagenburg wurde vom Truck gebildet, der den wertvollen Energiekern transportierte.

Mittlerweile hatte Atlan seinen Helmzoom vor die Augen geklappt und nach Südwesten geblickt, wo Mortero die Gefahr gesehen hatte. Südwesten war auch die Richtung, in der Nevada Fields lag.

Dann plötzlich war der sonst so kaltblütige Arkonide überhaupt nicht mehr cool. Er brach die vereinbarte Funkstille und brüllte in sein Helmmikro: »Tolot! Alarmstart! Sofort! Ich setze einen Funkpeiler. Kommt uns zu Hilfe! Voller Angriff, keine Rücksicht nehmen. Wir sitzen in der Scheiße!«

Attithorn konnte unmöglich eine derart panische Reaktion hervorrufen. Verwundert sah auch ich mit dem Helmzoom in die Richtung der Gefahr.

Über dem Sand schwebte eine Space-Jet auf uns zu. Doch es war nicht unsere Jet. Unter ihr schwebten neun Monogleiter. Das war der Generalangriff des Cantaro!

»Bring die Kinder aus dem Bus«, brüllte mich Atlan an. Zugleich rannte er in Richtung des Gleitertrucks.

»Alles auf das schwebende Ding. Und alles auf einen Punkt!« befahl Mortero seinen Leuten an den beiden schweren Energiegeschützen. Ich gab ihnen keine Chance. Der Schutzschirm der Jet war nur durch Punktbeschuss zu knacken. Für einen Punktbeschuss bewegte sie sich zu schnell.

Ich riss die Tür zum Bus auf. »Raus!«, brüllte ich. »Jeder verlässt den Bus!« Eltern und Kinder blieben wie angewurzelt an ihren Plätzen sitzen. Sie waren von der Situation völlig überfordert.

»Raus«, brüllte ich nochmals und machte mit den Armen rudernde Bewegungen. Dann packte ich zwei der Kinder und zog sie aus den Sitzen hoch. »Ihr seid hier in Gefahr, der Bus kann jederzeit getroffen werden, dann bricht hier drinnen die Hölle los.«

Einige der Eltern schienen zu begreifen. »Tut, was der Mann euch sagt«, sagte einer der Männer und stand auf. Er nahm zwei der Kinder an der Hand und führte sie durch den Mittelgang. Das alles ging zu langsam.

Ich hörte Sirenen. Das kam nicht von uns. Das kam von den Angreifern. Die spielten dasselbe Spiel mit uns, das wir beim Angriff auf die Insektoiden gespielt hatten. Allerdings war ich mir sicher, dass unsere Angreifer keine Paralysatoren verwenden würden.

»Raus, raus!«, brüllte ich wieder. Auch andere Eltern hatten sich erhoben. Plötzlich kam Bewegung in die Menge und alle stürzten zu den Türen. Wenigstens hatte jemand die Mitteltür des Busses geöffnet, so dass nun zwei Ausgänge zur Verfügung standen.

Dann war ich der Letzte im Bus. Nur ein fünfjähriges Mädchen war gestürzt und hielt sich weinend an einem Türgriff fest. Ich hob sie auf, murmelte etwas Tröstendes und rannte hinaus.

Draußen herrschte das Chaos. Atlan kniete beim Gleitertruck und brüllte in das Mikrophon: »Tolot, wie lange braucht das noch?«

Eine Space-Jet war ein Raumfahrzeug. Die Entfernung von Las Vegas hierher war für sie praktisch nichts. Doch wenn Tolot mit voller Kraft startete, würde er einen Wirbelsturm auslösen, der keinen Stein auf dem anderen ließ.

Die Jet des Cantaro war unmittelbar vor der Wagenburg angelangt. Nun begann sie auf den Boden zu schießen und schob eine Schneise der Vernichtung vor sich her. Die Hitze war enorm. Die neun Monogleiter begannen Fahrt aufzunehmen und schießend auf unsere Stellungen zuzufliegen.

»Auseinander!«, schrie ich. »Geht in Deckung!« Zugleich versuchte ich Eltern und Kinder aus der Schneise der heranfliegenden Jet wegzuscheuchen.

Hinter mir hörte ich eine Explosion, und dann sofort eine zweite. Schützen aus Morteros Miliz hatten zwei der Monogleiter abgeschossen. Doch dann waren die Monogleiter da. Sie waren praktisch nichts anderes als ein Antigrav mit Beschleunigungsdüsen, auf dem rittlings der Monogleiter-Reiter saß. Am Bug der Gleiter waren speerähnliche Fortsätze angebracht, die die Gleiter selbst zu Waffen machten.

Die verbliebenen sieben Gleiter flogen über unsere Stellungen. Ich erkannte einige von Attithorns Leuten. Gezielt schossen sie mit Impulsstrahlern auf umherlaufende Menschen. Auf einem der Monogleiter saß Rez, auf einem anderen Lasso. Der Mann zielte auf eine Gruppe von drei Kindern, die sich ängstlich hinter einem unserer Fahrzeuge auf den Boden drückten. Ruhig zielte ich und schoss. Ich traf seinen Monogleiter und beschädigte ihn. Er flog eine Kurve, aus der Wagenburg hinaus in die Wüste. Lasso brüllt irgendetwas. Über der Wüste explodierte das Fahrzeug. Zufrieden registrierte ich, dass Lasso zum Zeitpunkt der Explosion noch auf dem Gleiter saß.

Jetzt ertönte hinter mir ein Krachen. Ich warf mich einfach nach vorne, dann sah ich mich um. Die Schneise, die das Geschütz der Jet erzeugte, hatte den Gleiterbus erreicht und ihn in zwei Hälften zerschnitten, die einfach auseinander fielen. Das war das Krachen gewesen.

Nun näherte sich die Energieschneise blitzschnell dem Truck. Wenn sie den Truck erreichte, würde der Energiekern hochgehen. Dann würde hier – abgesehen vom Insassen der Jet – keiner überleben. Praktisch in letzter Sekunde reversierte der Truck. Er kam aus der Schneise der Jet heraus, prallte aber gegen den hinter ihm stehenden Gleiter der Wagenburg. Das Fahrzeug wurde, samt darauf befindlichem Energiegeschütz, umgeworfen und die Schützen herunter geschleudert. Jetzt hatten wir ein Geschütz weniger.

Ich richtete mich auf und sah mich um. Von der Wagenburg war nicht mehr viel übrig. Quer durch die Burg zog sich die Schneise des Energiegeschützes. Der Gleiterbus war in zwei Hälften geteilt, der Truck war in einen der Gleiter verkeilt. Überall hörte man das Wimmern und Schreien verängstigter und verletzter Menschen.

Ich sah, wie Atlan aus der Kanzel des Gleitertrucks stieg. Er war es gewesen, der uns in letzter Sekunde gerettet hatte.

Doch die Rettung war nur vorübergehend. Unsere Gegner sammelten sich draußen in der Wüste. Nur drei der Monogleiter hatten wir ausschalten können, während von unserer Streitmacht nicht mehr viel übrig war. Den zweiten Ansturm würden wir nicht überleben.

»Achtung«, rief Atlan zu den Eltern der Kinder. »Rennt einfach in die Wüste hinaus und sucht euch irgendwo Deckung. Überall anders seid ihr im Augenblick sicherer als hier. Wenn sie wiederkommen, werden sie mit uns noch einige Minuten beschäftigt sein. Bis dahin müsst ihr euch versteckt haben. Das ist eure einzige Chance.«

Es war keine echte Chance. Hier gab es nichts zum Überleben. Mittelfristig würden die Flüchtlinge verdursten oder verhungern. Es war zum Verzweifeln.

Die zweite Angriffswelle kam auf uns zu. Wieder flogen die Monogleiter vor der Jet. Wieder begann die Jet auf den Boden zu schießen und eine Schneise zu ziehen. Wieder zielte die Schneise direkt auf den Truck. Und diesmal konnte niemand mehr den Truck aus der Schneise heraus bewegen.

Ich sah einen Vater, der zwei Kinder gepackt hatte und in die Wüste hinausrannte. Einer der Monogleiter schwenkte in seine Richtung und folgte ihm. Aus unserer Burg richteten sich drei Fernschüsse auf den Monogleiter. Einer streifte den Reiter des Gefährts, der aufschrie und von seinem Fluggerät stürzte. Die Maschine flog einfach schnurgerade weiter, irgendwohin in die Wüste hinaus.

Plötzlich war das Tosen eines Sturms zu hören. Der Energiestrahl der Jet, der bisher eine schnurgerade Schneise gezogen hatte, verlor plötzlich seine Richtung und zog eine eigentümliche Kurve, von unserer Wagenburg weg. Eine Seite des kleinen Raumschiffs wurde nach unten gedrückt und berührte kurz den Boden. Dann startete die Jet durch und raste, plötzlich viel schneller als zuvor, schräg über unsere Stellung hinweg in den Himmel. Ihre Triebwerke arbeiteten mit voller Kraft, sie beschleunigt für einen Atmosphärenflug viel zu stark.

Nachdem die feindliche Jet über unsere Stellungen hinweg geflogen war, stachen zwei Energiestrahlen aus dem Himmel und trafen sie. Tolot war da. Buchstäblich in letzter Sekunde war er eingetroffen. Er hatte sofort auf die angreifende Jet geschossen. Sein erster Schuss hatte zwar den Energieschirm der Jet nicht durchschlagen können, er hatte sie aber aus der Flugbahn geworfen. Doch nun behielt er sie im Dauerfeuer.

Inzwischen brach bei uns das Chaos aus. Sturmböen fegten über unsere Stellungen und rissen mich von den Füßen. Ich rappelte mich wieder auf. Der Luftdruck hatte Sand aufgewirbelt. Man konnte fast nichts mehr sehen. Dann drang ein Blitz durch den dichten Staubschleier hindurch. Dann hörte ich den Knall einer Explosion. Eine der Space-Jets war explodiert. War es die Jet des Cantaro gewesen oder unsere eigene?

Plötzlich sah ich vor mir einen Schatten. Ein Monogleiter flog vorbei. Ich hörte einen Schrei und erkannte Attithorns Stimme. Automatisch zielte ich auf den Gleiter, schoss und traf. Der Schrei brach ab, doch der Schatten flog weiter. Ich hatte einen Paralysator verwendet. Der bremste einen Monogleiter nicht ab.

Dann hörte ich einen zweiten Schrei. Es war ein Schmerzensschrei. Er kam von einem Ort, der direkt in der Flugbahn des Schattens lag. Ich rannte in die Richtung, aus der er gekommen war. Jetzt hörte ich nur noch ein Stöhnen. Dann fand ich Piandreo. Etwas hatte ihm Bauch und Brust aufgerissen. Nach wenigen Atemzügen brach auch sein Stöhnen ab. Piandreo war tot.

Neben ihm sah ich eine Mulde, die aussah, als sei etwas aufgeprallt. Ich sah nach. Attithorn lag am Boden. Ein Metallstück hatte sich in seinen Bauch gebohrt. Allerdings hatte ihn nicht das Metallstück getötet – der Sturz von seinem Monogleiter hatte ihm das Genick gebrochen.

Ein Stück weiter weg fand ich den Monogleiter, der sich in den Sand gebohrt hatte. Offenbar hatte Piandreo versucht, Attithorn aufzuspießen und war dabei selbst von einem Aufsatz von Attithorns Fluggerät durchbohrt worden. Er hatte eben nicht Atlans Erfahrung im Speerkampf. Nach dem Zusammenprall mit Piandreo hatte sich Attithorns Gleiter überschlagen. Das war sein Ende gewesen. So waren die beiden erbitterten Widersacher im Tod wieder vereint.

Ich fragte mich, ob ich Piandreo hätte retten können, wenn ich statt des Paralysators mit dem Impulsstrahler geschossen hätte.

Nun lichtete sich der Sand ein wenig, da die Sturmböen keine neue Nahrung erhielten. Ich konnte die Konturen abgestellter Fahrzeuge vor mir erkennen. Das stellte eine Gefahr dar. Ich beschloss, mir eine Deckung zu suchen und abzuwarten, bis sich die Verhältnisse zumindest soweit gebessert hatten, dass man Freund von Feind unterscheiden konnte. Bei diesen unklaren Sichtverhältnissen konnte ich genauso gut das Opfer der eigenen wie der gegnerischen Energiewaffen werden.

Vor mir lag das Wrack des Gleiterbusses. Ich arbeitete mich, immer in Deckung bleibend, seitlich vor und kam zu der Stelle, wo sich der Truck in den Waffengleiter verkeilt hatte. Dort kniete Atlan und achtete auf etwas außerhalb der Wagenburg. Ich kauerte mich neben ihn. Er spähte mit zusammengekniffenen Augen in den Staubschleier. Dann sprach er in sein Helmmikrophon: »Ich glaube, ich kann den Cantaro erkennen. Irgendwer ist dort draußen und verfügt über einen Energieschirm. Kannst du meinen exakten Standort bestimmten, Tolot?«

Tolot lebte also! Es war die Jet des Cantaro gewesen, die vorher explodiert war. Doch unser Gegner hatte überlebt und war irgendwo dort draußen. Wahrscheinlich hatte er sich mit dem Notmechanismus aus der Jet herauskatapultieren können.

Atlan blickte erneut konzentriert die Wüste. Plötzlich sah ich aus den Augenwinkeln einen Schatten an mir vorbeiflitzen. Es war ein Monogleiter, der im Schutz des Sandes in die Wagenburg eingedrungen war. Seine Flugbahn war exakt auf jene Stelle gerichtet, an der Atlan kniete.

Ich erkannte auf dem Gleiter Rez. Er hatte keinen Strahler mehr und benutzte seinen Gleiter als Waffe, um Atlan mit einem der Speerfortsätze aufzuspießen. Für eine Warnung war es zu spät. Atlan hätte nicht mehr rechtzeitig reagieren können. Ebenso wenig würde es etwas bringen, wenn ich Rez vom Gleiter schoss, da ich dadurch die Flugbahn des Gleiters nicht veränderte. Das hatte ich vorher bei Piandreo gesehen.

Ich hörte einen Schrei: »Vorsicht, Atlan!« Zugleich sprang Virga vom Dach des Gleitertrucks und gab Atlan einen Stoß, der ihn zu Boden warf. Der Stoß beförderte Atlan aus der Flugbahn des Gleiters. Doch zugleich befand sich Virga nun an der gefährdeten Stelle – und wurde vom Monogleiter erfasst.

Einer der Speerfortsätze erfasste die Frau und durchbohrte sie. Dann schleifte er sie mit hinaus in die Wüste.

»Virga! Nein!«, brüllte Atlan. Dann stürzte er ihr nach. Ich sprintete zu Atlans vorherigen Standort, um ihm von dort Feuerschutz zu geben. Atlan nahm Virgas hilflosen Körper in den Rettungsgriff und zerrte sie zurück in unsere Deckung. Ich sah sofort, dass ihr nicht mehr zu helfen war, ebenso wenig wie vorher Piandreo. Atlan nahm sie in die Arme und wiegte sie wie ein Kind. »Virga, warum hast du das getan?«, fragte er.

»Ich liebe dich doch!«, stöhnte sie. Dann brach ein Blutschwall aus ihrem Mund. Ihr Tod kam schnell: Nach einem Röcheln war sie still. Atlan prüfte ihren Puls und sagte leise: »Es ist vorbei.«

Ich nahm Atlans Platz ein, um ihm Zeit zu geben, und beobachtete die Wüste. Nach einer Weile bemerkte ich die Umrisse eines Energieschirms. »Achtung, er ist vor mir«, rief ich in mein Helmmikro. »Tolot, du kennst den Plan. Wir brauchen ihn lebendig. Er ist der Einzige, der vielleicht mehr darüber weiß, was hier los ist. Du schießt nur so lange, bis sein Schutzschirm zusammenbricht. Dann holen wir ihn uns mit den Paralysatoren.«

»Klar doch, du kannst dich auf mich verlassen«, sagte Tolot. Dann war sein dröhnendes Lachen zu hören. Er wusste noch nicht, was hier herunten passiert war.

Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir. Mortero stand zwischen zwei Trümmerstücken und schrie in die Wüste hinaus: »Komm doch, Rez, du Sohn eines Scheißhauses. Du bist nicht geboren, sondern von deiner Mutter herausgeschissen worden. Du bist im Klo zur Welt gekommen und man hat die Scheiße mit dem Kind verwechselt!« Er gestikulierte wild und tobte weiter. Offenbar hatte ihm der Schmerz über den Tod seiner Schwester in dieser mörderischen Situation den Verstand geraubt.

Ich wollte ihn warnen. Doch wieder war es zu spät. Rez raste auf ihn zu. In letzter Sekunde warf sich Mortero zur Seite. Der Monogleiter raste haarscharf über ihn hinweg. Und als der Gleiter zwischen den beiden Trümmern hindurch flog, fiel Rez der Kopf von den Schultern.

Mortero hatte nicht den Verstand verloren. Eiskalt hatte er Rez in eine Falle gelockt. Er hatte einen Draht zwischen den beiden Trümmern gespannt, den Rez nicht sehen konnte. Und als Rez hindurch flog, war er geköpft worden.

Nun ergriff Mortero den abgetrennten Kopf bei den Haaren des Sichelkammes und hob ihn hoch. Grimmig blickte er in das tote Gesicht: »Hallo, wie geht’s, Rez?«, fragte er. »Hörst du mich noch? Siehst du mich noch? Ich hoffe doch. Du sollst deinen Tod schön und genüsslich erleben.«

Ich musste daran denken, dass man nicht sofort stirbt, wenn der Kopf vom Körper getrennt wird. Erst wenn der durch die Trennung vom Körper verursachte Sauerstoffmangel eintritt, verliert das Gehirn das Bewusstsein. Mortero hatte gute Chancen, dass Rez tatsächlich noch etwas von seinen Worten mitbekommen hatte. Ich gönnte es ihm.

Dann gab Mortero dem Kopf einen Kick und schoss ihn wie einen Fußball in hohem Bogen aus der Wagenburg.

Ich blickte wieder in die Wüste hinaus. Draußen beschoss Tolot den Wüstenboden, bis dem Cantaro nur noch die Möglichkeit blieb, auf unsere Stellung zu zu flüchten. Direkt vor meiner Deckung nahm ihn Tolot dann unter dosiertes Dauerfeuer. Der Haluter war gut. Er besaß ja ein Planhirn. Er hatte alles genau berechnet. »Achtung, der Schutzschirm flackert, gleich ist es so weit«, sagte ich in mein Helmmikro. Plötzlich lag Atlan neben mir und begann, den Cantaro mit der Handfeuerwaffe zu beschießen. »Tolot aus!«, rief er in das Helmmikro. Ich hatte den Cantaro im Visier meines Paralysators. Gleich würde sein Schutzschirm zusammenbrechen. Nichts konnte schiefgehen.

Plötzlich kam von rechts ein Schatten. Es war einer der Monogleiter. In dem Augenblick, als der Schutzschirm zusammenbrach, erfasste er den Cantaro. Das hätte ihn nicht umgebracht. Cantaros waren Cyborgs. Sie überlebten Verletzungen, die Menschen töten würden. Doch es blieb nicht dabei, dass ihn der Monogleiter aufspießte. Jemand hatte am Gleiter Granaten angebracht, die nun explodierten. Dann ging auch noch die Energiebatterie des Gleiters hoch. Nach dieser Explosion war vom Cantaro nicht mehr viel übrig. Unser Plan war misslungen, die einzige erkennbare Informationsquelle in Flammen aufgegangen.

Draußen in der Wüste sah ich eine Gestalt, die wieder auf die Beine kam. Es war Mortero. Er hatte den Monogleiter von Rez bestiegen, einige Granaten angebracht und dann gegen den Cantaro gesteuert. Er hatte auf seine Art reinen Tisch gemacht. Und damit alle unsere Pläne zerstört.

*

Nicht einmal zehn Minuten waren seit der ersten Sichtung der Angreifer vergangen. Doch diese zehn Minuten des Kampfes hatten bewirkt, dass um uns herum der ganze Konvoi in Trümmern lag. Und auch in den Herzen der Menschen hinterließen diese zehn Minuten Verwüstung.

Es gibt Augenblicke, die würde man am liebsten aus der Wirklichkeit streichen und ungeschehen machen. Diese letzten Minuten gehörten dazu.

Ich sah zu Atlan. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass für ihn die Zerstörung unserer Pläne im Augenblick das geringste Problem war. Er kniete wieder bei Virgas Leichnam.

Mortero kam zu uns und fragte, ob wir mit der Space-Jet in der Wüste nach Überlebenden suchen könnten. Er war ein guter Anführer: Jetzt beschäftigten ihn nur die Probleme, die er unmittelbar lösen musste. Sobald er allein war, würde ihn die Trauer erreichen. Ich kannte das.

Zunächst setzte sich Mortero mit Old McGraw und Anthon zusammen und hielt Kriegsrat. Dann machte sich Anthon daran, den Gleitertruck wieder flott zu machen. Ich bot meine Hilfe an, doch davon wollte er nichts wissen.

Tolot sammelte die in die Wüste Geflüchteten ein. Zumindest war keines der Kinder getötet worden. Wenigstens das war ein Lichtblick. Doch sonst gab es genügend Verluste zu beklagen.

Nach Piandreos Tod trug nun Mortero die Verantwortung. Die Trauer hatte ihn erreicht: Er sprach nicht mehr mit uns. Old McGraw kam zu mir und erklärte: »Er gibt euch die Schuld am Tod seiner Schwester. Er will nichts mehr mit euch zu tun haben.«

»Was wollt ihr jetzt tun?«, fragte ich.

»Wir werden in die Station zurückkehren«, antwortete Old McGraw. »Attithorn und Rez sind tot. Aber Oneeye und Brains befinden sich nicht unter den Toten. Nach Attithorns Tod wird Oneeye die Führung übernehmen.

Nach dem Tod des Gotteskriegers haben seine Leute keinen Zugang zu überlegener Technologie. Jetzt sind wir die Überlegenen. Das werden wir zu nutzen wissen.«

»Das heißt, ihr werdet eine Bestrafungsaktion gegen sie starten?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete McGraw. »Wir werden versuchen, mit ihnen zu verhandeln. Mit Oneeye kann man reden, ebenso mit Brains. Es hat aber nicht nur gute Seiten, dass der Gotteskrieger verschwunden ist. Jetzt droht nämlich die Gefahr, dass die Insektoiden über die Berge zurückkommen. In dieser Situation müssen wir mit allen Menschen zusammenarbeiten, auch mit der Horde von Attithorn.«

»Können wir euch irgendwie helfen?«, fragte ich.

»Anthon konnte den Gleitertruck wieder in Betrieb nehmen. Für den Transport des Energiekerns benötigen wir euch nicht. Aber ihr könntet mit eurer Jet die Menschen in den Stützpunkt zurückbringen. Das würde Mortero zulassen. Und damit könntet ihr uns noch helfen.«

*

Der Abschied war kurz und frostig. Mortero akzeptierte nicht, dass Atlan an der Bestattungszeremonie für seine Schwester teilnahm. Die Leute der Station gaben uns zu verstehen, dass wir verschwinden sollten, je schneller desto besser. Wir brachen auf, ohne Abschied zu nehmen.

Wir flogen nach Nevada Fields. Dort fanden wir den Schlupfwinkel des Cantaro im Ortungszentrum des Raumhafens. Wir mussten eine Reihe von Schutzmechanismen ausschalten, um hineinzugelangen. Schließlich standen wir vor Syntroniken aus cantarischer Produktion. Es war leicht, in sie einzudringen. Doch wir fanden nichts. Der gesamte Inhalt war gelöscht worden. Der Zeitpunkt der Löschung war der Tod des Cantaro. Anscheinend war das Auslösen eines Fernimpulses an seine Lebensvorgänge gekoppelt worden.

Danach berieten wir, wie wir weiter vorgehen konnten. Zwei Hinweise konnten uns weiterhelfen: Nadine Schneider hatte mir auf SOLARIS STATION ein Passantum ausgehändigt. Und unmittelbar nach meiner Ankunft in diesem grünen Universum hatte ich eine Art Luftspiegelung gesehen, die jene Ebene auf Trokan zeigte, auf der sich der Pilzdom befand. Beides konnte kein Zufall sein. Wir beschlossen daher, nach Trokan zu fliegen und dort weiter zu suchen.

Atlan bat uns, während der letzten Nacht eine bestimmte Stelle im Trümmergebiet von Las Vegas aufzusuchen. Mir behagte diese Idee nicht, da wir uns wieder ziemlich nahe an Morteros Station befinden würden. Trotzdem wollte niemand Atlan diesen Gefallen abschlagen.

Unmittelbar nach der Landung sonderte sich Atlan von uns ab und suchte eine Stelle auf, die sich durch nichts von den anderen Stellen des Trümmergebietes unterschied. Nach einer Weile folgte ich ihm. Er saß auf einem Felsblock und sah in eine Mulde hinab. Ich setzte mich neben ihn. Eine ganze Weile saßen wir wortlos neben einander. Dann sagte Atlan:

»Hier waren wir einander ganz nahe. So nahe, wie sich zwei Menschen nur sein können. Und einen Tag später hat sie sich für mich geopfert.«

»Es war ihre Entscheidung. Du hättest es nicht verhindern können«, sagte ich.

»Ich trauere um sie. Sie hätte nicht so sterben sollen. Nicht so früh und nicht auf diese Art.« Danach war Atlan eine Weile still. Dann fuhr er fort: »Außerdem fühle ich mich schuldig. Ich wollte mit ihr eine schöne Zeit haben. Ich wollte ihr Liebe geben und ihre Liebe bekommen. Aber ich habe gewusst, dass es nicht für immer sein wird. Nachdem sie sich nun für mich geopfert hat, sieht es so aus, als hätte sie das anders gesehen, als hätte es für sie für immer sein sollen. Ich frage mich, ob ich ehrlich war.«

»Ich glaube nicht, dass du ihr ewige Treue oder die Ehe versprochen hast«, antwortete ich.

»Das natürlich nicht«, antwortete Atlan. »Aber darüber muss man nicht immer sprechen.« Wieder war es einige Zeit ruhig. Dann sagte er:

»Eine ganze Reihe von Frauen, die mich geliebt haben, sind in meinen Armen gestorben. Farnathia, meine erste Liebe, Mirona Thetin … zu viele für ein einziges Leben.«

Unwillkürlich musste ich daran denken, wie ich mich fühlen würde, wenn sich Ydira für mich geopfert hätte. Und dann fiel mir unser Gespräch ein, das wir nach meiner Trennung von ihr geführt hatten, und ich sagte: »Es erspart viel Schmerz und viele Gewissensbisse, vorsichtig zu sein, bevor man sich auf eine Beziehung einlässt.«

Wieder war Atlan eine ganze Weile still. Dann sagte er: »Soll ich meinen Gefühlen aus dem Weg gehen? Nur noch für Verantwortung und abstrakte Ideale leben? Ich würde die Verbindung zu mir selbst, zu meiner Menschlichkeit verlieren. Es kann nicht gut sein, nur noch für die Verantwortung gegenüber der Menschheit und dem Universum zu leben.«

Wir saßen noch eine Weile still neben einander und blickten in die Mulde. Es war aber bereits alles gesagt worden. Nach einer Weile stand ich auf und ging zu den anderen zurück.

Später sah ich, dass Denise Joorn zu Atlan ging. Sie hatte eine Flasche Rotwein aus den Vorräten der Space-Jet mitgenommen. Als ich mich später am Abend hinlegte, sah ich, dass sie noch immer beieinander saßen.

ENDE

Im nächsten Roman von Jens Hirseland wird die Geschichte in dem unwirklichen Universum weitererzählt. Es wird zum Showdown auf Trokan kommen und die Reise geht weiter. Der Titel von Band 80 ist

KREUZ DER GALAXIEN

DORGON-Kommentar

Zur Handlung ist allgemein festzustellen, dass sie unsere Helden nicht wirklich weiterbringt. Durch die Vernichtung des Cantaro erhalten sie nach wie vor keine zusätzlichen Informationen. Wir wissen also (genau wie die Hauptpersonen) immer noch nicht, wo, wann und warum sie sich in diesem »Grünen Universum« befinden.

Ich möchte mir jedoch ganz allgemein zwei Bemerkungen gestatten:

  1. So langsam finde ich, wird die Humanität weit übertrieben. Ich finde es beispielsweise unglaubwürdig, dass, wenn unsere Helden mit Impulsstrahlern und schweren Energiegeschützen angegriffen werden, sie sich nur mit Paralysatoren wehren. Bei den Angreifern handelt es sich, um mit unseren Moralvorstellungen zu argumentieren, um mehrfache Mörder und Vergewaltiger, denen gegenüber jeder Bürger das Recht der Notwehr hätte.
  2. Die zweite Anmerkung betrifft unseren unsterblichen Arkoniden und stellt, zugegebenermaßen, nur meinen persönlichen Wunschtraum dar. Ich finde die Strecke der »erlegten« Frauen so langsam unerträglich, quasi nach dem Motto: Er kam, sah, raspelte Süßholz und legte flach! Wann wagt es ein Autor endlich einmal, den Arkoniden auf eine Frau treffen zu lassen, die dieser nicht durch einen »tiefen Blick in ihre Augen« gleich in die »Horizontale« befördert? Weitaus reizvoller wäre für mich z. B. eine Situation gewesen, in der Virga unseren Potenzprotz hätte abblitzen lassen und sich stattdessen mal intensiver mit Alaska (einschließlich dessen Verführung!) beschäftigt hätte. Aber ich weiß ja, nicht jeder Wunsch wird erfüllt, obwohl gerade Weihnachten ist.
    Dem Ganzen wird übrigens am Schluss die Krone aufgesetzt, indem sich unser Arkonide, kaum sind seine »Trauerminuten« vorbei, gleich intensiver mit dem »einzig erreichbaren weiblichen Wesen« beschäftigt. Wie das endet, dürfte wohl jedem klar sein.

Jürgen Freier

GLOSSAR

Terrans

Die Nachfahren der normalen Terraner haben, nach der Zerstörung von Terrania City durch die Insektoiden, Höhlensysteme unterhalb der Solaren Residenz besiedelt. Dort leben die Terrans seit mehr als 3000 Jahren und meiden die Außenwelt, insbesondere die Insektoiden. Sie verehren den sogenannten »Ewige Hüter«, nicht ahnend, dass es sich dabei um den Cantaro Lorsahl handelt. Erst Atlan deckt den Schwindel auf. Die Terrans schließen auf Alaskas und Atlans Intervention hin Frieden mit den Insektoiden und bauen eine neue Welt auf.

Lorsahl

Lorsahl ist ein Cantaro, von den Insektoiden auch »Gotteskrieger« oder von den Terrans »Ewiger Hüter« genannt. Offensichtlich gehört er zu den Beherrschern der Erde in der 3000 Jahren entfernten Zukunft. Seine äußere Erscheinung ist die eines »typischen« Cantaro. Er arbeitet offensichtlich für den wahren Beherrscher der Erde und ist nur einer von vielen. Atlan vermutet, dass es sich bei seinem Auftraggeber um Monos handelt.

Attithorn

Der Topsider Attithorn ist Anführer einer Bande von Verbrechern. Attithorn tauchte plötzlich in der Siedlung der Menschen und Insektoiden in New Desert, Nevada auf und versammelte jede Menge Abschaum um sich herum. Er beginnt einen Krieg gegen die Insektoiden und kann sie mit Strahlenwaffen bekämpfen, die er letztlich von dem Cantaro Lorsahl erhielt, um damit Unruhe zu stiften. Attithorn tyrannisiert auch New Desert. Die Bewohner stehen im Krieg der Insekten und Attithorns Leuten zwischen den Fronten. Mit den Waffen des Cantaro besiegte er die Insektoiden und ist andererseits auch verantwortlich für den Tod von Virgas und Morteros Eltern. Seitdem jagt Attithorn die Menschen von New Desert und findet letztlich im Kampf den Tod.

Virga

Morteros Schwester ist eine dunkelhäutige Amazone in der Wüste Nevadas. Sie ist etwa 30 Jahre alt, 1,79 Meter groß, durchtrainiert und schlank.

Virga war eine normale Siedlerin, bis ihre Familie von Attithorns Leuten niedergemetzelt wurde. Die hochgewachsene Afroterranerin entwickelte sich zur Einzelkämpferin und schloss sich, zusammen mit Mortero, den Bewohnern der Energiestation an, wo beide eine wichtige Rolle übernehmen.

Virga misstraut zuerst Atlan, entwickelt dann jedoch Vertrauen und schließlich Gefühle für ihn. Sie stirbt während des Kampfes gegen Attithorns und Rez‘ Leute.

Mortero

Der hochgewachsene, dunkelhäutige Terraner Mortero gehört zu den Anführern der Flüchtlinge von New Desert. Er ist der Bruder von Virga und war früher ebenfalls Siedler. Sein Leben hat sich nach dem brutalen Überfall Attithorns geändert, bei dem auch seine Eltern ihr Leben verloren. Mortero wird nach Piandreos Tod Anführer der New Desert-Terraner.

Psiq

Das Wort Psiq ist die Abkürzung des Begriffs Psionisches Informationsquant oder auch kurz Psiquant.

Kosmonukleotide sind psionische Informationspools. »Innerhalb« eines Kosmonukleotids finden sich »Kosmische Informationsquanten«, so genannte Psiqs, die verschiedene alternative Entwicklungen des Universums enthalten bzw. ermöglichen. Psiqs können sowohl potentielle Zukünfte als auch potentielle Vergangenheiten repräsentieren. Dabei enthält jedes einzelne Psiq den gesamten Einflussbereich des Kosmonukleotids. Sie dienen zur Erhaltung der Naturgesetze und zur Festlegung der Weiterentwicklung des bekannten Universums.

Wirkungsweise

Sollen Informationen von einem Kosmogen an das Universum abgegeben werden, so sammeln sich Gruppen von Psiqs an der Wandung der Kosmonukleotide. Sobald die Psiqs sich in einer bestimmten Reihenfolge in einem Kosmonukleotid formiert haben, entsteht außerhalb seiner Wandung ein Kosmischer Messenger, der ebenfalls aus psionischen Feldern besteht. Die Psiqs selbst verlassen das Kosmonukleotid nicht, es werden lediglich die in ihnen gespeicherten Informationen auf den Messenger kopiert. Der Messenger sucht in der Folge alle weiteren Nukleotide des Kosmogens auf, bevor er an den Ort des Universums wechselt, an dem die kopierte Information wirksam werden soll.

Mehr in der Perrypedia: http://www.perrypedia.proc.org/wiki/Psiq


Die DORGON-Serie ist eine nicht kommerzielle Publikation des PERRY RHODAN ONLINE CLUB e. V. — Copyright © 1999-2016

Internet: www.proc.org & www.dorgon.netE-Mail: proc@proc.org

Postanschrift: PROC e. V.; z. Hd. Nils Hirseland; Redder 15; D-23730 Sierksdorf

— Special-Edition Band 79, veröffentlicht am 31.10.2016 —

Titelillustration: Lothar Bauer • Innenillustrationen:

Lektorat: Alexandra Trinley und Jürgen Freier • Digitale Formate: René Spreer