Band 52
Osiris-Zyklus
Alexander Kaiser & Tobias Schäfer
Was bisher geschah Im Jahre 1298 hat sich einiges in Cartwheel verändert. Langsam hat sich die Völkergemeinschaft von den Ereignissen im Xamour-System 1296 NGZ erholt, die Tatsachen verdaut, dass Aurec und Gal’Arn nicht mehr da sind und ein Kosmonukleotid knapp 500.000 Lichtjahre von Cartwheel entfernt liegt – TRIICLE 3. Die Administration des Terrablocks plant nun mehr über die Nachbarschaft der Galaxis herauszufinden. So wird im März 1298 NGZ eine Expedition nach Seshonaar geschickt. Doch die drei Raumschiff NIMH, SLEEPY HOLLOW und BLAIR WITCH geraten früh in große Probleme. Die Crew der SLEEPY HOLLOW verfällt dem Wahnsinn. So kehren die BLAIR WITCH und SLEEPY HOLLOW zurück nach Cartwheel. Die NIMH findet im Zentrum von Seshonaar Sternenportale und eine Flotte von MODROR. Sie müssen fliehen und werden in einer Galaxie stranden, die ihnen tiefe Einblicke in die Welt des MODROR gewähren. Abseits von diesen Ereignissen lebt auf der barymischen Welt Entrison: NYRRAK … |
Hauptpersonen Nyrrak – Der Sammler von der Welt Entrison. Jila – Eine Kellnerin vom Wirtshaus. Yanni – Nyrraks Weib. Teddus – Der Bucklige. Trakmadon – Der Inquisitor von Entrison. Drullf – Ein kauziger Rytar.
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Ich stehe an einem Ort, der mir seltsam vertraut ist. Es ist nicht der Anblick. Unter mir, neben mir, über mir ist ... Nichts! Undurchdringliche Schwärze, finster wie eine schwere Decke, die man mir über den Kopf geworfen hat. An manchen Stellen scheinen Nadelstiche in der Decke zu sein, durch die Tageslicht dringt, fernen Lichtern gleich, so verheißungsvoll und doch so fremd.
Ich stehe hier und starre hinaus, hinaus in die Finsternis, in die unendliche Ferne. Fast meine ich, den Göttern in die Augen sehen zu können.
Ich verharre, angewidert über meine eigene Vermessenheit. Wieso sollte ich, ausgerechnet ich, den Göttern ins Antlitz schauen?
Dann geschieht es ...
Die Dunkelheit vor mir verschwindet, macht etwas Großem ... etwas Gewaltigem Platz. Ein riesiges Etwas schiebt sich vor mich wie ein Berg, den Seth fällte und der sich nun weigert, nach unten zu fallen. Er strebt nach oben, an mir vorbei. Nahe genug, dass ich meine, ich bräuchte nur meine Hand auszustrecken, um ihn berühren zu können. Ich sehe hoch, doch das Ende dieses Berges verschwindet schnell in der Ferne. Einzig durch das Erlöschen der Nadelstiche weiß ich, wo es sein muss, das obere Ende des Berges.
Ich sehe zu den Seiten. Doch auch dort scheint der Berg unendlich zu sein. Keine Schründe, keine Felsvorsprünge, nur glatte Unendlichkeit, die mir die fernen Lichtpunkte raubt, meine Hoffnung nimmt.
Ich sehe nach unten, ich sehe zur Wurzel des Berges, doch scheint er keinen Anfang zu haben, den ich hätte sehen können. Doch, dort in der Tiefe, dort lodern ferne Flammen in merkwürdigen Farben, klein noch, aber stark genug, dass ich sie sehen kann.
Als plötzlich ein nahes Licht an meinen Augen vorüberzieht, sehe ich auf.
Und erkenne einen Bruch im Berg, der vorüber ist, bevor ich begreife, was geschehen ist. Dort! Noch ein Bruch, einer Höhle gleich! Und hier, weit rechts, ein weiterer! Ich starre direkt in einen Bruch hinein, und was ich sehe, verschlägt mir den Atem. Menschen sind in diesem Berg, Menschen in fremden, klobigen Rüstungen, die in den Höhlen umherwandern.
Ist dies ein Berg? Kann dies ein Berg sein? Oder ist es ...
Mein Atem stockt, ich spüre eine kalte Hand nach meinem Herzen greifen. Oder ist das ein Götterwagen? Ist dies das himmlische Gefährt von Osiris, dem Ernährenden?
Oder ist es Seths Streitwagen, mit dem er ausfährt, das Böse in die Finsternis zurück zu drängen?
Und sind die Menschen an Bord seine Getreuen, Soldaten, Waffenleute und Lenker, die mit ihm fahren?
Ich will mit, geht es mir durch den Kopf. Unbändige Wut steigt in mir auf, grenzenlose Enttäuschung, weil ich nicht in diesem Berg bin, in diesem Götterwagen. Osiris, Seth, Ra, warum bin ich nicht auf diesem Wagen?
Stumm gebe ich mir die Antwort. Weil ich kein Krieger bin, eines Gottes würdig. Nur ein Bauer.
Nur ein Bauer ...
Wie lange stehe ich hier schon? Starre den Lichtern nach, sehe den Anfang des Berges, seine Wurzel näher kommen? Ich weiß es nicht. Und dann, dann ist es soweit, und der Grund des Streitwagen zieht an mir vorbei. Wieder sehe ich lange, wunderschön gefärbte Flammen heraus schlagen, die den Wagen vorantreiben.
Der Streitwagen wird kleiner, bis ich den Punkt, an dem er die Nadelstiche in der schwarzen Decke verhüllt kaum mehr sehen kann.
Bis der Streitwagen, der Berg der Götter, sein Feuer ausspeit! Weit schleudert er seine Lohen in die Finsternis, und ja, ich sehe einen anderen Wagen, der die Nadelstiche verdeckt. Er wird getroffen und hüllt sich ein in eine grüne Aureole. Auch er schleudert Feuer, wirft es weit Seths Streitwagen entgegen und der Wille des Gottes lässt eine andere, eine rote Aureole entstehen, die das Feuer frisst.
So sehe ich es. Verbissen miteinander ringend, sich gegenseitig heiße Grüße sendend, entfernen sich die Wagen von mir, und irgendwann ist da ... nur noch die Dunkelheit, einzig unterbrochen von den Nadelstichen, den fernen Lichtern.
Ich sehe nach oben, aber die Wagen sind fort.
Ich sehe nach unten, aber es kommt kein neuer Berg, kein neuer Streitwagen.
Ich sehe nach links, ich sehe nach rechts ... und erstarre. Denn dort in der Ferne ist ein Schimmern, ein Schemen. Ich blinzle, versuche zu erkennen, was dort ist. Und plötzlich ist mir, als würden mich zwei Augen anspringen, als würde mich eine Stimme in meinem Geist fragen: »Wer bin ich?«
Und ich sage: »Wer bin ich?«
Dann wache ich auf!
Schweiß gebadet fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Ich muss geschrien haben, denn meine Frau Yanni schlug mir in die Seite.
»Schlaf weiter. Es ist noch mitten in der Nacht«, brummte sie und drehte sich von mir weg.
»Als wenn er nicht hart genug arbeitet«, brummelte sie, bevor sie erneut eingeschlafen war.
Ich sah sie an. Natürlich arbeitete ich hart. Sehr hart sogar. Meine Frau sollte es gut haben.
Ich starrte auf meine Hände, verschwelt von der schweren Arbeit, als könnte ich in ihnen die Antwort auf alle Fragen finden. Warum hatte ich jede Nacht diese Träume? Warum träumte ich von den riesigen Götterwagen? Und was waren es für Götter, die in ihnen fuhren? Es gab doch nur einen Gott, MODROR, der die Welt Entrison, das Land der Gelobten, in zehn Tagen erschaffen hatte. War ich verrückt? Begann ich an meinem Gott zu zweifeln? Ich horchte in mich hinein. Aber nein, da war kein Zweifel. Da war kein Zaudern. Ich verehrte MODROR, ich liebte ihn. Ihn, der alles erschaffen hatte. Und ich diente ihm, so gut ich es konnte. Bisher hatte ich immer gedacht, MODROR würde wohlgefällig auf mich sehen. Immerhin hatte er Yannis Herz für mich erwärmt. Sie kam aus einer sehr religiösen Familie und viele reiche Männer hatten um sie geworben. Aber ihr Vater hatte sie lieber einem armen, aber dafür frommen Mann gegeben. Mir.
Warum träumte ich dann von den fremden Göttern? War dies nicht Blasphemie? Versuchte ich nicht damit meinen Gott, meinen Herrn? Und verbot nicht die Inquisition einem jeden, einen anderen Gott denn MODROR anzubeten?
Vielleicht aber, spanne ich den Faden weiter, war dies eine Prüfung. Vielleicht versuchte mich MODROR, vielleicht testete er die Stärke meines Glaubens.
Aber diese Prüfung würde ich bestehen. Nichts war fester als mein Glaube an ihn.
»Oh, MODROR, der du ewig bist, wache über meinen Schlaf«, murmelte ich und sank zurück auf das harte Lager.
*
Als der Kekkok den beginnenden Morgen begrüßte, erhob ich mich. Es würde noch ein wenig dauern, bevor MODRORs Auge sich anschickte, auf die Täler am Amum-Fluss herab zu schauen, aber bevor ich auf die Felder gehen konnte, hatte ich noch Einiges zu tun.
Ich kleidete mich in Mantel und Kopftuch und verließ das Schlafzimmer, um mein Weib nicht zu wecken. In der Küche mahlte ich Getreide und rührte Wasser ein, dazu gab ich gestoßene Blätter. Bis Yanni aufgestanden war, würde der Brei genug gestanden haben, um zu munden. Ich selbst nahm mir kaltes Brot vom Abend.
Als ich gegessen hatte, verließ ich die Hütte. Meine Felder lagen direkt am Amum. Dort gab es viel und gutes Wasser, aber wenn der Fluss durch MODRORs Zorn anschwoll, trat er schnell über die Ufer und ließ Feld und Wiesen unter seinem Wasser verschwinden.
Schnell aber hatte ich bemerkt, dass dies kein Unglück war. Es gab Felder, die höher, geschützter lagen, auf denen die Ernte sicherer war. Aber wenn MODRORs Zorn vergangen war, hatten jene, die ihre Felder nahe des Amum bestellten, dreifaches Glück. Denn der Amum schenkte ihnen seine Küsse, fruchtbare Erde, in denen sie dreimal statt nur zweimal ernten konnten.
Es war eigentlich recht einfach, wenn man es genau besah. Der Zorn unseres Gottes regte sich zweimal im Jahr, und dies stets zur gleichen Zeit. Fuhr man die Ernte zuvor ein oder säte man erst nach der Flut aus, dann konnte man über die nur spotten, die ihre hohen Felder priesen und auf die armen Bauern herab sahen, die nahe am Wasser gepflanzt hatten.
Ich lachte laut. MODROR meinte es gut mit mir. Er hatte mir Frömmigkeit und einen wachen Verstand geschenkt. Und ich gab mein Bestes, um diese in seinem Sinne zu nutzen.
*
Ich besaß sieben Felder. Sie alle lagen direkt am Fluss, weil dieses Land das günstigste war. Eines meiner Felder war sogar auf der anderen Seite des Amum, ein Umstand, der mir in der Ernte viel Arbeit brachte. Der Zorn unseres Gottes war vor vier Tagen vergangen und vor drei hatte ich meine Felder abgesteckt. Heute wurde es Zeit, den Boden aufzuhaken, um ihn für die Frucht zu bereiten, die in seinem Schoss bergen und reifen sollte.
Ich würde, wie immer, mit dem Feld beginnen, das am tiefsten lag, da MODRORs Zorn es als erstes treffen würde.
»Ah, Nyrrak!«, empfing mich Telos bereits von Weitem.
Ich seufzte ergeben und sandte ein Stoßgebet zum Auge Gottes. Nicht schon wieder dieser Wichtigtuer.
»Endlich kommst du. Betrüger!«, rief er und fuchtelte mit einem Stab vor meiner Nase herum.
»Betrüger? Aber Telos, ich bin es, Nyrrak. Die Gebote Gottes verbieten es, zu betrügen.«
»Schön hältst du dich an MODRORs Gebote! Schnappst dir einfach das beste Land, wie es dir gefällt. Und denkst auch noch, wir merken es nicht. Aber das sage ich dir, wenn ich den anderen Bauern von deinem Betrug erzähle, wirst du in Zukunft nur noch Felder auf den Anhöhen bestellen!«
Bevor er mich mit dem Stab verletzen konnte, ergriff ich ihn und entwand ihn Telos Händen. »Telos, du versuchst nun schon seit einem Jahr, an mein Land zu kommen, seit du Amums Küsse kennst. Wie willst du es heute versuchen?«
»Was? Du wagst es? Du, ein Betrüger, wagst es, mir unlauteres Benehmen vorzuwerfen?«
Angelockt durch das Gezeter des Bauern trat Zoltran heran. Er war bereits ein alter Mann und hatte genügend Söhne für seine Feldarbeit gezeugt, aber die Felder zu bestellen, war sein Leben. So griff er auch jetzt noch gerne selbst zur Harke und bestellte das Land. Ihm gehörten alle Äcker hinter meinem Land, die stromaufwärts lagen. Er hatte schnell erkannt, wie fruchtbar das Land nach dem Zorn MODRORs war und war mir ans Ufer gefolgt. Alleine schon, weil es hier sehr leicht war, an Wasser zu kommen.
»Na, Telos, was machst du für ein Geschrei? Willst du nicht zurück zu deinen Feldern gehen und sie bestellen? Bald muss die Saat in den Boden, wenn du dreimal ernten willst.«
»Das will ich ja!«, rief der Bauer und deutete auf mich. »Aber dieser Betrüger hier, es ist nicht zu glauben, er hat sich an meinem Land bereichert. Vielleicht hat er sogar etwas von deinem Land genommen, Zoltran.«
Der alte Mann schmunzelte. »Soso. Und wie hat er dir Land weggenommen? Erkläre mir das.«
»Na – damit!«, rief er und deutete auf den Stab in meiner Hand.
»Mit dem Messstab, mit dem wir nach der Flut unsere Felder abstecken?« Nachdenklich runzelte Zoltran die Stirn.
»Ja, mit dem Messstab! Und ich denke, er hat auch mit dem Winkelzeug betrogen!«, ereiferte sich Telos. »Nur weil er einer der Wenigen ist, die damit umgehen können, braucht er nicht zu glauben, wir würden seinen Betrug nicht bemerken. Nicht, Zoltran?«
»Langsam, langsam«, sagte der alte Bauer und hob die Hände. »Nyrrak ist sehr geschickt. Und MODROR hat ihm Weisheit gegeben, weit über sein Alter hinaus. Bisher hat er sich noch nie vertan, wenn er nach dem Zorn Gottes unsere Felder vermessen hat. Es hat sich noch nie einer beschwert, dass er nicht gerecht gewesen wäre.«
»Aber diesmal hat er betrogen!«, giftete Telos und warf mir böse Blicke zu. »Wie es mein Recht ist, habe ich den Stab genommen. Also habe ich sein Feld hier vermessen. Dabei habe ich gemerkt, dass er es vergrößert hat, dieser Betrüger. Es ist nicht mehr dreiundsechzig Stäbe lang. Es hat nun neunzig Stäbe. Also hat er von meinem Land abgesteckt und zu seinem Feld getan!«
»Hm«, machte Zoltran nachdenklich. »Das ist ein schwerer Vorwurf, den du da machst. Kannst du das beweisen?«
»Natürlich kann ich das beweisen!«, rief Telos erbost. »Du brauchst ja nur den Stab nehmen und das Feld abzugehen! Dann wirst du es schon merken, Zoltran!«
»Das wäre wirklich ein Beweis«, brummte der Alte.
Ich aber schmunzelte. So also versuchte es Telos diesmal. Und gar nicht mal so ungeschickt. Würde Zoltran mit dem Stab mein Land abgehen, käme er tatsächlich auf neunzig Stäbe für dieses Feld anstatt der dreiundsechzig, die es haben durfte. Und wenn wir nach diesem Maß gegangen wären, hätte das andere Land sicherlich meinem Nachbarn stromabwärts der Meldepfähle zugestanden. Und das war nun mal Telos.
Ich besah mir den Stab genauer. Tatsächlich. Das untere Ende sah aus, als hätte man frisch an ihm geschnitten. Natürlich klebte Erde daran, aber ein geübter Blick wie der meine oder wie der von Zoltran würde es sicherlich erkennen. Ich zählte die Zehnerkerben durch, die in den Stab geschnitten waren. Es waren eigentlich neun. Dazu kamen neunzig kleine Kerben. Die hundertste Kerbe aber war die Spitze des Stabes selbst. Mit ihm vermaßen wir das Land jedes Bauern, der ein Feld direkt am Amum hatte und MODRORs Zorn ausgesetzt war.
Doch heute zählte ich nur sechs Zehnerkerben und darüber noch einmal neun kleine Kerben. Hatte also Telos, dieser Hund, ganze drei Zehnerkerben weit den Stab herunter geschnitten, bevor er mein Land vermessen hatte.
Und mich schimpfte er Betrüger. Na, der würde was erleben!
Zoltran sah mich ernst an. »Nyrrak, was hast du dazu zu sagen? Spricht Telos wahr, oder sollen wir den Fall vor den Rat bringen?«
Ich winkte ab. »Nein, Zoltran. Wir würden auf einen Mönch aus Thiban warten müssen und dann wäre die Zeit der Einsaat schon lange vorbei. Ich werde den Stab selbst nehmen und nachschauen, ob Telos vielleicht Recht hat.«
Erstaunt sah mich der alte Bauer an. »Nyrrak ...«, begann er, »Nyrrak, vielleicht solltest du darüber noch mal nachdenken.«
»Ach, lass ihn doch!«, rief Telos erfreut und rieb sich die Hände. »Soll er doch selbst sehen und zugeben, dass er falsch gemessen hat.«
»Ja, das werde ich tun, Telos.« Ich klopfte mit dem Stab auf seine Schulter. »Aber ich werde nicht mein Land messen. Denn das hast du ja schon gemacht. Ich denke daran, lieber dein Land zu messen. Und zwar vom Stromauf bis hinunter zum Feld von Yocast. Wenn mein Feld schon nicht stimmt, vielleicht ist dein Feld dann auch falsch. Und das, wo Yocast doch immer so drauf achtet, dass er sein Land zusammen hält.«
Die gute Stimmung Telos war mit einem Schlag verflogen. Mit Yocast wollte er sich nicht anlegen. Keiner tat das gerne. Und wenn ich sein Land mit dem gekürzten Stock nach Stromab vermaß, würde ein beträchtlicher Teil seines Landes an den Nachbarn fallen. Von der Prügel, die Telos für den vermeintlichen Landdiebstahl bekommen würde, einmal ganz zu schweigen.
»Oh, Nyrrak, das fällt mir gerade ein«, rief Telos und wischte sich über die Stirn. »Ich habe den Stab doch heute Morgen vor dem Messen als Stütze genommen, weil der Weg noch so dunkel war. Dabei ist er mir abgebrochen. Das muss ich vergessen haben, bevor ich anfing, dein Land zu vermessen. Das tut mir ja so leid. Natürlich dachte ich die ganze Zeit über, ich wäre im Recht.«
»Schon gut«, erwiderte ich. »Gut, dass du es sagst. Sonst wären die Felder nach dem nächsten Zorn MODRORs sehr viel kleiner geworden. Aber natürlich wirst du, weil du den Stock zerbrochen hast, einen neuen bei den Mönchen in Thiban bestellen, nicht?«
»Ja ... Ja, natürlich. Ich werde schnell meinen Burschen losschicken.«
»Dann ist ja alles klar«, sagte da Zoltran. »Und sorge bitte dafür, dass es ein guter Messstab ist. Es muss einer sein mit neunundneunzig Kerben.«
»Ja, neunundneunzig Kerben. Ich verstehe.«
Natürlich verstand er nicht. Und auch sein Bursche würde es nicht verstehen. Aber ich und Zoltran verstanden es und auch die Mönche in Thiban würden es verstehen.
»Ich würde jetzt gerne arbeiten, Telos«, sagte ich scharf. »Musst du nicht auch auf dein Land und den Boden bereiten?«
»Natürlich, du hast Recht. Über dieses dumme Missverständnis hätte ich es beinahe vergessen. Na, gut, dass wir das noch gemerkt haben. Ich gehe dann mal. Und vergessen wir es einfach, so wie MODRORs Zorn den Amum reinigt.«
*
Als Telos mein Land verlassen hatte, begann der alte Zoltran zu lachen. »Das war für einen Narren wie Telos ein ziemlich kluger Versuch, an dein Land zu kommen, Junge.«
»Ich wundere mich auch. Darauf kann er nicht alleine gekommen sein. Zum Glück aber kann er nicht zählen und weiß nicht, dass neun Zehnerstriche auf dem Stab sein müssen, so wie die Mönche sie angebracht haben.«
»Und neunzig kleine Striche«, brummte der Alte. »Nun sieh mich nicht so erstaunt an. Auch wenn ich nicht gleich gesehen habe, dass Telos den Stab gekürzt hat, so habe ich doch die Kunst der Zahlen gelernt. Ich kann sogar etwas die Schriften der Mönche lesen.
So klug wie du bin ich wahrlich nicht, Nyrrak. Und auch lange nicht so bescheiden. Aber mein Leben währt schon lang genug, und ich habe viel gesehen.«
Ich war erstaunt. Der alte Zoltran konnte die Buchstaben der Mönche lesen? Sogar mir bereitete dies Schwierigkeiten und, wie man an Telos sah, war ich einer der Klügsten an diesem Ufer des Amum. Dass er die Kerben verstand und sogar bis weit über dreihundert zählen konnte, wusste ich schon lange von ihm.
»Das weiß ich. Du bist ein weiser Mann und dein Rat ist gefragt. Und dein Wort hat Gewicht. Wäre ein anderer als du hinzugekommen, als Telos mich um mein Land bringen wollte, wären wir immer noch dabei zu reden. Aber dank dir konnte ich ihn schnell abschmettern.«
Zoltran lachte rau. »Mein Junge, du hast mir so viel Gutes erwiesen, hast mir beigebracht, das Winkelzeug zu legen. Und du hast mir gezeigt, wie man die Felderkarte liest, Dinge für die wir bisher immer einen Mönch gebraucht haben. Wenn ich dir etwas davon zurückgeben kann, tu ich es gerne.«
Der alte Bauer drehte sich um und ging stromaufwärts. »Ach, Nyrrak, wenn es dir Recht ist, komme ich zum Mittag noch einmal zu dir.«
Ich fühlte mein Herz schneller schlagen. »Ich fühle mich geehrt, Zoltran. Leider esse ich nichts, wenn ich arbeite. Ich habe nichts, was ich dir zum Mittag anbieten kann.«
»Das lass meine Sorge sein«, schmunzelte der Alte und ging weiter.
*
MODRORs Auge stand an seinem höchsten Stand und ich hatte fast das gesamte Feld umgegraben. Der Gott mochte es, wenn seine Kinder fleißig waren. Nachher, wenn ich fertig war, würde ich mir auf dem Hang noch Beeren pflücken, ein paar zum Essen und einen halben Arm oder mehr für mein Weib. Vorher würde ich mir vielleicht ein Bad im Amum gönnen.
Im Licht des Auges glitzerte und funkelte sein Wasser wie eine Verheißung und ich wusste, wie kühl die Fluten waren und wie gut ein Schluck aus ihnen tat.
Das Feld war beinahe fertig und mit Gottes Segen ließ ich die Hacke fahren und ging langsam das Ufer hinab. Dort kniete ich mich nieder und schöpfte mir Wasser mit den Händen. Oh, dieses herrliche Wasser. So weich, so erdig. Ich wünschte, ich hätte mein Haus hier gebaut, um dieses herrliche Wasser auch am Morgen trinken zu können. Aber Yanni mochte lieber das Wasser aus dem Dorfbrunnen.
»Trink nicht zu viel davon«, rief eine Stimme hinter mir, »sonst hast du keinen Durst mehr hierauf!«
Ich erhob mich. Zoltran kam Stromab mit Maatran, seinem jüngsten Sohn. Um die Schulter des Alten lag ein Schlauch. Maatran aber trug einen Lederbeutel.
Freudig ging ich den beiden entgegen. »Zoltran, Maatran! Was für eine Freude. Kommt doch, kommt hierher in den Schatten dieses Baumes. Hier ist es schön kühl und dennoch sehen wir das wundervolle Glitzern Amums.«
Zoltran lachte. Er nahm den Beutel von der Schulter und tat einen tiefen Schluck. Dann reichte er ihn mir.
Damit war der alte Bauer mein Gastgeber geworden und auf meinem eigenen Land wurde ich zum Gast. Für andere wäre dies eine Beleidigung gewesen. Und ich schalt mich selbst, dass ich auch rein gar nichts anbieten konnte. Wenigstens Fische hätte ich fangen können. Aber Zoltran wollte mich nicht beschämen. Er wollte mich belohnen. Ich sah es in seinen klaren blauen Augen. Also ergriff ich den Schlauch dankbar und tat einen tiefen Schluck.
»Wein!« Überrascht reichte ich den Schlauch an Maatran weiter, der ebenfalls einen tiefen Schluck tat. Wein aus den Beeren der Wassertraube, die nur reifte, wenn ihre Wurzeln von MODRORs Zorn frei gespült wurden. Und auch nur dann geerntet werden konnten, bevor die Küsse Amums alles bedeckt hatten.
»Ja, Wein. Ich habe ihn selbst letztes Jahr von meinen Feldern geerntet. Und ich will ihn mit dir teilen, mein Freund.«
Schnell spürte ich die berauschende Wirkung des Weines, bestärkt durch diese wundervollen beiden Worte, mit denen mich Zoltran segnete. Mein Freund. Was für eine große Ehre.
Maatran hatte derweil seinen Sack geöffnet und Brot und Käse lagen offen auf dem Leder. Es war gewiss genug für sieben Männer.
»Kommen Heman und Kurran auch noch?«, fragte ich nach den anderen beiden Söhnen des Bauern, die in seinem Haus lebten.
»Nein, dies ist alles für uns drei.« Zoltran lachte, brach das Brot und gab mir eine ganze Hälfte. Danach brach er den Käse und nahm sich selbst und seinem Sohn ein kleines Stück und legte den Rest zu meinem Brot. Wäre da nicht noch mehr Käse, nicht noch mehr Brot gewesen, ich hätte es nicht angenommen. So aber ergriff ich Brot und Käse und aß.
Zoltran trank dazu etwas Wein und reichte den Schlauch an mich weiter.
Ich trank ebenfalls, aber nur einen kleinen Schluck. Immerhin würde ich noch arbeiten müssen.
Maatran gab den Schlauch gleich zurück an seinen Vater, ohne zu trinken. Er griff erneut in den Beutel und zog ein Pergament hervor.
»Es ist schön, mit dir eine Mahlzeit zu teilen, Nyrrak. Wir sollten das öfter tun. Dann kommst du wenigstens auch mal zur Mittagszeit zu einer anständigen Mahlzeit und bist nicht auf das angewiesen, was dein Weib dir übrig lässt, wenn du nach Hause kommst.«
Ich erstarrte. »Yanni stammt aus einem gläubigen Haus. Ihr Wohl ist wichtiger als meines.«
»Nun«, meinte Zoltran und nickte dazu. »Ihr Wohl ist wichtig, das gebe ich zu. Sie ist dein Weib und sie wird dir Söhne gebären und Töchter. Aber du bist ihr Ernährer, deswegen musst gerade du bei Kräften bleiben. Glaube hin, Glaube her.«
»Es hat mich viel Mühe gekostet, sie zur Frau zu bekommen. Ich will mich ihrer doch würdig erweisen.«
Wieder nickte der alte Bauer. »Ja, gewiss. Wenn die Frau aus so einer edlen Familie kommt, musst du das auch. Durch Frömmigkeit und harte Arbeit. Aber auch sie muss sich ihrer guten Abstammung bewusst sein und hart arbeiten.«
Ich erschrak. Yanni und arbeiten?
»Oder du nimmst dir eine Magd.«
»Eine Magd? Aber ich habe nicht einmal genug für einen Burschen. Vielleicht in zwei oder drei Jahren, falls die Ernten gut bleiben.«
»Oder du nimmst sie noch dieses Jahr zu dir«, sagte Maatran und zeigte mir das Pergament. »Denn ich habe eine Idee, die du ausführen sollst, Freund Nyrrak. Damit sind dir und meinem Vater ein Zehntel der Ernte eines jeden Bauern sicher, der hier seine Felder bestellt.«
Ein Zehntel der Ernte eines jeden Bauern? War das möglich? Ein unglaublicher Gedanke. Mit meinem Teil an einem Zehntel eines jeden Bauern an diesem Teil des Ufers würde ich mir mehr leisten können, als nur eine Magd, mehr als nur einen Burschen. Ich würde dem Kloster in Thiban sehr großzügig spenden, ihm vielleicht sogar ein Relikt der Inquisition kaufen können. Und Yanni würde sehr gut leben, weit besser als es bei ihren Eltern gewesen war.
»Sieh mal, Nyrrak, ich habe über deine Wassermühle nachgedacht, die du am Brunnen errichtet hast. Die Krüge, die hinab gehen und gefüllt wieder hochkommen, weil ein Gundu um den Brunnen herum geht und die Räder bewegt.
Nun, dies ist ein Modell, wie wir Wasser aus dem Fluss schöpfen können. So viel Wasser, dass wir alle Felder, die auf der Anhöhe liegen, bewässern können. Und die Felder am Ufer gleich dazu.«
Erstaunt rieb ich mir mein Kinn. Das Pergament zeigte tatsächlich meinen Entwurf. Eine Kette von Krügen, die aufgereiht waren, mit der Öffnung voran ins Wasser gingen und auf der anderen Seite gefüllt wieder empor kletterten.
»Ja, ich denke, man kann dies ebenso machen wie am Brunnen. Aber wie wollt Ihr ein Gundu dazu bringen, um das Karussell mit den Krügen herumzulaufen? Wollt Ihr Stege bauen, auf denen es laufen kann?«
»Aber nein«, lachte Maatran, »obwohl das sicher möglich wäre. Nein, ich glaube, wir brauchen kein Gundu. Der Amum liefert uns alle Kraft, die wir brauchen.«
»Der Amum?«, rief ich erstaunt.
»Ja, der Amum. Bewegt er nicht sein Wasser schnell stromab? Kannst du nicht in seine Mitte schwimmen und gehst du wieder an Land, bist du viele Messstablängen stromab getrieben? Der Amum hat eine immense Kraft. Die wollen wir nutzen. Mit dieser Walze aus Paddeln. Sie steckt im Wasser und dessen Wucht treibt die Paddel hoch. Dabei tauchen immer wieder die anderen Paddel auf der Walze ein und werden ebenfalls von der Wucht gehoben. Diese Kraft machen wir uns zunutze. Wir nehmen die Kraft und tragen sie zu den Krügen. Diese werden von ihr ins Wasser getrieben und wieder empor gebracht. Kippen sie über, fängt diese Rinne das Wasser auf und bringt es hoch auf die Anhöhe, wo wir es auf die Felder leiten können.«
»Ich sehe es. Ja, das ist ein kluger Entwurf. Aber die Seile, welche die Kräfte übertragen, werden ständig geprüft werden müssen. Und das Rad braucht feste Pfeiler aus gutem Holz, die tief in Amums Bett gerammt werden müssen, tiefer noch als für die Anlegepfade der Boote. Und Ihr werdet gute Nägel brauchen, bessere, als es hier gibt.«
Zoltran und sein Sohn wechselten einen schnellen Blick.
Schließlich nickte Maatran. »Ich denke, Nyrrak ist eine gute Wahl. Er hat sofort erkannt, wo die Probleme liegen.«
Und der alte Bauer sagte: »Nyrrak, mein Freund. Baue das Wasserrad für mich und pflege es. Und du bekommst die Hälfte von dem, was mir die anderen Bauern für das Wasser geben. Du bist der Richtige für diese Arbeit. Maatran ist gut darin sich so etwas auszudenken. Aber du kannst es machen.«
Die Hälfte des Zehntels aller Ernten, das war nicht schlecht. Vor allem, wenn man daran dachte, wie gut die Ernten auf den Hängen sein würden, wenn die Felder immer genügend Wasser hatten.
»Aber dies widerspricht der Bescheidenheit, die uns MODROR auferlegt.«
»Nun, wozu gibt uns MODROR Verstand, wenn wir ihn nicht nutzen? Bedenke, dass niemand mehr hungern wird, wenn die Ernten reichlicher sind. Und bedenke, wie viel wir dem Kloster in Thiban geben können.«
Widerstrebend nickte ich. Das war ein gutes Argument. Ich kannte Hunger. Und wenn ich helfen konnte, ihn zu bannen, dann wollte ich es gerne tun. Wenn es sein musste, mit meinem Anteil.
»Nun gut, aber ich werde die Nägel und das Werkzeug selbst kaufen müssen. Dazu muss ich stromauf, nach Thiban.«
»Und das so schnell wie möglich. Breche gleich morgen früh auf. Ich werde Kurran schicken, der dir einen Beutel Silbermünzen schickt für den Einkauf. Heman wird für dich deine Felder zu Ende bestellen. Und kaufe dir auch gleich neue Hacken, mein Freund. Die alten sind ja schon stumpf und kaum zu schärfen.«
Ich lachte laut. Schließlich reichte ich beiden die Hände. »Ich bin dabei. Allein schon wegen der Hacken lohnt es sich.«
*
Am Abend kehrte ich erschöpft, aber zufrieden, in mein Haus zurück. Yanni saß vor der Hütte im labenden Schatten und fächelte sich kühle Luft zu. Als sie mich kommen sah, richtete sie sich auf. Sicher würde sie mir sofort sagen, was am Tage an Arbeiten angefallen war und welche ich zuerst erledigen sollte.
»Geht es dir gut, Nyrrak?«, fragte sie und versetzte mich in maßloses Erstaunen.
Überrascht hätte ich beinahe den Arm voller Früchte fahren lassen.
»Geht es dir gut, mein Mann?« In ihre Augen trat ein Glitzern, das ich nicht kannte. »Ist dir die Feldarbeit bekommen?«
Ich runzelte die Stirn. »Es war ein guter Tag. Telos, der Narr, versuchte mir zwar einen Teil des Ackers zu stehlen, aber zum Glück kam Zoltran vorbei.«
»Zoltran«, zischte sie wütend.
Ich erschrak. So kannte ich sie gar nicht. »Warum vertust du deine Zeit mit diesem Greis?«, fuhr sie mich an. »Warum bestellst du nicht lieber deine Felder und betest um gute Ernten? Ich will ein neues Kleid für die Feiertage!«
Ich warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Yanni, mein Weib, schimpfe nicht auf Zoltran. Er plant einen großen Bau und ich soll ihn für ihn machen. Wenn alles so geht, wie ich es mir denke, kann ich dir zur Ernte drei neue Kleider kaufen.«
»Wirklich?«, rief sie und legte die Hände an ihr Gesicht. »Drei neue Kleider? Aber wie geht das denn?«
Ich lachte erneut und trat in mein Haus ein. Die Früchte tat ich in eine Schale und stellte diese auf den Tisch. Danach begann ich, all das aufzuheben, was Yanni unachtsam den Tag über hatte fallen lassen. Oh, meine Yanni, sie war ja fast noch ein Kind in manchen Dingen.
Ungeduldig nahm sie am Tisch Platz. »Sag doch, mein Mann, wie geht das?«
Ich nahm kaltes Brot aus dem Ofen und etwas Käse aus dem Topf für die Feiertage. Beides stellte ich in die Mitte des Tischs. »Du erinnerst dich an das Wasserrad, das ich gebaut habe, damit dir das Wasserschöpfen am Brunnen nicht so schwer fällt?«
Yanni verzog ihr Gesicht wie im Schmerz. »Oh ja. Und jeder darf es benutzen, der sein Gundu vorspannt. Wir haben nichts davon.«
»Schon, aber nur, weil es der Dorfbrunnen ist. Aber Zoltran will, dass ich ein weiteres Wasserrad baue, eines, das das Wasser aus dem Amum nimmt und bis auf die Hänge trägt. Dann können wir alle Felder endlich gut genug bewässern. Und Zoltran will dafür einen Zehner der Ernte haben.«
»Einen Zehner der Ernte! Für genügend Wasser. Manchmal denke ich, der alte Mann ist noch frömmer als du. Ich hätte ein Drittel oder fünf achtel gefordert, denn durch das Wasser wird es gewiss bessere Ernten geben. Und was bekommst du dafür, Nyrrak? Ein Feld, das du dann von Zoltran bewässern lassen musst?«
Ich brach das Brot und gab das größere Stück Yanni. »Nun, ich soll es nicht nur bauen, Weib. Ich soll es auch pflegen. Dafür will Zoltran mit die Hälfte des Zehners geben, den er erhalten wird.«
»Ein Zwanzigstel!«, hauchte Yanni ergriffen und erstaunt. »Das ist aber viel. Dafür werde ich aber viele Kleider kriegen.«
Wieder lachte ich. Yanni war so gebildet. In ihrer Familie kannten alle die Geheimnisse der Zahlen. Und einige konnten sogar lesen. »Mehr noch. Morgen früh breche ich auf und gehe nach Thiban. Ich werde dort Nägel für das Wasserrad besorgen. Dabei werde ich gleich nach einem neuen Kleid für dich sehen und auch gleich neue Hacken für die Feldarbeit kaufen. Und sobald die nächste Ernte eingebracht ist, reicht unser Geld vielleicht für eine Magd. Aber sicher können wir dem Kloster in Thiban zwei oder drei Karren Getreide schicken.«
»Eine Magd!«, hauchte Yanni ergriffen. »Eine Magd wäre so schön, Nyrrak. Dann muss ich die schwere Hausarbeit nicht mehr alleine machen. Und sie könnte mir kühle Luft zufächeln, wenn ich erschöpft im Schatten sitze.«
Ich stutzte. War ihr die Magd etwa wichtiger als die edle Spende an die Mönche?
»Ich werde wohl ein paar Tage fortbleiben, denn der Weg ist lang.«
»Na, dann sind es eben ein paar Tage, Nyrrak. Hauptsache, du bringst alles, was du brauchst, um das Wasserrad zu bauen, damit der Wohlstand in dieses Haus kommt. Und mir wird es sicher gut tun, wenn ich zwei oder drei Nächte lang nicht von deinen komischen Träumen geweckt werde.«
Dazu nickte ich traurig. Meine Träume waren auch für Yanni eine große Last. Wie lange gedachte MODROR noch, mich zu versuchen?
Am nächsten Morgen brach ich auf. Kurran erwartete mich bereits vor der Tür mit einem Rucksack aus der Haut eines Gundu. Er winkte mich stumm von meinem Haus fort und ich folgte ihm. Ich freute mich darüber, dass er daran gedacht hatte, Yanni in ihrem sanften Schlummer nicht zu wecken.
»In diesem Rucksack ist ein Beutel Münzen, sicher genug für das Werkzeug und die Eisennägel, Nyrrak. Und es ist Brot und Fleisch für den Weg dabei. Mein Vater lässt dir sagen, er hätte dir auch einen Gundu gegeben, wenn du gewollt hättest.«
Ich schüttelte nur den Kopf, dankbar und wissend. »Sage Zoltran, dass er für mich sorgt, wie es mein Vater tat. Ich mag ihn sehr und baue das Rad gerne für ihn. Aber ein Gundu will ich nicht nehmen. Für die lange Reise wäre ich zu schwer für das arme Tier. Und Gott verlangt von uns Bescheidenheit, nicht? Darum will ich den Weg in Demut zu Fuß gehen.«
Kurran nickte schwer und reichte mir den Beutel. »Du bist ein frommer Mann. Es ist schade, dass du dein Leben mit dieser Frau teilen musst.«
Ich erschrak. »Was ist denn mit Yanni?«, fragte ich verwundert.
Das schien Kurran zu irritieren. Nachdenklich kratzte er sich unter seinem Kopftuch und meinte schließlich: »So klug du auch bist, sobald es um dein Weib geht, bist du dümmer als die Fische, die freiwillig in die Fangreusen schwimmen. Nun, sieh mal, Nyrrak, vor einer halben Stunde standen meine Mutter, meine Schwestern und mein Weib auf. Sie richten das Haus her und machen unser Frühstück, bevor wir aufs Feld hinausgehen. Wenn wir fort sind, putzen sie das Haus, melken die Gundus oder sind im kleinen Gemüsegarten, kurz, sie arbeiten und das ebenso hart wie wir. Du aber, Nyrrak, machst deine schwere Feldarbeit, bereitest Yanni das Essen und pflegst dein Haus auch noch, wenn du nach Hause kommst. Dein Weib aber isst und trinkt den ganzen Tag nur und sitzt vor deinem Haus im Schatten. Jetzt bereits ist sie dick, aber lege noch zweimal MODRORs Zorn dazu, und du kannst sie nur noch rollen.«
»Yanni kommt aus einen sehr frommen Haus. Als ihr Vater sie mir gab, da legte er mir auf, auf sie Acht zu geben, auf dass MODRORs Segen in unser Heim komme. Muss ich mich dann nicht mit all meiner Kraft diesem edlen Weib als würdig erweisen?«
»Aber muss Yanni sich deiner nicht auch als würdig erweisen, dir, dem edlen, barmherzigen Nyrrak?« Kurran schüttelte nur den Kopf. »Na, verstehe dich einer. Meine Schwester Alen hättest du haben können, die sehr fleißig ist. Aber nein, es musste ja diese sein.«
»Vielleicht«, begann ich, »hast du ja Recht, Kurran. Vielleicht arbeitet Yanni wirklich zu wenig im Haushalt, denn zur Bescheidenheit verlangt Gott auch Fleiß. Aber das soll ihr Vater ihr sagen. Er wird nächste Woche in mein Haus kommen. Und außerdem, wenn das Wasserrad erst steht, will ich eine Magd nehmen und dann soll keine Arbeit mehr anfallen, wenn ich nach Hause komme.«
Kurran schüttelte nur den Kopf. »Und Yanni wird nichts mehr tun und sich vor das Haus tragen lassen.« Er sah mich an. »Wenn Gott gerecht ist, gibt er dir, was du verdienst. Vielleicht kann dein Schwiegervater MODRORs Willen bringen. Geh, Nyrrak. Mein Vater sendet dir seinen Segen.«
Ich ergriff Kurrans Hände. »Ich danke für den Segen. Ich will mich beeilen und bald zurück sein.«
So verließ ich mein Dorf.
*
Es ist finster um mich. So unsäglich finster. Ich kenne diesen Traum, ich habe ihn jede Nacht. Aber ich vermisse die Nadelstiche im dunklen Teppich, die fernen Lichter. Ein Wort drängt in meine Gedanken. Sonnen. Sonnen, wie Gottes Auge eine ist. Die kleinen Punkte, die sonst einen matten Schimmer in meine Träume senden, sind von ebenso einer verzehrenden Pracht wie MODRORs Auge, wenn man ihnen nahe genug kommt.
Plötzlich und unerwartet, rast etwas großes, etwas wirklich großes an mir vorbei. Ich meine, nur meine Hand ausstrecken zu müssen, um das schwarze Etwas berühren zu können. Doch ich tue es nicht. Ich spüre nur die unglaubliche Kraft, mit der es an mir vorbei strebt, erkenne meine eigene Winzigkeit. Ich sehe das Ding nicht mehr, als es mich passiert hat. Auch schlagen keine Flammen an einem Ende heraus, die mir Licht hätten spenden können. Dennoch weiß ich, was ich mehr gefühlt, denn gesehen habe. Es ist Seths Streitwagen. Seths großer Wagen, eigentlich mehr ein Schiff. Ein Schiff, das zwischen den Lichtern der Nacht fährt, ein Sternenschiff.
Gegen wen fährt das Schiff? Mühsam recke ich mich, das heißt ich glaube mich zu recken, denn ich fühle meinen Leib nicht, um zu sehen, ob Seth auf seinem Schiff flammende Speere gegen seine Feinde wirft. Doch ich erkenne nichts. Keine Speere, keine Sphären, die um den Streitwagen flammen, wenn er selbst getroffen wird. Das Sternenschiff ist fort. Und mit ihm Seth.
Ich erschrecke ob dieser Erkenntnis. Bisher sah ich in meinen Träumen immer eine gewaltige Schlacht zwischen gigantischen Wagen, sah immer die Flammen schlagen aus den Wagen, sah die Blitze und die schützenden Sphären. Nun sehe ich nichts davon, nicht einmal die fernen Sterne. Ist es vorbei? Nimmt mein Gott die Prüfung von mir? Ist es endlich zu Ende? Aber ... habe ich versagt oder bestanden?
Habe ich versagt oder bestanden, höre ich Gedanken murmeln. Meine eigenen Gedanken? Gewiss dachte ich diese Worte, aber dennoch klingt es fremd in mir. Fremd und vertraut zugleich.
Ich sehe mich um, schaue nach oben, nach unten, wende den Blick rechts- und links hin.
Und dann sehe ich wieder die Augen, fern, funkelnd, unerreichbar. Wer bist du, frage ich die Augen.
Aus dem fernen Schatten schält sich eine Kontur, die Ahnung eines edel geschnittenen Gesichtes. Ich spüre es mehr, als dass ich es sehe. Ich sehe die Augenpartie, erahne die kleine Nase, die vollen Lippen. Bist du ein Gott, frage ich. Nein, antwortet es in mir, als wären es doch meine eigenen Gedanken. Bist du ein Gott? Bist du Seth?
*
Ich fuhr hoch, als der Kekkok der Wanderherberge schrie, um den Morgen zu begrüßen. Zum ersten Mal in meinem Leben bedauerte ich es, dass ich nicht den gleichen Traum gehabt hatte, wie die Nächte zuvor. Die Träume von den Streitwagen, den Sternenschiffen der fremden Götter, waren mir in meinem Glauben nie eine Gefahr gewesen. Aber die Augen, diese Augen, ich konnte sie nicht vergessen. Vielleicht wollte ich es auch nicht. Vielleicht durfte ich es nicht.
Was würde Yanni dazu sagen? dachte ich und schalt mich gleich darauf, nicht so töricht zu sein und wegen eines Gesichtes in meinen Träumen meiner Frau zu beichten, wie von einer Geliebten.
Ich erhob mich, packte den Rucksack und verließ die Stube der Pilger. Keiner von ihnen war erwacht. Hatte ich nicht geschrien, als der Traum geendet hatte? Endete hier MODRORs Prüfung? Oder bekam sie eine neue Qualität?
*
In der Übernachtung war das Morgenmahl enthalten, also setzte ich mich vor der Herberge nieder und genoss Brot und Bier, was mir die Wirtsfrau hinaus brachte. Zu mehr war es noch zu früh und ich wollte die anderen frommen Menschen nicht wecken, nur weil ich es gewohnt war, sehr früh aufzustehen. Ihre Wege, nach Thiban oder gar Nebokad würden weit sein, sie würden die Ruhe gebrauchen können.
Außerdem, gestand ich mir, konnte ich so Jorg abschütteln, den Knecht von Telos. Er war ebenso wie ich am gestrigen Morgen aufgebrochen, um den neuen Messstab zu kaufen und so waren wir uns auf der Straße nach Thiban begegnet. Seither schritt er neben mir, so schnell ich auch ausschritt, und sprach und sprach und sprach und schwätzte und lachte und gluckste und rülpste und tat eigentlich alles, mir die Reise unangenehm zu machen. Am letzten Ende bezahlte Telos ihn noch dafür, es besonders übel mit mir zu treiben.
Für den weiteren Weg nach Thiban aber wollte ich auf ihn verzichten, deshalb trank ich schnell das Bier, verabschiedete mich und machte mich wieder auf den Weg, lange bevor sich eine weitere Seele außer mir und der Wirtin in Hause regte.
Nun war das Wandern leichter und fröhlich pfeifend schritt ich aus auf dem Weg.
»Thiban, o goldenes Thiban, bald würde ich dich sehen«, sang ich dazu und lachte.
Thiban war unsere Distrikthauptstadt. Es lebten fünftausend Menschen in ihr. Hier gab es eine Garnison der Inquisition, drei kleine und einen größeren Tempel MODRORs und das berühmte Kloster, wo die weisen Mönche das große Wissen dieser Welt hüteten und fortschrieben, um es in der Welt zu verbreiten.
Daneben gab es in Thiban aber noch viele Handelshäuser, denn von meinem Dorf an war das Land sehr fruchtbar, beinahe genauso, wie die Felder meines Dorfes, aber um etliches breiter, so dass dort vieles angebaut wurde. Das Getreide des Abstromlandes hatte nicht unser Aroma und auch trugen die Ähren nicht so gut, aber es war so viel, dass die Handelshäuser stromab fuhren, es aufkauften und bis nach Modia am fernen Meer brachten, unserer Hauptstadt. Dort sollte es zwanzigtausend Menschen geben und zehn Tempel MODRORs, dazu sogar das Quartier der Inquisition.
Doch es war müßig, darüber nachzudenken, denn Modia würde ich in meinem Leben niemals sehen. Dies hier war mein Land, meine Erde, meine Vergangenheit und meine Zukunft.
Je mehr der Tag verging, desto voller wurde die Straße, desto mehr Menschen drängten sich auf ihr, teils mit Karrengespannen, von großen Gundus gezogen, teils zu Fuß. Einige kamen aus der Stadt, einige wie ich gingen in die Stadt. Und alle sprachen sie und schwätzten davon, wie groß doch Thiban war und welches Glück die Stadt hatte, dass die Heilige Inquisition in ihr ein Quartier bezogen hatte, so dass der Segen Gottes auf ihr ruhte.
Ich lachte dazu, diese Worte freuten mich. Denn Thiban, da war ich sicher, hatte MODROR in seiner besten Laune erdacht.
*
Zum Mittag erreichte ich die Stadt und erstarrte. Ich hatte viel schon von ihr gehört, aber Jedermann hatte mir verschwiegen, dass der Amum hier, gerade an dieser Stelle, breit wurde wie ein See und dass sich Thiban an diesen See schmiegte, als wäre es immer so gewesen. Im Licht der Mittagssonne funkelte und strahlte der See, warf seinen Schein auf die Stadt und ihre gelben Bauten und wirklich, es sah so aus, als strahle die ganze Stadt in sattem Gold. Nie wieder, so schwor ich mir, wollte ich diesen Anblick vergessen. Und trügen mich meine Beine erneut nach Thiban, so sollte es wieder zur Mittagsstunde sein, um sehen zu können, wie die Stadt golden wurde.
Erneut schritt ich aus, schneller diesmal, es drängte mich die Stadt zu betreten. Einen Schmied wollte ich finden, der gute Nägel machte, eine Herberge für die Nacht. Und dann sollte ich dringend einen Tempel Gottes besuchen, um in ihm zu beten und ihm zu danken für die Gnade, dass er mich prüfte.
Die Stadt war nun schnell erreicht. Hier, am Rande standen viele kleine geduckte Häuser. In ihnen wohnten die Fährleute, die Fischer und die Tagelöhner. Tiefer in der Stadt gab es dann die Schulen, die Schmieden, die Webereien. Webereien! Ein Kleid hatte ich Yanni versprochen! Doch was tat ich zuerst? Und wie fand ich alles, was ich brauchte?
So war ich in meine Gedanken vertieft, dass ich gar nicht merkte, wie ich die Stadt betrat. Erst als etwas Schweres gegen mich stieß, sah ich auf. Ich griff zu und hatte einen Mann in meinen Händen.
Er sah mich an und stammelte: »Bitte, Herr, in Gottes Namen, helft mir!«
Ich besah ihn mir genauer. Sein linkes Auge war zugeschwollen und die Hände reichlich blessiert. Er ging gebeugt, so dass es aussah, als trüge er als Verwachsung einen Buckel. Doch ich sah, dass er lediglich die linke Schulter zu sehr anhob. Er trug schmutzige Kleider und kein Kopftuch. Die Sonne hatte ihn gebräunt und gegerbt. Und er lief mit baren Füßen. Was bei der steinigen und staubigen Straße sicher kein Vergnügen war.
Aber wie sollte ich ihm helfen? Floh er vor der Inquisition? Dann konnte ich als frommer Mann ihm keine Hilfe sein. Auch wenn ich die Bitte in seinen flehenden Augen wohl sah.
»Da ist er ja, der Bucklige!«, rief eine schrille Kinderstimme von ferne.
Und kurz darauf lief ein ganzer Pulk der Kleinen aus einer Querstraße hervor und direkt auf mich und den Mann zu. In den Händen hielten sie kleine Steine, einige hatten sie in ihre Mäntel gerafft und trugen sie vor sich her. Die Kinder, wohl keines älter als zehn, warfen die ersten Steine schon, bevor sie richtig heran waren.
Der Mann in meinen Händen zitterte und zerrte an meinen Griff. »Lass mich gehen, Herr. Bitte, lass mich gehen!«
Entschlossen ließ ich ihn fahren. »Warte bitte!«, sagte ich zu ihm und trat vor ihn.
Die ersten Steine flogen heran und trafen mich, statt ihn. Doch das schien den Kindern egal zu sein, sie warfen erneut.
Ich fing sieben oder acht, die mich getroffen hätten, mühelos aus der Luft und ließ sie zu Boden fallen. Dies schien die Kinderschar zu beeindrucken, denn sie mäßigten ihre Schritte und kamen wenig später vor mir zum Stillstand.
»Was werft ihr hier mit Steinen um euch?«, rief ich wütend. »Wisst ihr denn nicht, wie gefährlich das ist? Wie leicht könnt ihr jemanden verletzen.«
»Aber«, begehrte der Erste auf, ein kleiner schwarzhaariger Junge mit einem besonders großen Stein in den Händen, »aber es ist doch nur der Bucklige.«
Verwundert runzelte ich die Stirn. »Wie? Ich verstehe nicht.«
Ein Mädchen, kaum älter als der Knabe, wischte sich eine klebende Strähne ihres grünen Haares aus dem Gesicht und deutete auf den Mann, der mir in die Arme gelaufen war. »Der Buckelmann. Der der hinter dir steht.«
»Ja, was ist mit ihm?«, fragte ich verwundert.
Dies schien die Kinder zu verwirren.
Endlich sagte der Junge mit den schwarzen Haaren: »Aber siehst du es denn nicht? Er ist verwachsen. Er ist nicht so wie wir.«
Die Kinderbande johlte dazu und einige nahmen die Steine wieder hoch.
Ich schüttelte nur den Kopf. »Das ist es? Deswegen hetzt Ihr den armen Mann und bewerft ihn mit Steinen? Weil er einen Buckel hat?«
»Weil er nicht ist wie wir«, ereiferte sich der Junge wieder. »Und was nicht ist wie wir, kann nicht von Gott gemacht sein.«
»Aber du bist doch auch nicht wie die anderen«, warf ich dem Burschen vor. »Sieh, die meisten hier haben goldenes oder grünes Haar. Nur du und zwei andere haben schwarzes. Und deines ist glatt, während die meisten deiner Freunde krauses Haar tragen. Wenn es nur darum geht, dann sollten sie lieber dich und die anderen beiden bewerfen. Drei treffen zu können ist sicher besser, als nur einen.«
»Aber«, begehrte der Knabe auf, »ich bin doch hier geboren. Ich habe hier meine Freunde und meine Familie.«
»Ja denkst du denn, der Mann hier hat keine Freunde und keine Familie? Denkst du denn, Gott hat ihn aus der Luft erschaffen? Warum sollte er also schlechter sein als du? Hat er dir etwas getan, oder einem deiner Freunde? Ist er böse oder sucht die Inquisition nach ihm?«
»Nein«, gab da das grünhaarige Mädchen zu und wechselte einen Blick mit dem schwarzhaarigen Jungen. »Aber er hat immer noch einen Buckel. Wir haben alle keinen Buckel.«
»Aber Gundus haben einen Buckel. Wollt ihr erst den Mann hier bewerfen und danach die Gundus?«
»Aber er ist doch kein Gundu!«, krähte ein kleiner Bursche aus ihrer Mitte. »Er ist doch ein Mensch.«
Dazu lächelte ich. »Ja, du hast Recht. Dies ist ein Mensch. Und ich weiß, dass MODROR ihn ebenso liebt, wie er euch liebt. Und nur weil er etwas anders aussieht ist es kein Grund, ihn zu jagen und zu bewerfen. Denn wenn du genau hinschaust, sieht kein Mensch wie der andere aus. Der fette Händler, sieht er so aus wie das Mädchen mit den grünen Haaren? Und hat er nicht einen Bauch, groß genug, um zwanzig Kekkoks hinein zu stopfen? Die alte Frau da, sieht sie nicht aus, als sei sie nur ein Holzgerüst, das man mit Stoff bespannt hat?
Seht euch nur um, Kinder und ihr seht, dass sich die Menschen immer unterscheiden. Und ein Buckel ist nun wirklich nichts schlimmes. Nun werft die Steine fort.«
Und zu meiner Erleichterung taten sie es, einer nach dem anderen.
Wie die Kinder nun einmal sind, wenn man ihnen etwas Neues gezeigt hatte, liefen sie sofort davon und schauten sich die Menschen an. Die ganze Bande rannte zweimal um den dicken Händler besah sich einen anderen mit langem schwarzen Bart ganz genau und bejubelte jede neue Entdeckung.
Es waren halt noch Kinder. Aber wer in Gottes Namen hatte ihnen nur erzählt, wie man mit Steinen nach Menschen warf, denn von allein kam man doch nicht darauf.
Der Mann, den ich beschützt hatte, ergriff meine Rechte und schüttelte sie mit beiden Händen. »Ich danke dir, Herr. Ich danke dir. Ich bin Teddus. Du bist ein Landmann von stromab, nicht wahr? Was führt dich in die Stadt? Ah, ich weiß es. Du willst dein Getreide verkaufen, nicht? Oh, ich kenne viele gute Händler. Händler, die hart verhandeln, aber ehrlich bezahlen.
Nein, nein, das ist es nicht. Du suchst einen Tempel. Einen Tempel, ja. Ich bringe dich hin und warte draußen, bis du gebetet hast. Ja, ich bringe dich.«
Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, mein Freund. Ich suche einen Schmied. Ich brauche Hacken und Eisennägel.«
»Einen Schmied!«, kreischte Teddus. Verschwörerisch sah er sich zu allen Seiten hin um und flüsterte dann: »Komm mit mir zu Siln, dem Schmiedemeister. Er ist der Beste und wenn ich dich bringe, ist er sehr günstig. Sehr günstig. Komm, Herr, du hast mich gerettet, nun will ich dir helfen. Siln ist gut. Ich muss es wissen, denn er hat früher für mich gearbeitet, Herr.«
»Langsam«, lachte ich, als mich Teddus fort zerrte. »Ich komme ja schon. Ich heiße Nyrrak, also nenne mich nicht dauernd Herr, Teddus.«
»Ja, Nyrrak, Herr. Ich verstehe. Nyrrak. Ein guter Name. Bedeutet Krieger in der alten Sprache. Nun komm, gleich ist die Mittagsruhe vorbei und wir wollen die Ersten sein bei Siln.«
Nun, ging es mir durch den Kopf, ansehen konnte ich die Waren ja.
*
Wahrlich, Teddus hatte nicht geprahlt. Siln war wirklich ein hervorragender Schmied. Was ich in seiner Auslage an Nägeln sah, war mit das Beste, was ich je gesehen hatte. Und sie trugen alle einen guten, flachen Kopf der verhinderte, dass ein kräftiger Schlag sie einmal quer durch das Holz trieb.
Ja, hier würde ich meine Nägel kaufen, vielleicht auch Hammer und Stecheisen. Doch nicht die Hacken, wenngleich auch sie von allerbester Qualität zu sein schienen. Denn sicher waren sie teuer, und ich wollte Zoltrans Geld nicht zu sehr verschwenden, auch wenn er großzügig war und sich viel von mir versprach. Ein gutmütiges Herz auszunutzen, konnte es leicht versteinern.
Siln kam in die Schmiede und begrüßte mich freundlich. Dann sah er Teddus, und halb erwartete ich, dass er den armen gebeugten Mann schelten würde.
»Ah, Teddus, schön dich wiederzusehen. Geht es dir gut? Du weißt, mein Haus steht dir immer offen.«
Für einen Moment richtete sich der Mann auf, nahm die linke Schulter zurück und der Buckel verschwand.
»Aua«, rief er und rutschte wieder in seine alte Haltung. Vorsichtig tastete er nach dem geschwollenen Auge. »Nichts ist gut. Sabaca hat wieder die Kinder auf mich gejagt und diesmal hatten sie Steine in den Händen.«
»Sabaca schon wieder. Ich werde mich beim Großinquisitor beschweren«, brummte der Schmied böse.
Abwehrend und erschrocken hob Teddus die Arme. »Nein, oh nein, oh nein, guter Siln, tu das nicht. Tu das nicht. Sei klug. Außerdem ist ja nicht viel passiert, denn dieser Herr, der Krieger, hat mich gerettet. Ach, wie dumm von mir. Krieger bedeutet sein Name ja nur in der alten Sprache. Er heißt ja Nyrrak.«
Der Schmied sah herüber zu mir. »Dann bin ich dir zu Dank verpflichtet, Nyrrak. Sei willkommen in meinem Haus. Sieh dich um, während ich etwas hole, was dir den Staub der Straße aus der Kehle spülen wird.«
Siln verneigte sich leicht und ging zurück in das Haus. Dort rief er nach seinem Weibe, dass sie Wein bringen sollte.
»Ja, Siln ist gut, Siln ist der Beste. Hat für mich gearbeitet. Hat immer nur die beste Arbeit geliefert. Hat früher sogar Schwerter geschmiedet für die Inquisition. Die besten Schwerter und die besten Nägel.«
Teddus umklammerte seine Hände, als würden sie schmerzen. Langsam und nachdenklich rieb er sie. »Ja, die besten Nägel, niemals rostig, immer glatt mit gutem Kopf.«
Siln kam zurück, in der Hand einen Krug und drei Holzpokale. Er stellte alles neben die Esse und schenkte sodann großzügig ein. Einen Becher reichte er Teddus, der ihn nahm und sofort unter seiner Kleidung verbarg. Einen reichte er mir, den letzten nahm er selbst. »Guter Herr, trinken wir auf ein gutes Geschäft und auf MODRORs Segen.«
»MODRORs Segen«, lachte Teddus. Erst freudig, dann jämmerlich. »MODRORs Segen, ja trinken wir darauf.«
Langsam nahm er den Krug wieder unter der Kleidung hervor und trank einen vorsichtigen Schluck.
Auch ich nahm einen Schluck. Der Wein war gut. Nicht von den Wasserbeeren, aber nichtsdestotrotz erfrischend und gut gereift. Siln erwies mir mit diesem guten Tropfen eine große Ehre. Das musste bedeuten, dass er Teddus wirklich schätzte. Und das bedeutete auch, dass er meine Hilfe für den armen gebeugten Mann sehr hoch einschätzte. Wie sagte Teddus doch immer, Siln hatte einst für ihn gearbeitet. Es interessierte mich plötzlich, mehr zu erfahren.
»Nun, werter Herr Nyrrak, kommen wir zum Geschäft. Diesen Krug wollen wir nebenbei leeren, aber schon jetzt will ich dir sagen, ich berechne dir nur Material und Arbeit für meine Waren, denn du hast meinem Herrn geholfen.«
Erstaunt sah ich dem Schmied in die Augen. Sie waren ernst und klar. Er trieb keinen Scherz mit mir, das sah ich sofort.
»Ja, sein Herr«, brummte Teddus und schüttelte den Kopf. »Sein Freund, Siln, sein Freund.«
Der Schmied senkte den Kopf und eine Träne rann seine Wange hinab. »Teddus, guter Teddus ...«
»Ich brauche zweitausend Eisennägel«, sagte ich schließlich, als daraufhin keiner der beiden etwas sagte. »Achthundert von der Länge einer Spanne, tausend von einer halben Spanne und zweihundert von anderthalb Spannen und doppelt so dick. Dazu einen leichten und zwei Schwere Hammer. Dann noch einen Satz Stecheisen. Ich werde viel Holz schlichten müssen.«
Siln sah mich an und nickte. »Zwanzig Silberstücke für die Nägel, werter Nyrrak und noch einmal zwölf für die Hammer. Dann will ich noch dreißig für die Eisen.«
Ich überschlug die Zahlen im Kopf und pfiff anerkennend. Der Schmied hatte wirklich nicht gelogen. Wenn ich mir die Qualität seiner Waren ansah und den Preis hinzu nahm, dann verdiente er wirklich nichts oder nur wenig an den Waren.
»Ist das nicht zu wenig?«, fragte ich. »Gott verlangt von uns, für gute Arbeit guten Lohn zu zahlen. Und ich will euch gerne richtig für diese gute Arbeit entlohnen.«
Siln lachte. Es war ein freundliches, kein spöttisches Lachen. »Nyrrak, du hast wahrhaftig eine reine Seele. Dein Herz ist groß. Sei unbesorgt. Als ich noch für Teddus gearbeitet habe, machte es mich zum reichen Mann. Heute bin ich sehr vermögend und könnte die Arbeit sein lassen, aber der Müßiggang war nie mein Weg. Drum lasse ich meine große Schmiede meinen Söhnen und Schwiegersöhnen und betreibe die kleine hier zur Kurzweil. Damit halte ich die Bande auf Trab.« Wieder lachte Siln und stemmte die Hände in die Hüften. »Du musst wissen, Teddus war einmal ein großer Architekt. Sein Großvater Teremian hat einst den großen Tempel MODRORs entworfen und gebaut und sein Vater Tederun entwarf die neue Hafenanlage und errichtete sie noch zu Lebzeiten. Und mein Herr Teddus hat dieses Talent geerbt und viele große Häuser geplant. Ich habe sie für ihn errichtet und sehr gut dabei verdient. Ja, Teddus hat sogar das Inquisitionsquartier geplant.«
Ich war beeindruckt. Teddus, der gleiche Teddus, den die Kinder gejagt hatten, war der Schöpfer eines Kastells der Inquisition?
»Jaaaa«, sagte Teddus leise. »Den Schüranbau am Wasser, das Zistoprojekt und die Brücke über die Valis. Ich erinnere mich gut. War eine große Arbeit, war eine gute Arbeit. Hat viel Spaß gemacht.«
»Und was ist dann passiert?«, fragte ich leise, so dass der arme Mann nicht verstand.
Prüfend sah mir Siln in die Augen, bevor er antwortete. »Nun, Freund Nyrrak, er zweifelte MODROR an und sprach von einem Gott namens Osiris. Doch er hat es bitter gebüßt, denn die Inquisition nahm ihn mit in ihr Quartier und verhörte ihn ein gutes Jahr. Als man ihn wieder vor die Pforte stieß, waren seine Hände von Nägeln durchbohrt und in seine Wunden hatte man Salz gerieben. Außerdem war er schwach und konnte nicht alleine stehen. So nahm ich ihn in mein Haus auf und versuchte, ihn zu heilen. Er hat nie wieder an MODROR gezweifelt, aber er wurde nie wieder Teddus, der Architekt. Er wurde zu Teddus, dem Narren.
Und das schlimme ist, dass es Nägel aus meiner Fertigung waren, die man ihm durch die Hände getrieben hatte.«
So sagte er und wartete. Wartete worauf? Dass ich laut aufbrüllte und ihn einen Ketzer rief? Das ich fortsprang und die Inquisition herbeiholte?
Nein, das konnte ich nicht, denn es war ein Name gefallen, den ich nur in meinen Träumen hörte. Außerdem war das Leben des Teddus in meinen Augen eine schlimmerer Strafe, als ich es selbst diesem Narren Telos in einer schwachen Stunde an den Hals wünschte.
»Osiris, sagtest du?«, fragte ich und wollte schon sprechen, als mir der Schmied die Hand auf den Mund legte. »Guter Freund, willst du nicht noch ein paar Hacken für die Feldarbeit erwerben? Ich mache sie dir ebenso günstig wie die Nägel.«
Ich nickte. Und ich verstand. Dies war kein Ort, um über fremde Götter zu reden. Das verwirrte mich. Folgte die Inquisition nicht immer dem Pfad des Guten? War sie nicht da, um die Menschen zu läutern, zu führen auf dem Weg, Gott zu erkennen? Nun, stellte ich mit Entsetzen fest, ich kannte die Inquisition nur aus Erzählungen und hatte diese angenommen, ohne, wie ich es ansonsten tat, mich persönlich vom Wahrheitsgehalt dieser Erzählungen zu überzeugen.
Ich sah Siln in die Augen und sagte: »Ein Feld muss bestellt werden, bevor es abgeerntet werden kann. Zeig mir deine Hacken.«
Der Schmied runzelte die Stirn und nickte dann. Ich glaube, er hatte verstanden...
»Komm, guter Herr, komm, ich kenne ein gutes Haus für den Abend. Günstig ist es und sauber.«
Teddus ging voran, wieder die linke Schulter in die Höhe gestreckt, so dass es wirkte, als habe er einen Buckel.
Ich folgte ihm nur langsam. Es gab Einiges zu tragen. Das Werkzeug und die Nägel mochten zusammen halb so viel wiegen, wie ich selbst. Ich freute mich bereits auf den Heimweg und dachte daran, dass ein Gundu wohl doch keine schlechte Idee gewesen wäre.
Teddus hatte gehalten und winkte mich heran. »Ah, Krieger, dies ist die Herberge ›Zum Hüpfenden Gundu‹. Gutes Essen, gute Betten. Und gute Preise.«
Einen Moment konnte sich der Arme nicht entscheiden, ob er mir voran gehen oder mir die Pforte offen halten wollte, entschied sich dann dafür vorzugehen und schlug mir so die Pforte vor der Nase zu.
Ich lachte und trat nach ihm ein. Teddus war aber gleich zum Wirt gegangen, mit dem er sich leise unterhielt.
»Ein frommer Mann ist in meinem Gasthaus immer willkommen«, sagte der stämmige Wirt und zwirbelte seinen Bart.
»Nyrrak ist euer Name, Herr? Gut, ich will es der Inquisition melden, dass Ihr bei mir untergekommen seid.
Und wenn Ihr der Nyrrak von stromab seid, habe ich eine gute Kunde für Euch. Ein anderer Gast aus eurem Dorf stieg hier schon zur letzten vollen Stunde ab und fragte gleich nach euch. Sein Name ist ...«
»Jorg«, erriet ich und senkte den Kopf. Thiban war so groß, und dieser Dummkopf nahm das gleiche Gasthaus wie ich. War dies eine neue Prüfung MODRORs? Aber warum eine solch grausame?
»Ja, so war sein Name. Er ist hier, um einen Messstab zu kaufen. Er wäre der Einzige aus seinem Ort, dem diese wichtige Aufgabe anvertraut werden konnte, sagte er.«
Bei solcher Unverfrorenheit konnte ich nur den Kopf schütteln. »Ist er hier?«
»Nein, Herr, er ging gleich wieder fort, um das Kloster aufzusuchen.«
»Na, MODROR sei Dank. Kann ich eine Schale Wasser bekommen, Herr Wirt? Ich würde mich gerne nach dem langen Weg auf der Straße waschen.«
»Sicher können Sie das, Herr. Jila! Lass die Pfannen stehen und bringe dem braven Pilger eine Schale zum Waschen auf sein Zimmer. Er nimmt das Zimmer Gottes Glauben.«
Aus dem Schankraum trat eine junge Frau hervor, in den Händen ein Tuch, mit dem sie sich abtrocknete. »Eine Schale? Sofort, Saros.« Sie lächelte und sah mich an. Ihr Lächeln wich einem Stirnrunzeln. »Werter Herr«, sagte sie leise, »mir ist als kennen wir uns.«
»Das kann nicht sein, gute Frau. Ich betrete Thiban zum ersten Mal in meinem Leben.« Nachdenklich kratzte ich mir meinen Bart. Aber bekannt kam sie mir schon irgendwie vor. Diese Augen, die vollen Lippen, dieses Lächeln ... Ich war sicher, sie zu kennen, von einem fernen Ort, aus einer fernen Zeit.
»So?«, fragte sie enttäuscht. »Das Zimmer Gottes Glauben? Gut. Werter Herr, wollt Ihr warmes oder kaltes Wasser?«
Ich schmunzelte. Seit ich denken konnte, wusch ich mich kalt. »Es ist warm heute. Ich würde gerne kaltes Wasser haben.«
Wieder lächelte die junge Frau. Es war ein schönes Lächeln. Ein gutes, ehrliches Lächeln, das beinahe mein Herz berührte, wie es das Lächeln meines Weibes Yanni getan hatte.
»Kommt, Herr, ich will euch führen!«, rief Saros, der Wirt, und ging voran ins Hinterhaus und dort eine Treppe hinauf. »Euer Freund wohnt in einem Zimmer unten, im Raum Gottes Würde. Ich denke aber, ich bringe euch lieber oben unter, wo es etwas ruhiger ist.«
Ruhiger, ja, ruhiger vor diesem Narren Jorg. Wir erreichten den Raum, der Wirt sperrte auf. Er war nicht sehr groß, aber es stand ein Bett darin, ein Tisch und zwei Stühle. Ich trat ein und nickte. Ja, hier konnte ich bleiben und mich auf meine Gebete in MODRORs Tempel vorbereiten. Das und ein Krug Bier mochten mir dabei helfen. Durch die Großzügigkeit Silns war noch so viel Geld aus Zoltrans Beutel übrig, dass ich mir diese Stube ruhigen Gewissens leisten konnte.
»Gut, Herr. Ich lasse euch jetzt mit dem alten Teddus allein. Er wird euch Gesellschaft leisten, bis das Essen zur Nacht beginnt. Jila wird sicher gleich das Wasser bringen.«
Die Tür schloss sich hinter ihm. Ich legte mein Bündel auf dem Bett ab und nahm einige Sachen daraus.
Dann sah ich Teddus, der vor der Tür stand und unruhig im Zimmer umher sah. »Guter Teddus, bitte setz dich doch. Sei mein Gast heute. Und lass uns nachher zusammen einen Krug Bier trinken.«
Die Miene des Narren hellte sich merklich auf und er nahm Platz.
»Guter Teddus. Und guter Nyrrak. Ja, beide sind gut und beide lieben MODROR. Ups, die Tür geht«, murmelte der Narr.
Es vergingen einige Augenblicke, dann öffnete sich die Tür wirklich. Jila trat mit lachendem Gesicht ein und rief: »Verzeiht, Herr, dass ich ohne anzuklopfen hereinkomme, doch für die Schüssel brauche ich leider beide Hände.«
Sofort eilte ich herbei und nahm dem Mädchen die schwere Schüssel ab. Dabei berührte ich leicht ihre Hand. Für einen winzigen Moment wusste ich, für eine kleine Spanne hatte ich nicht länger vergessen. Für einen Moment war ich zurück.
Doch dieser Augenblick verging wie eine erlöschende Flamme und ließ nur noch Nyrrak zurück, der sich kopfschüttelnd aus der Tiefe von Jilas Augen befreite. Was war gerade passiert? Ich konnte es nicht mehr sagen. Zu kurz war der Eindruck gewesen.
»Danke«, sagte ich schroff zu der jungen Frau, als ich das Wasser auf dem Tisch abstellte. »Bitte sag Saros, er möge uns Brot und Käse und einen Krug Bier bringen. Ich werde mein Nachtmahl mit Teddus hier oben halten.«
Nyrrak, der Bauer, wagte es nicht länger, Jila, die Bedienstete, anzusehen. Zu groß war die Angst, dass dieser merkwürdige Zauber, das Wissen zurückkehrte. Zu groß war die Angst, dass ich mich wieder in Jilas Augen verlor.
»J - ja, Herr«, hörte ich Jila stockend hervor bringen. »Einen Krug Bier, Brot und Käse. Ich sage es ihm.«
Sie ging und schloss die Tür hinter sich. Und mit dem Geräusch der sich schließenden Tür hoffte ich, Jila nie wieder sehen zu müssen. So sehr liebte ich mein Weib, dass ich die Versuchung bereits im Keime erstickte. Aber war es wirklich Lust oder gar Liebe gewesen, die mich in ihren Bann geschlagen hatte? Oder war es etwas anderes?
Teddus sah mich vorwurfsvoll an.
»Was?«, fragte ich zornig und zog Mantel und Kopftuch aus, um mich zu waschen.
»Nettes Mädchen, gute Frau. Sie hat es nicht verdient, nein, das hat sie nicht. Du musst netter zu ihr sein, Krieger«, tadelte Teddus.
Ich nickte schwer. »Du hast Recht, Teddus, ich hätte netter zu ihr sein müssen. Aber ich kann es nicht. Ich habe Angst, dass ...«
Angst, ja, aber wovor? Immer flüchtiger wurde der Eindruck, den ich gehabt hatte. Liebe? Dabei hatte Jila nicht einmal annähernd Yannis Format, war nur etwa halb so schwer. Und bestimmt war sie aus keinem so guten Haus wie mein Weib, wenn sie in einer Gaststätte arbeiten musste. Aber dennoch ...
Zornig rang ich den Wunsch in mir nieder, sie wiederzusehen. Morgen, so nahm ich mir vor, würde ich früh das Haus verlassen, nachdem ich bezahlt hatte und in den Tempel zum Beten gehen, Yanni das Kleid kaufen, das ich ihr versprochen hatte und dann aufbrechen, zurück in mein Dorf. Auf diese Art brauchte ich dann auch nicht Jorg zu ertragen. Dieser Gedanke besserte meine Laune recht schnell.
*
Wieder und wieder stand ich hier im Nichts. Stand hier und wartete und sah. Die Streitwagen. Die Streitwagen, die Sternenschiffe waren und an mir vorbei rasten, als wären sie keine fliegenden und Feuer speienden Berge, sondern schnelle, von vier Gundus gezogene Zweispänner. Ich sah sie kämpfen, Lanzen aus Feuer, aus Licht speien und in feurige Aureolen senken, die den getroffenen Streitwagen umgab.
Und wirklich, wieder sah ich einen Streitwagen, auch in diesem Traum. Er kam ganz knapp an mir vorbei und als ich meine Hand ausstreckte, da meinte ich, seine kalte und glatte Oberfläche berühren zu können. Da war er aber auch schon vorbei und verschwand in der Ferne. Dort erkannte ich ein anderes Sternenschiff, einen fremden Streitwagen. Sofort verbissen sich die Lenker und Waffenmeister der beiden Wagen ineinander und umkreisten sich, tauschten ihre Feuerlanzen aus, ließen die schützenden Sphären leuchten. Die des einen Wagens leuchtete rot, die des anderen grün.
Immer und immer wieder gruben sie die Lanzen ineinander, verbissen, unerbittlich. Und urplötzlich verschwand die grüne Sphäre und die Lanzen des Streitwagens, der mich passiert hatte, schlugen in das andere Sternenschiff ein, prügelten es lahm, rissen große Brocken heraus und verursachten tausendfachen Widerschein.
Und dann ... verschwand das angeschlagene Sternenschiff in einer Orgie aus Licht, Kraft und entfesselter Macht. Hell war es, weit heller als es MODRORs Auge je gewesen war. Dennoch erblindete ich nicht. War dies einer der Götter selbst, befreit von der Enge seines Streitwagens? War dies Osiris?
Nein, erklang eine sanfte Stimme in meinem Kopf. Und ich wusste, es war Seths Streitwagen gewesen, der besiegt und ihm genommen worden war.
Ich sah nach rechts, und wirklich, dort in der Finsternis sah ich die Augen schweben. Ein Gedanke von mir, ein Wunsch, brachte mich näher heran. Oder kamen die Augen zu mir?
Diese Augen, diese wundervollen Augen. Aus der Finsternis schälten sich Konturen eines Gesichtes, ich erkannte die Nase, sah die Lippen, das kleine Kinn. Doch es endete nicht hier, wie in meinem letzten Traum. Näher und näher kam mir das Gesicht. Nach und nach schälten sich weitere Konturen aus der Finsternis und ich erkannte eine Frau. Sie trug ihr Haar lang und offen, ihr Mantel war kurz und eng um den Körper gelegt. Und ihre Beine steckten in einem Kleid, wie ich es nie zuvor gesehen hatte, es war, als hülle ein eigenes Kleid ein jedes Bein einzeln ein. Es war seltsam und doch vertraut.
»Wer bist du?«, wisperte die Stimme in meinem Kopf.
»Wer bist du?«, erwiderte ich.
»Ich weiß nicht«, sagte die Stimme da und das Gesicht eilte noch ein wenig an mich heran. »Ich bin verloren und einsam. Und du?«
Ich erschrak, als ich das Gesicht endlich erkannte. Es war Jila, die Bedienstete.
»Ich bin der, zu dem du in dieser Welt gehörst «, hauchten meine Gedanken.
Als ich hochfuhr, war es bereits dunkel. Neben mir im Bett erwachte Teddus sofort. Er hatte den Krug Bier mit mir geleert und weil es spät geworden war, hatte ich ihm angeboten, ebenfalls in dem Bett, das groß genug für zwei war, zu schlafen.
Ich war verwirrt, erschrocken und zugleich fasziniert. Schnell zog ich mich an, verzichtete aber auf das Kopftuch.
»Schlaf, Freund Teddus. Hierbei kannst du mir nicht helfen.«
Der arme Narr schloss die Augen und tat, als wäre er nie erwacht.
Leise verließ ich meine Stube und eilte hinab in den Schankraum. Ich kannte den Weg eigentlich nicht, hatte ich doch nur den Vorraum und meine Stube gesehen, aber ein sicheres Gefühl leitete mich, so als würde ich durch den Amum schwimmen und jede Strömung aufs Beste kennen.
Schnell trat ich ein, sah mich um in der Dämmerung der Stern erhellten Nacht. Durch die Hintertür der Stube eilte Jila herein, sie rückte noch ihr Kleid zurecht, so hastig musste sie von ihrem Lager aufgesprungen sein. Ich sagte kein Wort und sie stellte keine Frage. Wir traten einfach zueinander und nahmen unsere Hände. Ich genoss dieses Gefühl, ihre zarten Hände zu halten viel zu sehr. Aber ich wusste, dass unsere Verbindung von anderer Art war, als es meine mit Yanni war. Es musste einfach so sein, es musste!
Sie sah mir in die Augen. »Seths Streitwagen«, hauchte sie. »Kann es sein, dass es ihn gibt? Oder gab? Kann es sein? War es vielleicht kein Traum? Und gehörte der andere Wagen Osiris oder gar Gott?«
Für einen Moment erschrak ich. Ich war herunter gekommen, weil ich gewusst hatte, sie hier zu treffen, weil ich gewusst hatte, dass sie meine Träume teilte - oder ich die ihren. Aber nun, wo der Gedanke Wahrheit wurde, wo ich wusste, ich war nicht der Einzige, der von den fliegenden Bergen träumte, der Seths Streitwagen gesehen hatte, da wusste ich, dass MODROR mich nicht prüfte oder versuchte. Er hatte mich längst auf eine Reise geschickt und ich konnte nicht sagen, wohin sie mich, wohin sie uns führen würde.
»Es muss Seths Wagen gewesen sein, Jila. Er wurde zerstört und ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist. Ich weiß nicht einmal, in welcher Beziehung er zu Osiris steht, geschweige denn zu unserem Herrn MODROR. Aber ich weiß, dass ich seit Wochen und Monden von den Streitwagen träume. Und jetzt endlich, bei dir, erhalte ich Antworten, sehe ich jemanden, der diese Träume teilt.«
Ich hielt inne. Ich erinnerte mich daran, was Siln, der große Schmied mir gesagt hatte, wie Teddus einen Gott namens Osiris gepriesen hatte und dafür ins Kastell der Inquisition verschleppt worden war, um dort gefoltert und geläutert zu werden. Auch ich und Jila hatten diesen Namen im Munde geführt. Hätte uns jemand gehört, ein Wort an die Inquisition, und uns stand vielleicht der gleiche schwere Gang bevor.
»Doch lass uns hier nicht länger darüber reden. Jila, wenn du willst, spätestens nach der nächsten Ernte, bin ich reich. Dann wollte ich eine Magd für meine Frau in mein Haus nehmen. Du kannst diese Magd werden. Tags kannst du Yanni im Haushalt helfen und abends können wir über unsere Träume sprechen und entweder diese Prüfung MODRORs gemeinsam bestehen oder aber niederringen.«
Die junge Frau nickte schwer. »Ja, Nyrrak, ich denke, dies ist der Pfad, den ich gehen muss. Gemeinsam wollen wir an dieser Aufgabe gewinnen oder versagen.« Langsam löste sie ihre Hände aus den meinen. »In der nächsten Ernte, sagtest du? Diese Zeit will ich warten.«
»Unsere Leben sind verwoben«, sprach ich meine Gedanken aus. »Was immer uns MODROR oder Osiris oder Seth zugedacht haben, wir wollen es gemeinsam tun.«
So sprach ich und ging zurück auf meine Stube. Doch ich fand keinen Schlaf mehr, bis der Kekkok mich eh weckte.
*
Zur Mittagszeit war die Stadt am Schönsten, stellte ich wieder fest, wenn die Sonne hoch stand und der See, zu dem der Amum hier oben geworden war, das Licht von MODRORs Auge tausendfach brach und auf die gelbe Stadt warf, sie tauchte diese in das Licht und ließ sie schimmern wie Gold.
Ich hatte eine gute Zeit für meinen Abschied gewählt. Auf dem Rücken trug ich meine Tasche, gut gefüllt mit den Werkzeugen, Nägeln und derlei. Dazu ein neues Festtagskleid für mein Weib. Und noch immer hatte ich viel vom Silbergeld Zoltrans über, denn Teddus kannte viele gute Handwerker in Thiban und war mit vielen auf gutem Fuß. So hatte ich auch bei dem Kleid gespart, obwohl es von einer Qualität war, die des Preises spottete. Meinen Gang in den Tempel hatte ich ebenfalls getan und MODROR gedankt, dass er mich zu Jila geführt hatte. Mein Leben würde fortan ein anderes sein, ich wusste es einfach.
Aber nun war die letzte Arbeit getan und ich wollte heimkehren. Das Wasserrad musste gebaut werden.
Argwöhnisch sah ich mich um, konnte aber Jorg, den Knecht des Telos, nicht entdecken. Der Wirt Saros hatte mir zwar erzählt, dass Jorg fest schlief und nicht vor dem Nachmittag geweckt werden wollte, aber bei solch einem unangenehmen Zeitgenossen war ein wenig Vorsicht nicht verkehrt.
Teddus stand neben mir und hielt meine Hand. »Nyrrak, guter Nyrrak. Du willst also gehen. Wann wirst du wiederkommen?«
Ich fühlte mein Herz schwer werden, denn den Narren hier hatte ich längst in mein Herz geschlossen. »Ich komme nach der ersten Ernte hoch, Teddus, um Jila als Magd in mein Haus zu nehmen. Dann werde ich auch dich besuchen, mein Freund.«
»Die erste Ernte!«, klagte Teddus. »Die erste Ernte ist so weit entfernt. Ich weiß nicht ob ich es hoffen oder fürchten soll, wenn ich mir wünsche, dich früher wiederzusehen, guter Krieger.«
»Was wäre furchtbar daran, wenn ich die Zeit fände, früher nach Thiban zu kommen?«, fragte ich verwundert.
»Ah!«, machte Teddus erschrocken und tat einen Satz fort von mir. Dabei umklammerte er seine Hände, als schmerzten sie ihm. »Nein, nichts Schlechtes. Nichts Schlechtes soll dir geschehen. Teddus ist dein Freund. Er wacht über dich, ja, das tut er.«
Dazu nickte ich schwer. Es tat gut zu wissen, einen Freund in der großen Stadt Thiban zu haben, der sich zudem so vortrefflich auskannte. »Und ich will immer, wenn es mir möglich ist, über dich wachen, mein Freund.«
Ich schloss Teddus, den Narren, ein letztes Mal in die Arme und wandte mich um. Mein Plan sah vor, das einsame Gasthaus noch heute zu erreichen. Dann war es nur noch ein Tagesmarsch bis nach Hause. Mit einem Boot stromab wäre es gewiss schneller gewesen, doch für derlei Luxus wollte ich Zoltrans Geld nicht verschwenden. Yannis Kleid bereitete mir schon Kummer, von meinen neuen Hacken ganz zu schweigen.
Als ich gut tausend Schritte gegangen war, drehte ich mich ein letztes Mal um, Teddus zum Abschied zu winken. Doch er war fort, verschwunden in der golden schimmernden Stadt.
Als ich am Abend in meinem Dorf eintraf, wurde ich bereits erwartet. Zoltran stand dort mit dreien seiner Söhne, Egan der Alte, Lagat der Dorfpriester, Konn und Bomir und sogar Telos, der kleine Schurke war erschienen. Sie bereiteten mir einen Empfang, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Auch Yanni, mein Weib, war da und hatte auf mich gewartet.
»Seht, da ist der Mann, der das Wasserrad bauen wird. Damit bricht der Wohlstand an für uns alle!«, rief Zoltran freudig und schüttelte meine Hände.
»Ja, das Wasserrad, eines, wie er es für den Dorfbrunnen gebaut hat, nur größer«, frohlockte jemand, ich glaube es war Isa, die Frau von Egan.
»Mein lieber Mann!«, rief Yanni und drängte sich mit ihrem massigen Leib durch die Menge. »Willkommen zu Hause. Alle wissen von den großen Plänen, die du und Zoltran haben. Und sie hoffen alle auf große Ernten, dank euch. Sicher hast du gute Nägel und bestes Werkzeug erstanden.«
»Die besten Nägel, das beste Werkzeug!«, rief ich und zog einige der Nägel hervor, reichte sie herum.
Maatran nahm sich einen Nagel und begutachtete ihn. »Ja, das ist exzellente Ware. Seit ich bei den Mönchen studiert habe, ist mir eine solche Qualität nicht mehr untergekommen. Sicher war dies alles teuer. Aber es hat sich gelohnt, wie ich sehe.«
Ich lächelte wissend. »Nun, ein gläubiger Mann wie ich findet immer leicht gute Freunde. Einer von ihnen verhalf mir zu ein paar vortrefflichen Geschäften, so dass ich trotz allem noch vierzig Silberstücke übrig habe.« Zum Beweis meiner Worte zog ich einen Hammer und den Satz mit den Stecheisen hervor.
»Das ist alles hoch erfreulich!«, rief Zoltran da. »Mittlerweile haben wir das Holz vorbereitet, das du für die Arbeit brauchst und meine Söhne haben deine Felder bestellt. Die Arbeit mögen wir morgen angehen. Aber heute wollen wir feiern.«
Diese Idee fand allgemeine Zustimmung. So holte jedermann Speise und Wein aus den Hütten, und gemeinsam aßen und tranken wir unter dem Licht der Sterne, scherzten, lachten und tanzten, wenn Zoltrans Söhne auf den Holzflöten spielten.
*
Endlich hatte ich mein Weib für mich allein. Ich nahm sie mit in den Schatten meines Hauses. »Yanni, ich habe dir wie versprochen ein Kleid mitgebracht.«
»Nur eines?«, rief sie verwundert. »Wenn du so viel von Zoltrans Geld übrig hast, warum sind es nicht heute schon drei? Warum muss ich bis zur Ernte warten?«
Ich zog das Kleid hervor und entfaltete es vor ihren Augen. Sie jauchzte auf und ergriff es. »Was für ein schönes Muster. Und welch edler Stoff. Das ist ja wunderbar. Ich will es sofort probieren!«
Sie verschwand in unserem Haus und ich sagte lachend: »Wenn das Wasserrad erst arbeitet, werde ich dir mehr von diesen Kleidern kaufen. Und eine Magd, die dir die Hausarbeit erleichtert, habe ich auch schon im Auge.«
*
Die nächsten beiden Tage vergingen für mich wie im Rausch. Ich war glücklich, einfach nur glücklich. Zwar träumte ich des Nächtens immer noch von den Streitwagen, aber ich fuhr nicht mehr auf und schrie meine Not in die Nacht. Und immer in meinen Träumen sah ich Jila neben mir stehen und mit mir diese Bilder betrachten. Einmal war mir sogar, als hätte ich sie im Traum berührt.
Die Tage begann ich früh, sehr früh. Noch bevor der Kekkok rief, stand ich auf und ging zu meinem Feld am Fluss, wo bereits das Holz bereitet war. Maatran kam ebenfalls in der Frühe und brachte seine Pläne mit. Jeden Morgen aßen wir sein Brot und tranken das erdige Wasser aus dem Amum und sprachen über die Pläne und verbesserten sie, wenn uns ein Fehler auffiel. Leider Gottes waren es einige, aber Maatran war gelehrig und nicht nachtragend. Und in mir keimte die Hoffnung, das beste aller Wasserräder zu bauen. Am ersten Tag woben wir die Seile für das Förderband und rammten vier der Pfähle in den Fluss, die einst das Rad halten sollten. Bei dieser schweren Aufgabe half uns zeitweise das halbe Dorf und so schafften wir in einem Tag, was sonst Wochen gedauert hätte.
Auch überzeugte ich Maatran davon, einen Steg einzuplanen, der entlang des Rades und des Förderwerks entlang ging, was die Kontrolle erleichtern würde.
Am zweiten Tag schlichteten wir das Holz für die Planken und die Fächer des Wasserrades und passten sie an die Nabe an. Dies war eine Arbeit, die nur kräftige und geschickte Männer erledigen konnten, so machte ich das meiste allein, während mir Maatran immer wieder im groben half. Auch knüpften wir die Krüge für das Förderwerk an die Bänder und planten bereits an der Kraftübertragung vom Rad zum Werk.
Mühselig überzeugte ich Maatran endlich davon, dass es sinnvoll wäre, die Stelle dort, wo das Förderwerk in den Amum tauchte, auszugraben und diese Stelle stets zu kontrollieren, damit sie nicht zugeschwemmt werden konnte und die Krüge nur noch Schlamm beförderten. Alles in allem kamen wir gut voran und waren längst eine Woche vor der Zeit, wie ich fand.
Im Dorf begegnete man uns mit Hochachtung. Waren die Leute hier immer schon sehr freundlich gewesen, so strahlten sie jetzt vor Glück und sie lachten und freuten sich, dass im Dorf niemand mehr Hunger würde haben müssen.
*
Als ich am zweiten Abend nach Hause kam, zufrieden und erschöpft, da sah ich von Ferne, vor meinem Haus, Yanni stehen. Bei ihr war Telos. Ich hörte nicht, was sie sprachen, aber wohl sah ich, dass die Freude der beiden sehr bald in Ärger umschlug. Bis ich in Hörweite war, stritten sie schließlich nur noch.
Als ich neben sie trat, fragte ich: »Telos, warum störst du den Frieden meines Hauses? Oder hat Yanni dir etwas getan? Wurden Worte im Zorn gesagt?«
Telos starrte Yanni an. Diese sah von ihm zu mir und wieder zu ihm und sah dann weg.
»Es ist ... nichts, Freund Nyrrak. Ich ließ mir nur berichten, wie fein das Kleid ist, dass du Yanni mitgebracht hast. Und ich wollte Yanni fragen, ob sie nicht ... eine Schwester hat, die ich zur zweiten Frau nehmen kann.«
Ich stutzte. Telos erschien mir bei weitem weder weise noch gläubig genug, um unter den Augen meines Schwiegervaters zu bestehen, der bereits mit mir streng gewesen war. Bestenfalls gäbe er Telos eine seiner Töchter, die in seinen Augen in Ungnade gefallen war.
»Höre, Telos, mein Schwiegervater kommt heute zu Besuch. Er muss jeden Augenblick eintreffen und ich will noch Einiges vorbereiten. Und Yanni muss noch ihr neues Kleid anziehen und Farbe auftragen. Wenn deine Dinge hier also erledigt sind, dann will ich dich nicht länger aufhalten.«
Diese Worte waren ein klarer Rausschmiss, das wusste ich. Aber mit der Zeit konnte Telos noch nervender als sein Knecht sein. Und die Zeit drängte wirklich, denn es wollte noch Einiges vorbereitet sein, bis Yannis Vater eintraf.
»Ja, meine Dinge sind erledigt, Nyrrak«, sagte er und fügte hinzu: »Für heute. Wir reden ein andermal weiter, Yanni.«
*
Als er ging, war mir das hoch willkommen.
Yanni strahlte mich an. »Mein lieber Mann, ich habe das Haus bereitet und Brot gebacken. Dazu habe ich viel geschmückt und deine besten Sachen raus gelegt. Wenn mein Vater kommt, wollen wir ihn mit dem Besten bewirten, was wir haben und dann wollen wir davon erzählen, wie deine Arbeit am Wasserrad uns Reichtum bringt.«
»Wir wollen ihm erzählen, wie wir helfen, den Hunger zu bannen, indem wir die Ernten sehr verbessern. Wie es sich für fromme Leute wie uns gehört«, ermahnte ich mein Weib schmunzelnd.
»Wie auch immer!«, rief sie, ergriff mich bei der Hand und zog mich in mein Haus. »Schnell, wasch und kleide dich neu ein. Er wird sicher bald kommen.«
Eine Stunde darauf war es dann soweit. Yannis Vater kam auf einem großen Gundu heran geritten, wie man es hierzulande nur selten sah, denn solche Tiere benutzte die Inquisition für ihre Häscher.
»Junda!«, rief ich erfreut und half dem Alten beim absteigen. »Guter Junda, sei willkommen in meinem bescheidenen Heim. Frisches Brot ist bereit und Wein.«
Yannis Vater war ein Riese mit großem, wallendem Bart. Er lachte und schlug mir auf die Schultern. War er auch alt, so steckte doch noch viel Kraft in ihm. »Mein guter Nyrrak, du frommer Mann. Teilen wir das Brot an deinem Tisch.«
»Mein Vater!«, rief Yanni aufgeregt und warf sich Junda um den Hals.
Der lachte erfreut und drückte seine Tochter an sich. Dann aber hielt er sie von sich und meinte: »Trägst du etwa ein Kind, Tochter?«
Verwirrt schüttelte Yanni ihren Kopf. »Nein, Vater.«
»Dann«, brummte er mürrisch, »musst du ein sehr müßiges Leben führen, Tochter. Denn du bist dick geworden. Arbeitest du denn zu wenig?«
Danach zu fragen, hielt ich noch für ungünstig, deswegen umfasste ich meinen Schwiegervater an der Schulter und zog ihn mit ins Haus. »Das lass uns doch nach dem Essen bereden. Yanni mag sich um deinen Gundu kümmern und wir wollen etwas Wein trinken. Und ich will hören, was sich die letzten Wochen so zugetragen hat in deinem Haus. Und dann will ich erzählen, was sich hier zugetragen hat.«
*
Lange nach dem Essen saßen wir noch beisammen und lachten und scherzten gemeinsam.
»Und der Narr hat wirklich geglaubt, du würdest die fehlenden Kerben nicht bemerken?«, rief Junda und brach in schallendes Gelächter aus.
Ich stimmte ein, nur Yanni nicht. Ihr Blick wurde traurig.
»Aber jetzt berichte noch einmal von Thiban. Wie hieß der Schmied?«
»Sein Name war Siln.«
»Siln, eh? Oh, was für ein großer Name. Ich dachte, er würde längst auf seinem Altenteil ruhen. Dass er immer noch arbeitet ... Er hat doch seinerzeit das Kastell vollendet und dies ist zwanzig Jahre her.«
»Oh, er sagte mir, er würde nur noch arbeiten, damit seine Söhne in ihren großen Schmieden ernst zu nehmende Konkurrenz haben und er nicht faul und träge werde.«
Wieder lachte Junda. »Ja, so kenne ich ihn. Das klingt ganz nach Siln.
Aber erzähle mir jetzt etwas anderes, Nyrrak. Wann willst du mir einen Enkel schenken? Gehofft hatte ich es ja schon, als ich dachte, Yanni wäre schwanger und nicht fett.«
Ich spürte die Röte in meine Wangen schießen und sah weg. Nachdenklich kratze ich mich an meinem Bart. »An mir soll es nicht liegen.«
Nun errötete auch Yanni. Sie sah zu Boden und wagte es nicht, ihren Vater anzusehen.
Der sagte streng: »Yanni, was muss ich da hören? Lässt du Nyrrak etwa nicht ein? Willst du mir keinen Enkel mit ihm schenken?«
»Ich fand, die Zeit sei noch nicht soweit«, erwiderte sie leise.
»Bei Gott, habe ich dich ihm umsonst zum Weibe gegeben? Haben dich deine Mutter und deine Schwestern nicht gelehrt, was sich für ein Eheweib geziemt?«
Junda stand auf und beugte sich drohend über mein Weib. »Und überhaupt, warum bist du so dick geworden? Arbeitest du zu wenig? Oder nutzt du etwa Nyrraks gutes Herz aus und arbeitest gar nicht? Habe ich dich so erzogen? War denn alles vergebens, was du in der Frömmigkeit meines Hauses gelernt hast? Und was ist mit deinen Rechenexempeln? Hast du diese wenigstens gewissenhaft gepflegt und stets neue aufgestellt?
Und dann ist nicht einmal ein Kind unterwegs, das bringt den ganzen Amum zum überlaufen.«
Junda setzte sich wieder und stützte den Kopf schwer auf die Arme. »Und ich bin ja Schuld daran. Yanni ist mein jüngstes Kind und sie wurde immer von ihrer Mutter und ihren Schwestern verwöhnt und umsorgt. Ich selbst habe es ja nicht besser gemacht. Da dachte ich, es würde sie bessern, wenn ich sie einem guten Menschen wie dir, der fest im Glauben steht, gebe. Aber siehe, sie wird auch noch faul und will dir nicht mal Söhne und Töchter schenken.«
Yanni verbarg ihr Haupt unter den Armen und wimmerte leise wie ein Kekkok, der schwer geprügelt worden war.
»Was für einen Bärendienst habe ich dir da nur erwiesen, guter Nyrrak. Einem guten, frommen Mann wie dir solch eine Last aufzubürden. Das ist nicht gerecht. Ich sollte ein paar Tage bleiben und ihrem Lästerleben ein Ende setzen und sie antreiben.«
Da fuhr Yanni hoch und zeigte mit dem Finger auf mich. »Er ist aber nicht gläubig, edler Vater! Jede Nacht träumt er von fremden Göttern in ihren Streitwagen! Er nennt Namen in seinem unruhigen Schlaf wie Seth und Apophis und Osiris und beschreibt ihre Wagen, groß wie Berge und wie mächtig sie sind. Doch MODROR preist er nie im Schlaf.«
Entsetzt starrte Junda mich an.
Ich winkte ab. »Träume, guter Schwiegervater. Es sind Träume, mit denen Gott meinen Glauben testet.«
»Aber er träumt nicht nur von den Wagen, die hoch wie Berge sind. Er träumt auch von einem fremden Weib!«
Yanni war aufgesprungen und fuchtelte nun mit ihren Händen vor mir auf und ab.
»Als er auszog, um die Nägel für das Wasserrad zu kaufen, da hat er sie sogar getroffen, in einem Gasthaus in Thiban. Und sie hat diese Träume auch von Seth und Osiris und wie sie alle heißen. Und er hat sie geherzt und ihr versprochen, sie als Magd in mein Haus zu bringen!«
Erschrocken fuhr ich auf. Was war mit Yanni los? Was verteidigte sie sich so vehement vor ihrem Vater? So wie sie jetzt war, so verletzend und keifend, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, dass ich einst vor Liebe nach ihr gebrannt hatte.
»Ja, da staunst du, lieber Mann, ja? Jorg hat euch beobachtet, euch beide, als ihr euch des Nächtens heimlich im Schankraum getroffen habt. Und der sagte es Telos, und der sagte es mir, um mich zu warnen, dass ich mit einem Ketzer zusammenlebe!«
»Yanni!«, blaffte Junda. »Setz dich, Tochter. Und du, Nyrrak, ist das wahr, was sie sagt? Hat es sich so zugetragen?«
Ich schwieg und sah meinem Schwiegervater fest in die Augen. »Ja, Herr, ich träume von diesen Wagen. Und ich träume auch von dieser Frau. Und ja, ich habe sie getroffen. Doch begehre ich sie nicht. Ich weiß, Gott will mich prüfen. Und sie ebenso wie mich. Drum hielt ich es für klug, sie, die sie die gleiche Prüfung auferlegt bekam, zu mir zu nehmen. Und da Yanni schon lange eine Magd für die Hausarbeit haben wollte, erschien es mir umso klüger.«
»Das klingt ernst. Das klingt sehr ernst. Nyrrak, glaubst du an diese fremden Götter?«
»Nicht einen Augenblick!«, rief ich voller Inbrunst.
»Das glaube ich dir. Aber dennoch werde ich nun Einiges zu tun haben. Ich werde noch in dieser Nacht aufbrechen und nach Thiban reisen. Im Kastell werde ich nach diesen Namen nachschlagen lassen. Entweder wasche ich dich rein von Yannis Vorwürfen, denn dich Ketzer zu nennen ist ein sehr schwerer Vorwurf, oder ich werde dich läutern lassen müssen.«
Junda erhob sich vom Tisch. »Aber denke nicht, Yanni, dass ich etwa vergessen habe, was ich über deine Faulheit weiß. In zwei Tagen will ich wieder hier sein, und dann wollen wir erneut reden. Solange halte Frieden mit deinem Mann und nenne ihn nicht erneut einen Ketzer. Sonst kann es passieren, dass ich dich strafen muss.«
Junda erhob sich und griff nach seinem leichten Mantel.
»Herr, Schwiegervater«, rief ich und eilte hinterdrein. »Willst du nicht die Nacht hier verbringen und erst Morgen aufbrechen?«
»Das kann ich nicht, Nyrrak, denn wenn ein Häscher der Inquisition die Klage vernimmt, jemand sei ein Ketzer, darf er nicht mit ihm unter einem Dach schlafen und muss die Klage sofort prüfen. Ich tue dies vor allem für dich, mein Schwiegersohn. So haltet Frieden, Ihr zwei, bis ich wiederkehre.«
Ich fügte mich. Ich half, den Gundu zu satteln und gab meinem Schwiegervater Aufsteighilfe. Danach sah ich ihn davon reiten, Richtung Thiban, denn dort stand das naheste Kastell der Inquisition.
Eine Zeit lang hielten Yanni und ich einen unsicheren Frieden. Wir sprachen nicht mehr als nötig miteinander und die meiste Zeit war ich sowieso mit Maatran am Bau des Wasserrades. Immer öfter holte ich Zoltrans andere Söhne zu Hilfe und unterwies Kurran, den Geschicktesten, darin, die Stecheisen zu führen.
Auch lehrte ich ihn, den Plan zu lesen und half, wie immer ich es konnte Maatran dabei, den Plan ohne Makel zu machen. Denn ich spürte, dass meine Zeit hier zu Ende ging. Es war mir, als wispere MODROR mir ins Ohr, dass die Prüfung durch Junda nicht gut ausginge. Dies merkte ich schon, als er am zweiten Morgen nicht wie versprochen zurück war. Ich hätte fliehen können, doch wohin? Dies hier war mein Leben. Und für wen? Wenn ich nicht mehr der fromme Nyrrak mit seinem Weibe Yanni sein durfte, was blieb mir da noch?
So wurde die Zeit, die ich auf Junda wartete, noch recht glücklich und ich kostete sie voll aus. Die meiste Zeit verbrachte ich bei Zoltran und seiner Familie und gemeinsam befestigten wir schließlich das Wasserrad an den Balken. Damit war das gröbste an Arbeit getan.
Ich war bereit.
*
Am Morgen darauf ging ich nicht aufs Feld. Ich setzte mich an den Küchentisch und frühstückte für drei. Als ich dann aufstand und mein Haus verließ, wurde ich bereits erwartet. Es waren zehn Reiter der Inquisition, die einen Wagen begleiteten.
»Bist du Nyrrak?«, fragte mich ihr Anführer, der augenscheinlich ein Häscher war, ein sehr hochrangiger Mann, so wie es mein Schwiegervater ebenfalls war.
»Ich bin Nyrrak«, bestätigte ich.
»Nun, dann vernimm die Stimme der Inquisition. Angeklagt bist du schwerer Ketzerei und wir wollen dich in das Kastell Thiban mitnehmen. Dort soll über dich entschieden werden und du magst geläutert werden.«
»Und was ist mit meiner Arbeit hier? Mit meinem Weibe? Mit den Feldern? Mit dem Wasserrad?«
Dies erzürnte den Häscher. Er trieb sein Gundu heran und schlug nach mir. »Was wagst du, solche Fragen zu stellen? Die Läuterung kann Wochen, ja sogar Jahre dauern. Das ist der Lohn für Ketzerei!«
Er rief nach seinen Begleitern. Zwei von ihnen sprangen vom Wagen herab und banden mich mit eisernen Fesseln. Dann halfen sie mir auf den Wagen und bedeuteten mir, auf der harten Pritsche Platz zu nehmen.
»Wir brechen sofort auf!«, rief der Häscher. »Dies sagt dir Sorron, Häscher im Namen unseres Gottes MODROR.«
Der Lärm hatte das Dorf geweckt. Sie kamen aus ihren Häusern und sahen zu, wie sich die Reiter formierten und den Wagen in ihre Mitte nahmen.
»Das ist Nyrrak«, hörte ich ihre Stimmen wispern.
»Wer baut jetzt das Wasserrad?«
»Was wird ihm vorgeworfen?«
»Wohin wird er gebracht?«
Zoltran selbst eilte aus seinem Haus und wollte den Häscher befragen, aber mir schmerzte noch immer der Kopf vom harten Schlag des anderen, also rief ich: »Lass gut sein, Freund Zoltran. Die Inquisition will lediglich meinen Glauben prüfen. In wenigen Tagen bin ich zurück und reingewaschen von der Anklage. Und das Wasserrad können deine Söhne beenden, denn das Wichtigste haben wir bereits getan.«
»Aber Nyrrak, Freund Nyrrak, wie kann ich dich, den frommen, den gläubigen Mann nur in solcher Schande ziehen sehen?«
Ich sagte: »Dies ist alles eine Prüfung MODRORs. Und ich bin gewillt, sie zu bestehen. Bald schon sehen wir uns wieder, mein Freund.«
Ich spürte, ich wusste, dass ich log. Diesen Ort und diese Menschen, ich würde sie vielleicht niemals wieder sehen. Ich sah zurück, zu meinem Haus. Dort stand Yanni und sah mir nach. Ihr Gesicht war hart, wie aus Stein gemeißelt. Neben ihr aber stand Telos und redete auf sie ein. Da lächelte mein Weib plötzlich. Und es schien, als wäre sie dem Dieb und Lügner zugetan.
Sein Knecht aber lief neben dem Wagen her und sagte: »So haben sie dich endlich erwischt, Ketzer, hm? Du hältst dich ja für so klug. Aber nun war ich mal der Klügere. Ja, ich war klüger als du, Nyrrak. Und das Weib, mit dem du frevelst, das kriegen wir auch noch.«
»Du warst das also«, hörte ich Maatran zornig zischen.
Ich sah noch als letztes, wie Jorg erschrocken fortlief, mit Maatran dicht dahinter. Dann lag das Dorf hinter mir und mein Leidensweg begann.
*
Mein Einzug in Thiban war diesmal am Morgen, und die Stadt war schlicht gelb, nicht golden. Trotz des Hungers und des Durstes in meiner Kehle bedauerte ich es, nicht das goldene Licht sehen zu können, obwohl es sicher meinen Durst noch verstärkt hätte. Es waren viele Menschen auf den Straßen und, als der Karren an ihnen vorbei fuhr, riefen sie mich einen Ketzer und warfen faules Obst und Steine nach mir. Ich beachtete sie nicht, wich nur den Geschossen aus, die mich hätten treffen können. Es war mir egal, was jene sagten. Einzig, was im Kastell geschah, würde noch Bedeutung für mich haben. Dies und die bucklige Gestalt, die den Wagen begleitete, teils versteckt hinter der Wand an Menschen, die den Weg säumten. Kurz nur erhaschte ich einen Blick in sein Gesicht und erkannte Teddus. Ich wusste nicht wieso, aber es beruhigte mich zu wissen, dass der Narr von meiner Ankunft wusste.
*
Wir kamen zügig voran und erreichten das Kastell der Inquisition recht schnell. Im Innenhof ließ man mich vom Wagen klettern. Dort übergab mich Sorron einem anderen Häscher, der bei der Nennung meines Namens leuchtende Augen bekam. Zur Begrüßung schlug er mich, bis meine Nase blutete. Dann ließ er mich in das eigentliche Kastell und dort in den Keller, zu den Kerkern schaffen.
Ich wurde erneut übergeben und der fremde Häscher sagte: »Dies ist Nyrrak, der Schwiegersohn des Junda. Er spricht im Schlaf über die verbotenen Götter Osiris und Seth. Findet heraus, was immer er weiß. Ihr habt acht Tage, dann wird der Hochinquisitor Trakmadon mit Junda selbst eintreffen. Bis dahin muss es geschehen sein.«
So gab mich der Häscher in die Hand meiner Foltermeister. In der Dunkelheit der Keller banden sie mich auf eine eiserne Bank und begannen ihr grausames Werk.
Sie stachen Nadeln in meinen Leib und rieben Salz in die Wunden, verpassten mir mit stumpfen Messern schmerzhafte Schnitte und schlugen mit Prügeln auf meine Knie ein, dass ich glaubte, sie müssten brechen.
»Was weißt du über die Verbotenen?«, riefen sie immer wieder. »Wer hat dir die Geheimen Schriften erklärt? War es gar Junda selbst? Willst du nicht gegen ihn gestehen? Wie sonst kannst du Osiris kennen, wenn nur die Inquisition in das Verbotene Buch Einsicht hat?«
So ging es stundenlang, ich weiß nicht mehr wie lange. Dennoch blieb ich stur und nur meine Schreie hallten durch die kalten Gänge.
Wieder fragten sie mich: »Woher kennst du die fliegenden Berge, die zwischen den fernen Sonnen umher reisen? Hast du Seths Antlitz gesehen? Und kennst du die Namen der Streitwagen?«
Doch noch immer sagte ich nichts darauf. Ich wusste, es war unnötig, denn über all dieses Wissen verfügte ich ja gar nicht. Mir wäre nur geblieben, sie anzulügen und dies würde die Folter verschlimmern.
Das wusste ich mit Sicherheit.
*
Endlich waren auch meine Foltermeister erschöpft, und sie banden mich los und warfen mich in einen kleinen Kerker. Dort sackte ich zu Boden. Drei Tage hatte ich nichts gegessen und nur das nötigste getrunken. Dazu kam die Folter. Meine Kräfte waren aufgebraucht.
»Nyrrak?«, hörte ich eine zittrige Stimme aus einer dunklen Ecke wispern.
Ich hob mein Haupt und neue Energie durchströmte mich. »Jila?«
»Nyrrak!« Auf allen vieren kroch die Frau, mit der ich meine Träume teilte, aus der Finsternis hervor und warf sich mir um den Hals. »Oh, Nyrrak, lieber Nyrrak. Nun sind wir beide gefangen und ich hatte so sehr gebetet, dass sie dich nicht ergreifen würden.«
Ich schloss sie in meine Arme und betrachtete sie im Dämmerlicht. »Jila, dich haben sie ja auch gefoltert«, flüsterte ich. Wohl sah ich nichts in ihrem Gesicht, aber ich spürte das verkrustete Blut auf ihrem Rücken.
Sie drängte sich eng an mich und sagte: »Das ist jetzt egal, lieber Nyrrak. Wir sind zusammen und das soll uns erst mal reichen. Irgendwie wird es schon weitergehen.«
»Ja«, murmelte ich und hielt sie eng umschlungen. »Irgendwie wird es weitergehen.«
Jila in den Armen ließ ich mich zu Boden sinken und schlief ein.
Eine Berührung an meinem Bein weckte mich. Jila schlief noch immer in meinen Armen. Ihr Gesicht war Tränen überströmt, aber es lag ein Lächeln darauf.
»Bist du wach, Krieger? Bist du es?«, hörte ich eine leise Stimme flüstern.
Ich fuhr herum. Im Schauloch der großen Pforte sah ich das Gesicht von Teddus, der zu mir hinein grinste.
»Teddus? Freund Teddus?«, murmelte ich schläfrig. »Was für ein merkwürdiger Traum.«
»Kein Traum, es ist kein Traum. Ich bin es wirklich, Freund Nyrrak. Und ich bringe Essen und Trinken für dich und Jila. Es ist noch früh am Morgen, aber Ihr müsst aufwachen und essen und trinken.«
Ich sah an mir herunter. Auf meinen Beinen lag ein Schlauch. Neben mir auf dem kalten Stein lag ein Lederbeutel. Als ich ihn öffnete, fand ich Brot und Fleisch darin. »Danke, Teddus, aber wie kommst du hier herein? Du bist doch nicht von der Inquisition?«
»Inquisition?« Der Narr lachte leise. »Ob ich von der Inquisition bin, fragt er. Nein, Freund Krieger, ich bin nicht von der Inquisition. Ich bin keiner von denen, die mich gefoltert haben. Auch keiner von denen, die dich gefoltert haben oder Jila. Ich bin Teddus, der Baumeister.«
Jila erwachte neben mir. »Teddus?«, murmelte sie verschlafen. »Bist du es wirklich?«
»Pssst, leise sein, junge Jila. Leise sein. Die Wachen schlafen. Ja, das tun sie. Aber wir wollen sie nicht wecken. Wach auf und nimm Brot und Fleisch und iss was du kannst. Denn wir wollen hier bald weg.«
»Aber wieso? Wenn mein Schwiegervater kommt, wird sich alles aufklären.«
»Pah«, machte Teddus. »Du bist hier wegen Osiris, Osiris, jawohl. Und das ist schlecht für MODROR. Auch Teddus wurde wegen Osiris hier eingesperrt, und sie folterten und plagten ihn ein ganzes Jahr, obwohl der Hochinquisitor sein Freund war. Sie dienen MODROR, die von der Inquisition, aber wenn es gilt, Wissen zu erlangen über Osiris, Seth und die anderen, dann kennen sie keine Freunde. Dann kennen sie keine Frömmigkeit.
Noch sind sie harmlos, die Foltereien. Noch spielen sie nur mit euch. Aber bald schon werden sie Nägel durch eure Hände treiben, den Hals schnüren, bis ihr fast erstickt. Euch mit Flammen versengen und fauliges Fleisch zu essen geben. Und Jila wird sie bald schon erdulden müssen, die Foltermeister, jawohl. Gesehen habe ich es, mit eigenen Augen.«
Neben mir erschrak die junge Frau. Dieses Schicksal stand uns bevor?
»Drum esst, ihr zwei und werdet wieder stark. Ich habe dieses Kastell gebaut und ich kenne viele sichere Wege hier heraus. Leider aber komme ich nicht in deine Zelle, Krieger, nicht ohne Schlüssel. Das war mein Verhängnis, als ich gefoltert wurde.« Teddus seufzte. »Aber du, Nyrrak, du heißt nicht nur Krieger in der alten Sprache, nein, in deinen Augen sehe ich, du bist auch einer. Sie rechnen nicht damit, oh nein, sie denken, du bist fast verhungert und ohne Kraft. Wenn du gegessen hast wirst du wieder stark sein und dann, wenn sie kommen, dich zu holen, dann überwältige sie und töte sie, deine Foltermeister. Dann können wir fliehen.«
*
Noch vor wenigen Augenblicken hätte ich all das abgetan und in Demut ertragen, was immer MODROR mir auferlegt hätte. Aber Jila, die sich Angst erfüllt an mich drückte, ließ mich in meiner Meinung wanken. Ihr sollte kein Schaden mehr entstehen. Ihr zuliebe wollte ich mich im Töten versuchen. Denn wir gehörten zusammen, das spürte ich jetzt mehr, denn jemals zuvor.
»Gut, ich werde sie töten. Schmerz haben sie mir genug bereitet. Und dann wollen wir fliehen.«
»Das ist gut, das wollte ich hören, guter Krieger. Ich gehe jetzt, aber ich komme zurück, um dir zu helfen und euch zu führen. Wenn Ihr gegessen habt, schlaft noch ein wenig, denn Kraft könnt Ihr brauchen.«
Die Klappe in der Pforte fiel zu, und der Narr war fort.
Ich richtete mich auf, nahm Brot und Fleisch und reichte es Jila. Zuerst einmal nahm ich einen tiefen Schluck aus dem Wasserschlauch. Dies ließ mich husten. Ich wurde vorsichtiger und trank in kleinen Schlucken weiter.
Danach nahm ich vom Fleisch, was mir Jila reichte und Brot dazu. Dabei trank sie.
Als wir die Mahlzeit beendet hatten und nichts mehr übrig war, versteckte ich den Wasserschlauch und legte mich zu Jila. Wir versuchten zu schlafen, bis die Foltermeister kommen würden.
*
»Na, dann wollen wir mal«, hörte ich eine Stimme über mir sagen. Ich kannte sie. Es war einer meiner Folterer. Ich wurde am Arm ergriffen und von Jilas Seite gerissen. »Er ist erschöpft, dem Tode nahe. Vielleicht sollten wir ihm Wasser geben. Wenn er stirbt, kann er uns nichts mehr sagen und der Hochinquisitor und auch Junda werden uns tadeln.«
»Er ist stark«, sagte mein zweiter Foltermeister. »Heute wird er noch überleben. Vielleicht wird er ja gesprächiger, wenn wir ihn mit Brot und Wasser locken.«
Ich schlug die Augen auf und stemmte die Beine auf den Boden. Dort stieß ich mich ab und rammte den, der mich am Arm hielt, zu Boden. Sofort warf ich mich herum und schlug hart und fest dem anderen gegen den Kopf.
Da griff der eine mir an die Beine und brachte mich zu Fall. Ich schlug um mich, wand mich in seinem Griff, während der andere taumelnd aus dem Kerker trat. Er durfte keinen Alarm geben! Jila sprang plötzlich auf, warf sich gegen den Fliehenden und stürzte mit ihm zu Boden. Sie drückte sein Gesicht auf den kalten Stein und raunte meinen Namen.
Ich drehte mich im Griff, der meine Beine umklammert hielt und schlug blind zu. Mein Gegner röchelte, ließ mich aber nicht los. Ich drehte und wand mich weiter, kam sogar etwas frei. Dies reichte, um an seinen Schädel heranzukommen. Ich traf sein linkes Auge, endlich ließ er mich los. Sofort huschte ich hinter ihn, umfasste seine Schultern und presste meine Arme in sein Genick. Dann drückte ich solange zu, bis es brach und der Foltermeister tot in meinem Griff hing. Woher kannte ich diesen Angriff? Ich, der noch nie getötet hatte? Mitleid empfand ich nicht mit ihm. Er war ein grausamer Mensch gewesen und hatte den Tod verdient gehabt.
»Nyrrak«, raunte Jila wieder. Sie wurde weg gestoßen und landete hart auf den Steinen. Der zweite Foltermeister sprang auf, sah sich erschrocken um. Ein langer Blick traf seinen toten Freund, der gerade zu Boden sackte. In seiner Miene stand Entsetzen. Er füllte seine Lungen mit Luft und ich wusste, jede Sekunde würde er um Hilfe schreien und alles war vorbei.
Plötzlich aber schoss etwas glitzerndes aus seiner Brust heraus und raubte ihm alle Kraft. Ungläubig sah der Diener der Inquisition an sich herab, umfasste die Klinge, die aus ihm herausragte. Er röchelte einen letzten Fluch und sackte dann in sich zusammen.
Hinter ihm stand Teddus. Langsam, geradezu bedächtig zog er ein Schwert aus dem Rücken des Toten. »Dies ist meine Rache, Foltermeister. Der schnelle Tod ist viel zu gut für eine schwarze Seele wie deine.« Teddus sprang über die Leiche hinweg und sah nach Jila. »Geht es dir gut? Ja, es muss dir gut gehen. Tapfer bist du, tapfer für eine Frau. Ja, das bist du.«
Er griff zu und half Jila dabei, sich aufzurichten. Dann sah er zu mir herüber. »Gut getan, Krieger. Ich wusste, du kannst es.« Er reichte mir das blutige Schwert. »Siln hat es geschmiedet. Guter Siln, macht beste Waffen. Nimm du sie. Ich denke, du kannst ein Schwert führen.«
Teddus bedeutete mir, ihm zu helfen. Gemeinsam schliffen wir die Leiche des zweiten in die Zelle und verschlossen sie.
»Das gibt uns ein paar Stunden, bis sie gefunden werden. Bis dahin sind wir weit weg, meine Freunde.«
*
Teddus ging voran, brachte uns zu einer Bodenklappe. Darunter floss ein träger Strom, der allerdings durch ein schweres Gitter geschützt war. Dennoch kletterte Teddus hinab und bedeutete uns, ihm zu folgen. Er deutete auf ein Loch in der Wand. Ein schmaler Stollen führte dort entlang.
Teddus kletterte zuerst hinein, ihm folgte Jila. Ich verschloss die Luke wieder und kroch als letzter hinten ein. Yanni hätte es niemals geschafft hier hinein zu kriechen, dachte ich schmunzelnd. Und schalt mich zugleich. Sie hatte mich verraten. Und gewiss wühlte sie bereits mit Telos in meinem Bett. Und meine Felder ... Wenn Telos, der Dieb, Yanni zur Zweitfrau nahm, fielen sie alle an ihn. Aber das war egal, denn ich hatte eines erkannt. Dieses Leben war vorbei. Nun hatte ich nur noch Teddus, den Narren ... und Jila.
Wie lang der Gang war, konnte ich nicht sagen. Aber irgendwann tauchte am Ende ein Stück Helligkeit auf. Zuerst ließ sich Teddus herausfallen, ihm folgte Jila. Ich kam als Letzter und rutschte vornüber die Böschung hinab bis in den Amum hinein. Teddus zog sich lachend aus dem Fluss. Ich half Jila, so gut ich konnte.
»Und jetzt kommt. Denken werden sie, dass wir ein Schiff nehmen, oh ja. Aber das tun wir nicht. Wir gehen in die andere Richtung.«
Hintereinander kamen wir das Flussufer hinauf. Wir waren etwas außerhalb der Stadt, bei den Hafenanlagen. Die große Mauer des Kastells war gar nicht einmal so weit entfernt.
Im Schutz einiger Bäume waren Gundus angebunden und kauten am kargen Gras. Es waren fünf, und alle waren sie kräftig, wie es die Tiere der Inquisition waren.
Zwei waren schwer bepackt, die anderen gesattelt. Teddus eilte zu einem hin und nahm edle Kleidung aus dem Gepäck. »Zieht das an. So werden wir nicht erkannt. Dann wollen wir eine Weile den Fluss hinauf reiten und dann tiefer ins Land einbiegen. Die Tiere sind stark und werden uns weit tragen. Und Vorräte genug habe ich auch besorgt.«
Ich ergriff Teddus an den Schultern und stoppte so seinen Redefluss. »Teddus, guter Teddus, warum tust du uns so viel Gutes?«
»Du bist mein Freund, Krieger. Mein Freund, jawohl. Hast mich vor den Kindern gerettet mit klugen Worten. Und hast Essen und Bettstatt mit mir geteilt. Du bist gut zu mir, und ich bin gut zu dir. Tun Freunde das nicht füreinander? Außerdem wollte ich lange schon Rache nehmen an der Inquisition und ihrer Unbarmherzigkeit.«
Der Narr warf seinen Mantel in den Fluss und legte neue Kleidung an, die sauber und fein gewebt war. Er richtete sich auf und der Buckel verschwand. Zusammen mit dem Kopftuch, welches er anlegte wirkte er sehr edel.
»Nun aber lasst uns aufbrechen. Essen können wir auch unterwegs.«
Auch Jila hatte ihre Kleider fort geworfen und war in das geschlüpft, was Teddus ihr gereicht hatte. Es erstaunte mich, wie schön sie noch hatte werden können.
Ich half ihr auf ein Gundu, wechselte schnell selbst die Kleider und schwang mich in den Sattel des dritten Tieres. Dann trabte ich an jene Stelle, wo ich Teddus Schwert abgelegt hatte, beugte mich aus dem Sattel und nahm es auf. Ich schob die Klinge in eine Aussparung im Sattel mit einer Sicherheit, als hätte ich mein Leben lang ein Schwert geführt.
»Auf dann!«, rief ich und ritt los, die Packgundus im Schlepp.
Viel zeigte diese Welt nicht von ihrer Oberfläche. Selten riss die dichte Wolkenschicht auf, die ein grau-weißes Schimmern in den Weltraum sandte. Nur ein relativ kleiner, spitz auslaufender Zipfel am Äquator machte eine Ausnahme. Hier herrschten die hohen Temperaturen einer trockenen, wasserarmen Landschaft. Ein großes Gebirge auf der einen Seite und der umschließende Ozean auf der anderen hielten die ewigen Wolkenmassen vor diesem Gebiet zurück. Ein Fluss entsprang in jenem Gebirge, er durchzog das karge Land, in regelmäßigen Abständen trat er über die Ufer und hinterließ fruchtbaren Schlamm in seiner Ebene, immer dann, wenn Schmelz- und Regenwasser aus dem Gebirge seine Kapazität überforderte. Und gerade in diesem harten Landstrich, entlang dem Lauf des Flusses Amun, lebten die härtesten, ausdauerndsten und intelligentesten Bewohner der Welt. Sie wurden täglich auf die Probe gestellt, mussten sich ständig entwickeln, um der Natur zu trotzen.
Überquerte man das Gebirge, erwartete einen das trübe, ewig graue Bild einer technologisch unterentwickelten Welt niedriger Entwicklungsstufe. Viele Wälder bedeckten die weiten Landflächen, sporadisch von Dörfern und kleinen Städten aufgebrochen. Vereinzelt zogen sich schmale, zum Großteil unbefestigte Straßen durch das Land, noch seltener sah man Wanderer, kaum Reiter. Als Reit- und Zugtiere dienten großmäulige, grobgliedrige Wesen mit vier Beinen, zottigem Fell und kleinen, stechenden Augen, die scheinbar boshaft umher glotzten. Gundu wurden sie von den präatomaren Bewohnern der Welt genannt. Sie waren außergewöhnlich ausdauernd, trabten allerdings kaum schneller als ein zügiger Läufer. Meist wurden sie vor Lastkarren gespannt, oder vor Feldgerät, denn nicht wenige der Dorfbewohner verdienten sich als Bauern ihren Lebensunterhalt.
Wie der Großteil der Welt selbst, so sahen auch ihre Bewohner aus: grau, farblos, in einfache Gewänder gehüllt, die nur unzureichenden Schutz vor der feuchtkalten Luft boten. In der Amun-Ebene kleidete man sich ebenso zweckmäßig, die große Hitze verlangte bloß kurze Oberbekleidung, die Oberarme und Schultern vor der Sonneneinstrahlung schützte, sowie einen kurzen Schurz um die Hüfte. Die Frauen trugen nicht minder einfache Kleidung, doch waren ihre Stoffe meist länger.
Alle diese Menschen lebten unbescholten unter der Fuchtel ihrer Fürsten, die wiederum eng mit der religiösen Einrichtung dieser Welt kooperierten. Die oberste Instanz nannte sich Inquisition. Ihre Hauptkastelle standen in der fortschrittlichen Ebene, von dort wachte sie über die Einhaltung der spirituellen Gesetze, verhinderte die Entstehung einer anderen Religion und wirkte in der Öffentlichkeit als Bindeglied zwischen den Menschen und ihrem Gott, MODROR. Sie allein hatte das Recht, unbeschränkte Militärmacht auszubilden. Ihre Krieger sorgten für Ordnung, wenn die einzelnen Fürstentümer in Konflikte gerieten oder sie ihre anvertrauten Untertanen nicht in der Gewalt behielten. Mit brutaler Gewalt setzten sie sich für den Willen MODRORs ein, verfolgten Ketzer über jede Entfernung, durch jeden Dschungel und jedes Gebirge, bis sie sie schließlich einfingen oder wie Tiere zu Tode hetzten. Noch niemals war jemand der Inquisition entkommen. Bis jetzt.
*
Der Wald lag in trostloser Stille. Kein Lüftchen regte sich, feine Nebelschwaden durchdrangen das Dickicht. Ein einsamer Vogel hüpfte durch eine Baumkrone und stieß ab und zu verzweifelt wirkende Laute aus. Die Baumstämme, Äste, Zweige und Blätter, die Büsche und das Unterholz trieften vor Nässe. Ein morscher Ast brach knackend ab und stürzte zu Boden, zersplitterte während des Falls am knorrigen Stamm des Baumes. Erschrocken flatterte der Vogel davon und schrie Warnlaute in die dumpfe Stille. Dann lag der Wald wieder still da.
Plötzlich hörte man ein Rascheln im Unterholz, als bahnte sich ein großes Geschöpf seinen Weg durch die Büsche. Äste brachen, dumpf dröhnten die Tritte mehrerer Füße im modrigen Boden. Die Geräusche kamen näher. Bald hörte man das angestrengte Keuchen beanspruchter Lungen und das Klatschen nasser Kleidung, die während des Laufes aneinander geschlagen wurde. Aus größerer Höhe sah man schon die Büsche erzittern, durch die sich mehrere Wesen hindurch kämpften. Und dann brachen sie auf die kleine Lichtung, in deren Mitte der Tümpel aus brackigem Wasser lag. Es waren drei Menschen, anscheinend intelligente Bewohner des Planeten.
Stöhnend sank die Frau zu Boden. Sofort kehrte einer der Männer um und beugte sich über sie, während der andere noch einige Schritte weiter lief, ehe auch er stehen blieb.
Alle drei waren sie in die farblose Kleidung der Dorfbewohner gekleidet, die nun tropfnass und klamm an ihren Körpern klebte. Bleich waren ihre Gesichter, die Körper zitterten vor Anstrengung.
»Komm, weiter!«, presste der Mann keuchend hervor und griff der Frau helfend unter die Achseln. »Wir sind noch lange nicht in Sicherheit!«
Krampfhaft verzog sich das Gesicht der Frau, als sie sich auf die Beine helfen ließ. Taumelnd, einander stützend, überquerten sie die Lichtung und verschwanden wieder im Wald, folgten dem Weg, den der andere Mann bahnte.
Minutenlang kehrte wieder Ruhe ein. Im Tümpel stieg eine Blase auf und platzte mit schmatzendem Geräusch an der zähen Oberfläche, langsame Wellen werfend.
Aus der Richtung, aus der auch die drei Flüchtlinge gekommen waren, erschollen jetzt laute Rufe, das laute trampeln vieler Füße und das laute Knacken, wenn Zweige aus den Büschen gerissen wurden. Zwanzig Männer erschienen auf der Lichtung, Armbrüste auf dem Rücken und Schwerter in den Händen. Sie waren uniform in dunkles Grau gekleidet und trugen schwere Lederhüte. Des Anführers Hut zierte eine lange weiße Feder, er trug als einziger eine Projektilwaffe im Gürtel. Es war ein einfaches Gerät, mit Lunte und Zündstein versehen, umständlich zu handhaben. Die Entwicklung in diese Richtung stand noch in den Kinderschuhen.
Ein Uniformierter, nur leicht bewaffnet mit einem langen Dolch, trat vor und musterte eingehend den weichen Untergrund.
»Nur wenige Zehntel, da lang!«, zischte er dem Anführer zu und deutete in die Richtung, in der die Gejagten verschwunden waren.
Der Anführer nickte, hob den Arm und stieß die Faust nach vorn. Die Schar der Verfolger setzte sich wieder in Bewegung, die Schwerter bahnten ihnen den Weg.
Die rücksichtslosen Menschen verschwanden, endlich senkte sich die Ruhe zurück über die Lichtung. Im Wipfel eines Baumes zwitscherte der Vogel sein einsames Lied, das Rascheln in den Büschen rührte wieder nur von tropfendem Wasser her.
An der Seite wurden vorsichtig die Zweige auseinander geschoben und der eine Flüchtling schlich auf die Lichtung. Es war jener, der der Frau geholfen hatte, aufzustehen. Er hob die Hand und winkte, da kamen auch die beiden anderen aus dem Dickicht. Die Frau sank sofort wieder zu Boden.
»Das war knapp«, brummte der erste. »Ich will nur hoffen, dass wir hier in Ruhe die Nacht verbringen können.«
»Aber Herr!«, empörte sich der andere Mann verzweifelt. »Die Knechte der Inquisition werden wiederkommen, und dann gnade uns MODROR!«
»Still! Sie werden noch lange nicht merken, dass wir nicht mehr vor ihnen sind. Und dann ist es dunkel, so dass auch sie lagern müssen, um unsere Spur im Licht des Tages wiederzufinden. Und außerdem ...«, fügte er nachdenklich hinzu, »gibt es hier weit und breit keine andere Lichtung, auf der wir uns ausruhen könnten!«
Er wandte sich der Frau zu und hockte sich neben ihr auf den Boden. Sie war bleich, zitterte vor Anstrengung und Kälte. Ihr braunes, ehemals glattes Haar hing in wirren Strähnen in ihr Gesicht. Ihre vollen Lippen bebten, die reizenden Züge krampften sich immer wieder zusammen.
Behutsam strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »Jila!«
Sie hob die Lider mit den langen Wimpern und blickte ihn aus großen braunen Augen verzweifelt an. Er zog sie an sich und barg ihren Kopf auf seiner Brust. Was er eigentlich sagen wollte verschwand von seinen Lippen. Er nahm sie in seine starken Arme und flüsterte ihr beruhigend ins Ohr. Er spürte das Zittern ihres Körpers und dachte sorgenvoll an die kommende Nacht.
»Es wird alles wieder gut ...«
*
Trakmadon war ein sehr selbstbewusster Mann. Er verkörperte die Macht MODRORs in diesem Bereich der Welt, die man Entrison nannte. Deshalb wagte auch niemand, ihn zu kritisieren oder gar anzugreifen. Ein Befehl von ihm, und ein Dorf der dummen entrisonischen Bauern wurde niedergebrannt. Und diesen Befehl hatte er in der letzten Zeit bereits zweimal gegeben – aus besonderem Anlass natürlich. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn deswegen anzuprangern.
Und doch schien nichts dabei herauszukommen. Dieser Nyrrak blieb einfach verschwunden, und das Weib Jila ebenso. Trakmadon hatte getobt, als ihm von der Flucht berichtet wurde, er hatte in seinem Zorn gleich drei Wächtern den Kopf abschlagen lassen. Aber das brachte die Entwichenen nicht zurück.
Schließlich hatte Junda, der Schwiegervater Nyrraks, eine Schar seiner besten Häscher zusammen gerufen, um die Verfolgung dieses Ketzers, der sich seine Tochter erschlichen hatte, aufzunehmen. Trakmadon erkannte die Umsicht des älteren Mannes und beschloss, sich persönlich an die Spitze der Häscher zu setzen. Dieser Bauer schien etwas Besonderes zu sein, das hatte er gleich bei ihrer ersten Begegnung festgestellt. Nicht einer dieser einfältigen Dörfler, die ihr Leben damit verbrachten, der Inquisition und damit ihrem Gott zu dienen. Nein, Nyrrak war – anders. Deshalb musste er auch doppelt bestraft werden für die blasphemischen Anwandlungen, die ihn vor einiger Zeit in die Fänge der Inquisition getrieben hatten.
Osiris! Trakmadon schauderte und warf einen Blick auf Junda. Der erzgläubige Mann ahnte nicht, dass er MODRORs persönlichem Befehl an Trakmadon gedient hatte, als er seinen Schwiegersohn festnehmen ließ. Trakmadon wusste, dass ihm eine schwere Strafe drohte, wenn dieser Nyrrak entkommen sollte. Was wusste er über Osiris? Ein leidiges Thema, das der Großinquisitor nicht durchschaute – aber MODROR hatte befohlen!
Junda hatte sich zwanzig seiner ausdauerndsten Armbrustschützen ausgewählt; die Rolle des Fährtenlesers übernahm er selbst.
Flankiert von seinen Jägern ritt Trakmadon in das Dorf ein. Hochaufgerichtet, die Faust in die Seite gestemmt, den prüfenden Blick über die Bauern schweifen lassend. Die lange weiße Feder wippte im Takt der Schritte seines Gundus, strahlte hell im brennenden Sonnenlicht mit provokanter Leichtigkeit.
Junda ritt an seiner Seite und führte ihn zu einem großen Hof. Der Hof, von dem Nyrrak aufgebrochen war, MODROR zu schänden.
Elegant sprang Trakmadon vom Gundurücken und winkte vier Männer zu sich. Rücksichtslos drangen sie in das Haus ein und trieben die Bewohner in der großen Küche zusammen. Ungerührt durchschritt Trakmadon die Tür und baute sich vor den zitternden Menschen auf. Seine Blicke erfassten den Raum vollkommen. Drei Knechte und zwei Mägde, ein junger Bauer und eine dickliche Frau, der man die tägliche Arbeit nicht ansah, drückten sich vor dem Tisch zusammen, über dem eine kleine Öllampe hing. In der dunklen Ecke hinter dem Ofen lagerten die Holzscheite, auf der anderen Seite stand eine Truhe, in der vermutlich Getreide oder Stoffe gelagert wurden. Ein rußiger Rauchabzug zeugte von der regelmäßigen Inbetriebnahme des Herdes, wenige kleine Fenster ließen gedämpftes Tageslicht in den Raum fallen.
»Nun«, begann er langsam. »Ich suche den Herrn des Hauses.«
»Herr, wir haben ihn Euch bereits ausgeliefert, auf Euren erlauchten Wunsch!« Die Frau stammelte angstvoll. »Ihr wisst, dass ich meinen Mann schon seit langer Zeit sorgenvoll beobachtete, als er mit dem gottlosen Gerede über schlimme Träume begann! Ich habe versucht, ihn wieder auf den Weg der Tugend zurück zu holen, doch die teuflischen Einflüsterungen waren stärker. Über meinen Vater übergab ich ihn Eurer begnadeten Obhut, auf das es Euch gelänge, seine Seele zu reinigen.«
»Nyrraks Seele ist nicht zu retten«, sagte Trakmadon hart. Die Frau zuckte zusammen. »Mit böser Unterstützung ist es ihm gelungen, sich meiner heilenden Hand zu entziehen. MODRORs Zorn wird ihn vernichten!«
»So wird ihm das gerechte Schicksal zu Teil!«, rief Yanni, Nyrraks Frau, innbrünstig. »Möge er alle Qualen erleiden, sein verfluchter Körper niemals zur Ruhe kommen!« Ihre Stimme war plötzlich schrill und unbeherrscht.
Der junge Bauer trat an ihre Seite und blickte trotzig auf den Häscher.
Trakmadon sah, dass sie tiefer Glaube und unbändiger Hass auf Nyrrak erfüllte, und in seinem kalt berechnenden Geist formte sich ein viel versprechender Plan.
»Weib, du bist schuld an seinem Schicksal!«, donnerte er und hob den Arm. »Zu lange hast du gezögert, seine Seele an mich zu übergeben! Während du dich bemühtest, kroch die Vernichtung immer tiefer in seinen Geist, so dass selbst ich ihn nicht zu retten vermochte!«
Yanni erbleichte und sank zitternd auf die Knie.
Er drehte ihr achtlos den Rücken zu und betrachtete den hölzernen Türrahmen.
»Doch noch ist nicht alles verloren.« Er wandte den Kopf. »Du kennst ihn am längsten.« Wieder hob er seine Stimme. »Wohin wird er sich wenden, wenn er keinen Ausweg mehr sieht?«
*
Sie folgten den unglücklich wenigen Spuren, die die Flüchtlinge hinterlassen hatten. Flussauf wurden die alten Kleider gefunden, drei Gungus und einiges an Verpflegung wurde vermisst. Einige Wanderer verloren den Kopf, als sie genau auf der Fährte getroffen wurden und die Ketzer nicht gesehen haben wollten. Der Inquisitor war wütend. Er trieb die Gundus zu größter Eile an, doch schienen die Flüchtigen vom Erdboden verschwunden.
Die Fährte führte den Amun hinauf, in jene Gegenden, wo das Klima sich grundsätzlich änderte. War die Amun-Ebene trocken und daher die Landwirtschaft schwer und ertragsarm, so lag das daran, dass der Quellberg des großen Flusses fast jegliche Wolken aufhielt und zum Abregnen zwang. Es war bekannt, dass auf der anderen Seite des Gebirges überwiegend feuchtes, niederschlagreiches und kaltes, raues Klima herrschte, in dem die Bewohner andere Schwierigkeiten mit dem Ackerbau hatten. Hier mussten die Felder regelmäßig entwässert werden, damit die Saat nicht ersoff.
Den beschwerlichen Übergang des Gebirges bewältigten die Häscher dank Jundas Führungsqualitäten in wenigen Tagen. Stets hatten sie die Fährte im Auge behalten und sich den Flüchtlingen beharrlich genähert.
Da passierten sie das erste Dorf. Einen ganzen Tag verschwendete Trakmadon hier, um alle Häuser und Gehöfte durchsuchen zu lassen, doch auch hier hatte man Nyrrak und seine Begleiter nicht gesehen. In einer Scheune fanden sie die Ausstattung von Männern der Inquisition, wodurch klar wurde, warum fremde Wanderer die Flüchtlinge nicht erkennen konnten: Ihnen war bei Strafe verboten, unaufgefordert ins Antlitz eines Dieners des Gottes zu blicken.
Als die Jäger weiterzogen, stieg hinter ihnen eine schwarze, qualmende Säule in den grauen Himmel.
Im Morgengrauen erreichten sie das nächste Dorf. Die Krieger drangen sofort in die Häuser ein und ließen sich für die Zeit ihres Aufenthalts von den Bewohnern einkleiden. Streng achteten sie darauf, dass ihre eigenen Uniformen zu ihrer Abreise gereinigt und getrocknet waren. Trakmadon selbst ließ sich seiner klammen Kleider von der hübschen Tochter des Dorfmeisters entledigen, die ihn im weiteren Verlauf während eines warmen Bades verwöhnen musste. Erst dann widmete er sich seiner anstrengenden Aufgabe, unter den Bauern diejenigen herauszufinden, die Nyrrak Unterschlupf hätten gewähren können. In blutiger Folter verrieten die Männer alles, was sie wussten – nur wusste keiner etwas über die flüchtigen Fremden zu berichten.
Auch dieses Dorf verging im Feuer des göttlichen Zorns.
Trotz dieser Rückschläge kamen sie näher. Auf einem Feld entdeckten sie eine Lagerstelle der Frevler, die noch gut auszumachen war. Selbst im feuchten Wetter dieses Landes hatte sich das dünne Bodengewächs noch nicht wieder aufgerichtet. Trakmadon triumphierte. Die Gundus gaben ihr letztes, mussten sich jedoch den Flüchtlingen geschlagen geben. Grimmig erschlug Trakmadon den Bauern, der die drei im Dorf am Waldrand gesichtet hatte, ohne sie aufzuhalten. Unter der Führung Jundas drangen die Männer in den unzugänglichen Wald ein. Hier würde sich das Schicksal der Ketzer erfüllen.
Im Morgengrauen erwachten sie auf der Lichtung. Nyrrak und Jila hatten sich in eine Mulde gelegt, in der Hoffnung, ihre Körperwärme dort länger speichern zu können. Jila hustete. Sie sah noch blasser aus als am Abend zuvor.
Teddus lag noch ausgestreckt neben dem Tümpel. Eine ganze Schar Stechinsekten hatten ihn sich zum Ziel erkoren und drangsalierten ihn mit ihren Rüsseln. Nyrrak grinste, verzog dann aber das Gesicht. Seine Glieder schmerzten mit einer nie gekannten Vehemenz, als wollten sie ihm mitteilen, dass sie nicht beabsichtigten, sich jemals wieder von diesem Ort zu entfernen.
Er stand auf und streckte sich, wobei seine Armgelenke unnatürlich laut knackten. Schaudernd wandte Jila sich ab.
»Hey, Teddus, aufwachen!«, rief Nyrrak und berührte ihn leicht mit dem Fuß in der Seite. »Wir haben nicht mehr viel Zeit!«
Unwillig brummend richtete der Mann sich auf und schlug nach den Insekten. Sein Gesicht sah entstellt aus mit all den geröteten Pusteln und Schwellungen.
»Ich hoffe, du hast dir keine Infektion geholt«, sagte Jila leise.
»Was?« Der Trottel blickte sie verständnislos an. »Ich hab mir gar nichts geholt, ich hab hier geschlafen! Außerdem hätte ich euch sonst was mitgebracht.«
»Das glaub ich ja, Teddus«, seufzte sie. »Ich meinte, ob du durch die Stiche dieser Insekten krank werden kannst?«
»Ach nö, die tun mir nichts. Die wollen doch auch nur was essen.« Er überlegte kurz. »Hm, habt ihr an Essen gedacht? Ich hätte jetzt großen Hunger!«
Jila sah Nyrrak fragend an. Der wickelte ein Stück Gebäck aus einem Stofffetzen und trennte drei kleine Teile ab.
»Das muss zum Frühstück reichen. Vielleicht finden wir auf dem Weg ja essbare Waldfrüchte, was meinst du?«
Teddus blinzelte. »Ja, stimmt, der Wald muss uns füttern! Ich habe schon mal was zu essen gefunden. Ich weiß, wo so was wächst!« Dabei rieb er mit der Hand über seine Wange. Anscheinend waren die Stichwunden doch unangenehm.
»Gut«, sagte Nyrrak. »Dann wollen wir überlegen, wohin wir uns wenden sollen. In den hiesigen Dörfern sind wir nicht mehr lange sicher, wenn ich euch an den gestrigen Abend erinnern darf!« Er blickte sie ernst an.
»Also, was haben wir noch für Möglichkeiten?«, fragte Jila matt.
Nyrrak betrachtete ihr hübsches, aber ausgezehrtes Gesicht. Die Gewaltmärsche der letzten Tage würde sie nicht mehr lange mitmachen können.
»Es wird Zeit, dass wir eine dauerhafte Bleibe finden.«
»Können wir uns nicht in einem Dorf niederlassen, das Abseits der inquisitorischen Macht liegt?«, fragte Jila hoffnungsvoll.
»Tut mir Leid, Mädchen. Ich glaube nicht, dass wir so was finden. Der Inquisitor hat so mit seiner Macht geprahlt, dass wir seine Häscher überall erwarten müssen. Die Welt ist groß, ich weiß. Und darin liegt meine Hoffnung. Wir werden einen Ort finden, der uns einige Zeit Sicherheit gewährt. Und wenn sie uns aufspüren, ziehen wir weiter. Ob es ein Land gibt, in dem die Inquisition keine Macht hat, das weiß ich nicht.«
Teddus verfolgte mühsam das Gespräch. Jetzt glänzten seine Augen, denn den letzten Satz hatte er verstanden.
»Es gibt ein Land!«, rief er innbrünstig aus.
Misstrauisch blickten ihn die beiden an.
»Was meinst du?«, fragte Nyrrak vorsichtig.
»Es gibt ein Land, welches frei im Glauben ist.«
Nyrrak sprang erregt auf. »Was sagst du? Ein Land, in dem die Inquisition keinen Einfluss hat?« Er packte Teddus an den Schultern. »Bist du sicher? Wo ist es?«
»Wir – Wir können nicht dahin!«, stotterte Teddus verwirrt. »MODROR wird uns bestrafen!«
»Aber verstehst du denn nicht? Dieses Land kann unsere neue Heimat werden! Abseits der Inquisition, außerhalb des Bereichs unserer Verfolger! Wir wären sicher dort! Jedenfalls sicherer als hier«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.
»Ich habe als Kind davon gehört«, berichtete Teddus leise. »Hinter dem großen Wald liegt ein Fluss, an dem das letzte Dorf steht. Links kommt der Fluss vom Teufelsberg«, er schüttelte sich, »von dem noch niemals ein Mensch wieder hinab gekommen ist, der einmal hinauf stieg. Nach rechts fließt der Fluss in großen Kurven zum großen See, wo das Wasser salzig schmeckt und den Durst nicht löscht. Das Dorf liegt an einer Stelle, wo man durch den Fluss gehen kann, und auf der anderen Seite sind noch ein paar Felder. Dann kommt wieder ein Wald, hinter dem eine große Ebene mit wenigen Bäumen und vielen trockenen, stacheligen Büschen liegt. Dort sind erst wenige durchgekommen, ohne zu verdursten. Sie berichteten von einem hohen Gebirge, was wohl eine Wand aus vielen Bergen ist. Dahinter liegt das Land, Vlador, das so ist wie dieses, nur glauben die Menschen dort nicht an unseren allmächtigen Gott, MODROR. Er verfluche sie!«
Nyrrak und Jila starrten vor sich hin, in Gedanken versunken. Sie hörten nicht mehr auf das Plappern des Dorftrottels.
Mit einem Ruck stand Nyrrak auf. »Das ist unser Weg!«, sagte er entschlossen.
»Vlador, ja.« Jila nickte langsam, ehe sie sich erhob und ihre Haare aus dem Gesicht strich.
Nur Teddus blieb verstört sitzen.
»Was heißt das?«, rief er entsetzt. »Ihr werdet vernichtet! Die Wüste wird euch verschlingen! Ihr werdet verdursten oder in den Bergen von Monstern gefressen!«
»Und du auch, denn du wirst uns führen!«, sagte Nyrrak grimmig.
»Das kannst du mir nicht antun!«, schrie der einfältige Mann. »Ich will nicht sterben!«
»Das wollen wir auch nicht, Teddus«, sagte Jila besänftigend. »Aber kennst du einen besseren Weg, aus den Klauen der Inquisition zu entkommen?«
»Denn eines kann ich dir versichern«, fügte Nyrrak hinzu. »Wenn Trakmadon und seine Männer dich erwischen, wirst du unter hundertfachen Qualen in den Tod gehen, und sie werden dir nicht den Weg zu deinem Gott eröffnen, sondern dich in die Verdammnis schicken!«
Teddus verstummte. Dann stand er auf, raffte seine Sachen zusammen und drang wortlos in den Wald ein. Jila und Nyrrak folgten ihm ebenso schweigend.
Schon seit zwei Tagen stolperten sie jetzt durch das unwegsame Gelände des großen Waldes. Anfangs hatte er den Dorftrottel noch bewundert, dass er hier die Orientierung nicht verlor, mittlerweile hoffte er nur noch, dass sie nicht im Kreis herum liefen, sondern irgendwann das Ende dieses Urwalds erreichten.
Vollständig abwerten konnte er die Leistungen von Teddus jedoch nicht, der immer wieder Sträucher mit essbaren Früchten fand oder gar nicht so schlecht schmeckende Wurzeln ausgrub. So blieben sie wenigstens am Leben. Wasser fanden sie reichlich in großen Blättern, die sich ihnen wie natürliche Kelche darboten.
Häufig half er ihrem Führer, einen Weg durch die Büsche zu finden, doch meistens musste er sich um Jila kümmern. Immer öfter taumelte sie und musste sich auf ihn stützen. Offensichtlich hatte sie in ihrem bisherigen Leben keine größeren Anstrengungen zu bewältigen gehabt. Deshalb legten sie immer wieder längere Pausen ein, schließlich sogar einen ganzen Tag.
Auf Nyrraks Frage, ob es keine gefährlichen Tiere in diesem Wald gebe, antwortete Teddus nur, dass er noch nie welche gesehen hätte. Und dieses Glück schien ihnen hold zu bleiben.
Inzwischen hatten sich alle an die ständige kühle Luft gewöhnt, niemandem machten die klammen Kleider mehr zu schaffen. Eine anfängliche Erkältung hatte Jila glücklicherweise schnell überstanden, und so stapften sie unverdrossen durch die modrige Landschaft. Ihre Körper waren mit einer schmutzigen Schicht bedeckt, die bei weniger Feuchtigkeit sicherlich in dicken Brocken von ihnen gefallen wäre, doch hier wurde sie durch ständige Befeuchtung schmierig gehalten.
Während der Nächte versuchten Nyrrak und Jila noch immer, sich gegenseitig zu wärmen. Teddus schlief immer bedenkenlos lang ausgestreckt. Ihm konnte die Kälte nichts anhaben. Wahrscheinlich hatte er schon öfters so übernachten müssen.
Und dann kam der Tag, an dem sie endlich einen helleren Schimmer in der Ferne erblickten.
»Seht!«, rief Nyrrak und blieb stehen. »Das muss der Waldrand sein!«
Jila, die inzwischen wieder eigenständig ging, strengte ihre Augen an. Ein erleichterter Zug erschien auf ihrem Gesicht.
»Worauf warten wir?«, fragte sie drängend. »Verlassen wir diese unwirtliche Gegend!«
Sie hasteten weiter, bis sie den Waldrand wirklich erreicht hatten. Nyrrak blieb stehen und runzelte die Stirn. Vor ihnen breitete sich eine weite Ebene aus, die mit Feldern und Wiesen bedeckt war. Weiter hinten erblickten sie ein Dorf, das dicht an den Ufern eines Flusses lag. Aber rechts – sie starrten auf eine weite Fläche, grau und spiegelglatt, soweit das Auge reichte. Kreischende Vögel bewegten sich durch die Luft, die merkwürdig nach Salz roch.
Nyrrak drehte sich zu Teddus um. »Das Meer, nicht wahr?«
Er antwortete nicht, sondern starrte reglos über die weite Fläche.
»Mein lieber Teddus, ich glaub, du hast dich verlaufen. Wenn ich mich richtig erinnere, sind wir jetzt ungefähr zwei Tagesmärsche von dem Dorf entfernt, das an jener Stelle liegt, wo man den Fluss überqueren kann!«
Schuldbewusst senkte er den Blick.
»Ich muss irgendwie den falschen Weg gegangen sein«, versuchte er sich kraftlos zu entschuldigen.
Jila zuckte mit den Schultern. Nyrrak erstarrte. Dann winkte er ab.
»Jetzt sind wir schon einmal hier«, sagte er leichthin. »Dann können wir uns auch erst mal ausruhen und uns säubern, ehe wir uns auf den beschwerlichen Weg flussaufwärts machen.«
Er deutete auf eine abgelegene Hütte.
»Dort scheint mir die Wahrscheinlichkeit am geringsten, dass man uns sucht, sollten die Häscher der Inquisition hier auftauchen! Und wir kommen von dort leicht wieder weg.«
Die beiden folgten ihm, als er sich geradewegs Richtung jener Hütte in Bewegung setzte. Der Bewohner schien ein alter Fischer zu sein, denn kaum näherten sie sich der Hütte, tauchte er aus der nahen Bucht auf und winkte ihnen zu.
»MODROR schütze euch!«, rief er schon von weitem. Eilig kam er heran. »Oh Mann, ihr seht fürchterlich aus! Darf ich euch in mein bescheidenes Heim einladen? Oder nein, springt erst einmal in die Fluten und wascht den Dreck von euren Körpern! Ihr kommt von weit her?«
Nyrrak konnte dem Redeschwall kaum folgen, darum nickte er nur und folgte dem Alten zum Meer.
»Gebt mir eure Kleider, ich werde sie säubern!«, erbot er sich. »Hier bekommt man nicht häufig Besuch von Leuten von jenseits des Waldes. Wie sieht es aus in der Welt dort drüben? Quellen eure Lagerräume über vor Reichtum, oder nagt ihr am Hungertuch? Naja, erzählt mir nachher, bei einem einfachen Mahl. Mehr kann ich euch nicht bieten, doch nehme ich an, dass es reichen wird nach einem langen Marsch durch den Wald!«
»Wie recht du hast, guter Mann!«, sagte Jila erfreut. »Dankbar nehmen wir deine Einladung an.«
Während sie sich wuschen, kletterte der Alte auf einen Steg, der ihn weiter über das Wasser brachte. Dort beugte er sich hinab und reinigte die Kleider. Schließlich spülte er sie mit klarem Wasser aus dem Fluss, damit das Salz wieder heraus gewaschen wurde.
Nyrrak beobachtete Jila bei ihrem Bad. Wieder einmal erkannte er ihre Schönheit, als sich die Schmutzspuren lösten und der wohlgeformte Körper sichtbar wurde. Die verklebten Haare vielen wieder locker und glatt über ihre Schultern, auch ihr Gesicht hatte sich entspannt.
Gerne schlüpften sie in ihre Kleider, die zwar noch längst nicht trocken, jedoch endlich wieder sauber waren.
»Nun folgt mir in meine einfache Behausung«, rief der Alte kichernd und ging voran. »Tretet ein und fühlt euch wohl!«
Er trat zur Seite und winkte einladend mit der Hand.
Nyrrak trat an ihm vorbei in das Halbdunkel der Hütte. Aus dem Augenwinkel sah er etwas aufblitzen und warf sich blitzschnell zur Seite, als auch schon ein kraftvoll geschwungenes Schwert an ihm vorbei zischte. Nyrrak rollte sich ab und prallte dabei gegen die Beine eines Angreifers, der durch die Wucht des Aufpralls zu Fall gebracht wurde. Sofort war der ehemalige Bauer über ihm und setzte ihn mit zwei gezielten Schlägen gegen den Hals außer Gefecht. Da traf ihn selbst ein gewaltiger Tritt in den Rücken, der ihn vorwärts gegen die Wand schleuderte. Benommen kroch er zur Seite und blickte sich um. Zwei weitere Männer standen mit gezückten Schwertern im Schatten und kamen langsam auf ihn zu.
Nyrrak warf sich nach dem Schwert des Bewusstlosen und wehrte die ersten Hiebe der Gegner ab, bis er wieder auf die Beine kam. Dann unterlief er den einen Mann und stieß ihn in die Waffe seines Partners, der sie eben auf den vermeintlich wehrlosen Ketzer gerichtet hatte. Der Tote blockierte das Schwert mit seinem Körper, so dass Nyrrak den letzten Gegner mit einem weiteren Streich erledigen konnte. Im Fallen traf das Schwert des zuerst Getöteten unglücklich den Hals des Bewusstlosen, womit der verräterische alte Fischer nun drei Leichen in seiner Hütte hatte.
Schwer atmend starrte Nyrrak auf die blutige Waffe und warf sie angewidert von sich. Er verabscheute Gewalt und konnte sich nicht erklären, wo und wann er diese Fertigkeiten erlernt hatte. In den Augen seiner Gefährten sah er die gleiche Frage, aber er kümmerte sich nicht darum.
Seine Hand schnellte nach vorn und packte den Fischer am Kragen. Gefährlich glitzerten seine Augen, als er ihn gegen die Wand der Hütte drückte.
»Diese Tat wirst du nicht überleben, Alter!«, sagte er mit zischender Stimme. »Ist er hier?«
Der Alte schüttelte entsetzt den Kopf. Man hatte ihm gesagt, dass die drei Krieger leichtes Spiel mit den Bauern haben würden, sollten sie hier auftauchen. Und jetzt hatte dieser unbewaffnete Kerl alle drei umgebracht!
»Verschont mich, Herr!«, jammerte er angstvoll. »Sie sind allein gekommen! Sie sagten, es sei nur Vorsicht, denn niemand rechnete ernsthaft mit Eurem Auftauchen! Sie zwangen mich, Euch in meine Hütte zu locken!«
»Und du hattest natürlich keine Möglichkeit, uns zu warnen, wie?« Nyrrak presste noch ein wenig fester zu.
Der Alte lief rot an, und Jila schrie entsetzt auf. »Nyrrak, was ist in dich gefahren! Dieser Mann wird genauso ausgenutzt wie wir! Lass ihn los!«
Nyrrak starrte ihn noch einen Augenblick drohend an, dann ließ er von ihm ab. »So, und nun wollen wir das versprochene Mahl einnehmen! Aber hier draußen, nicht dort bei den Leichen. Schaff heraus, was du hast!«
*
Die Gundus schritten weit aus. Nyrrak ritt an der Spitze. Seit dem Vorfall in der Fischerhütte blickten seine beiden Begleiter immer wieder scheu zu ihm hinüber. Sein Gesicht war plötzlich hart, seine Augen blickten kalt umher, es war kein Gefühl mehr an ihnen festzustellen. Nyrrak selbst beeilte sich absichtlich, denn er war verwirrt. Noch nie hatte er seine Kräfte benutzt, um andere Menschen zu töten, sah man von dem Vorfall ab, der ihm und Jila die Flucht aus dem Kastell der Inquisition ermöglicht hatte. Und nun war es ihm unglaublich leicht gefallen, der Taten gleich drei zu begehen! Er hatte sich bewegt wie ein begnadeter Kämpfer, hatte die Aktionen der Gegner vor ihrer Ausführung geahnt. Wieso verfügte er über diese Fähigkeiten? Was verbarg sich noch unter seiner bäuerlichen Erscheinung?
Nach dem einfachen, aber nahrhaften Mahl hatten sie sich einige Gundus geborgt, Lebensmittel verpackt und waren los geritten. Immer flussaufwärts, jenem Dorf zu, das Teddus als letztes Dorf bezeichnet hatte. Dort hofften sie eine Furt zu finden, über die sie den Fluss überqueren konnten und der Inquisition zu entkommen gedachten. Jeder ritt in Gedanken versunken, nur in einem Gedankengang glichen sie sich alle: Konnten Sie es jetzt noch schaffen, vor Trakmadon das »letzte Dorf« zu erreichen?
In der Ferne tauchte aus dem Dunst die Silhouette einer Siedlung auf. Nyrrak warf Teddus einen heimlichen Blick zu. Der Bucklige schien sich seiner Sache sicher zu sein. Immerhin war es kaum möglich, sich zu verlaufen: Sie waren die gesamte Strecke neben dem breiten Flusslauf her geritten. Das Dorf sollte nun endlich das gesuchte sein.
Befriedigt wandte er sich wieder nach vorn und musterte konzentriert die Gegend. Es gab nicht mehr Gundu als gewöhnlich, und auch sonst deutete nichts auf eine höhere Konzentration an Menschen an diesem Ort hin.
Der Weg wurde bald ausgetretener, machte einen benutzten Eindruck. Hier trieben die Bauern ihr Vieh zur Weide oder zum Stall, zogen die Gundu das Werkzeug zur Feldbestellung. Der Schlamm spritzte mit jedem Schritt von dem ewig nassen Boden zu den Reitern empor. Nyrrak begrüßte die Tatsache, dass der Weg breit genug für drei nebeneinander gehende Gundu war.
Erschöpft bogen die Tiere in das Dorf ein. Der Tagesmarsch hatte ihnen sichtlich zugesetzt. Nyrrak und seine Begleiter sprangen von den hohen Rücken und gaben den Tieren einen Klaps auf die Schenkel. Sie sollten sich selbst eine Weide oder einen Stall suchen, später würde sich jemand um sie kümmern.
Träge zogen die Gestalten der Einheimischen ihre Wege, kaum jemand beachtete die Neuankömmlinge. Der Tag war arbeitsam gewesen, niemand verspürte Lust auf ein Gespräch. Dazu hatte es Morgen immer noch Zeit, dachten wohl die meisten, denn es kam selten vor, dass Wanderer vom Meer kamen und nicht wenigstens einen Tag ruhten.
Umso auffälliger empfand Jila das Verhalten einer Frau, die soeben aus einem Wirtshaus getreten war und sich ihnen raschen Schrittes näherte.
Jila zupfte Nyrrak am Ärmel.
»Was ist?«, fragte der große Mann und wandte sich um.
Als er die Frau sah, bekam er große Augen.
»Yanni!«, flüsterte er entgeistert.
Jila erstarrte. Dann packte sie ihn entschlossen und versuchte, ihn fort zu zerren.
»Lass uns verschwinden!«, zischte sie. »Was hat das Weib hier verloren? Das kann kein Zufall sein!«
Schon von weitem erkannte Nyrrak den flehenden Ausdruck im Gesicht seiner Frau, als sie sah, dass er sich abwenden wollte.
»Nyrrak, so warte doch!«, rief sie verzweifelt.
Zögernd blieb er stehen.
»Was willst du hier?« Seine Stimme klang so kalt, dass er selbst erschrak.
»Schnell, fort!«, drängte Jila wieder. »Ich traue ihr nicht. Das könnte eine Falle sein!«
»Lass uns hören, was sie hierher treibt. Dann ist es immer noch früh genug, zu verschwinden!«
Sie schüttelte zweifelnd den Kopf, sagte aber nichts mehr. Dafür beobachtete sie scharf die Umgebung. Plötzlich erschien ihr die Gleichgültigkeit der Einwohner unnatürlich. Normalerweise bestürmte man in so abgelegenen Dörfern jeden Fremden mit Fragen nach Neuigkeiten. Die hiesigen Menschen ignorierten sie vollkommen.
Yanni kam heran. Offensichtlich war ihr das Zusammentreffen peinlich, denn sie senkte verlegen den Blick.
»Ich bin deinetwegen hier«, bekannte sie schließlich. »Als du weg warst, ging auf dem Hof alles drunter und drüber.« Sie blickte Nyrrak flehend in die Augen. »Ich brauche dich! Ich habe meine Fehler erkannt und möchte sie wieder gut machen!« Als er zögerte, fiel sie ihm in den Arm. »Weise mich nicht von dir! Ich kann ohne dich nicht leben.«
»Warum hast du mich verraten?«, fragte Nyrrak zweifelnd.
»Versteh doch: Ich habe an Gotteslästerung geglaubt und wollte dir helfen! Niemals hätte ich gewollt, dass sie dich umbringen! Aber jetzt weiß ich, dass es falsch war. Nimm mich mit, wohin du auch gehst, damit wir ein neues Leben beginnen können! Wir werden vergessen, was vorgefallen ist, und glücklich jenseits des Flusses leben, wo wir MODROR dienen können, ohne von der Inquisition gehindert zu werden!«
Nyrrak überlegte nicht lange. »Wir werden es versuchen. Mir scheint, du hast dir nun ebenfalls Feinde in der Inquisition geschaffen! Du sollst uns willkommen sein. Aber verlange nicht, dass ich Rücksicht übe, falls du uns hintergehst!«
»Ich wäre verloren in der Fremde! Ich liebe dich, ich würde dich niemals wieder hintergehen!«, schwor sie mit leuchtenden Augen.
Jila und Nyrrak tauschten einen schnellen Blick. Jila war ganz und gar nicht zufrieden, denn sie traute dieser Frau nicht. Nyrrak jedoch schien sich entschlossen zu haben, seiner Frau zumindest Asyl zu gewähren.
Jila hoffte, dass es nicht stärkere Gefühle waren, die ihn zu dieser Handlung veranlassten. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich mit Yanni verglich. Da runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf.
*
Trakmadon stand mit Junda im dunklen Zimmer eines Hauses und beobachtete die Szene. Erleichtert erkannte er, dass sein Plan erfolgreich sein würde.
Dieser Nyrrak war doch nur ein Bauer!, dachte er amüsiert. Grinsend sah er, wie der Mann seine abwehrende Haltung immer mehr aufgab, bis er sich schließlich seiner vermeintlich reuigen Frau annahm.
Dem Inquisitor entging dabei nicht die Spannung zwischen Nyrrak und Jila, die eine allzu herzliche Begrüßung zu verhindern schien. Er grinste wieder.
Bis hierher hatte der Plan wunderbar funktioniert. Nun kam es auf die Frau an, ob es auch weiterhin so gut lief. Wenn sie sich authentisch verhielt, hoffte Trakmadon durch sie herauszufinden, ob Nyrraks blasphemische Ideen und ketzerischen Vorstellungen noch weitere Anhänger gefunden hatten. Er wollte hundertprozentig sicher gehen. Mit Nyrrak sollte sein gefährliches Gedankengut vernichtet werden! Gab es weitere Anhänger, würden sie mit ihm sterben. Wenn nicht – umso besser, dann musste er sich keine Gefechte mit ihnen liefern, was ein schlechtes Bild auf die Inquisition geworfen hätte.
Er konzentrierte sich wieder auf das Geschehen. Gerade sprach Yanni auf die drei Ketzer ein und deutete in eine Richtung...
*
»Kommt, ich habe einen großen Raum bei einem Freund, da können wir alle Platz finden, bis wir entschieden haben, wie es weiter gehen soll!«
Yanni lief schier vor Tatendrang und Glück über. Offensichtlich bedeutete ihr die Wiedervereinigung mit Nyrrak wirklich eine Menge.
Wenig später saßen sie zusammen in einem Raum um einen großen Tisch. Der Gastgeber war ein freundlicher Bauer, den Yanni von früher kannte. Das Essen hatte sie träge und nachdenklich gestimmt, entspannt plätscherte eine Unterhaltung dahin. Nyrrak überdachte die Situation und seine Absichten für die Zukunft.
»Mein Mann ist ein angesehener Bauer hinter dem Wald!«, erzählte Yanni gerade dem beeindruckt lauschenden Wirt und legte stolz die Hand auf Nyrraks Arm. »Nicht einen Winter hatten wir zu darben, stets hatten wir eine gut gefüllte Vorratskammer. Und zu verdanken haben wir das nur dem klugen Geist meines Mannes!«
»Ja, man sieht ihm an, dass er fleißig und vorausschauend ist. Ich selbst handle ähnlich, denn auch ich möchte verhindern, dass meine Familie leidet.«
»Wie jeder besorgte und ehrliche Bauer«, warf Nyrrak ein. »Ich werde noch ein wenig die Abendluft genießen.«
Wenige Schritte abseits der Hütte traf er auf Jila, die es ebenfalls nicht in der dunklen Behausung gehalten hatte.
»Deine Frau ist glücklich.«
»Das ist sie. Die Menschen hier sind aufgeschlossen, Yanni findet sicher schnell gute Freunde unter ihnen.«
»Du vertraust ihr.« Ein leiser Vorwurf klang in ihrer Stimme mit.
»Sie macht einen reuigen Eindruck«, sagte er ablehnend.
»Ist sie es auch?«
»Was ist los, Jila? Sie ist meine Frau, die mich noch nie belogen hat!«
»Ja, sie ist deine Frau!«, zischte Jila zornig. »Sie ist es sogar in besonderem Maße! Sie meinte es nur gut mit dir, als sie dich der Inquisition übergab! In der Hoffnung, aus dir würden die Dämonen getrieben werden! Wenn sie so gedacht hat, ist sie zu beklagen. Ist schon jemals ein Mann der Gotteslästerung bezichtigt worden, um die Kerker wieder zu verlassen? Sie wurden alle hingerichtet!«
Nyrrak wich vor den harten Worten der Frau zurück. »Was soll das heißen?«
»Sie hat dich im vollen Bewusstsein in den Tod geschickt! Und sie wird es wieder tun, wenn sie keinen anderen Weg sieht. Jetzt treibt sie nur die Einsamkeit in deine Arme, aber was wird sie tun, wenn der heilige Trakmadon auftaucht und nach deiner Seele verlangt?«
»Ich glaube das nicht!«, schrie Nyrrak. »Sie ist einmal gestrauchelt und hat mich verloren, jetzt bereut sie ihre Tat, und wenn es nur der Familie Willen ist! Hier draußen gibt es keinen Verrat!«
Damit stürmte er auf das Haus zu.
»Ja, du Held! Lauf nur zu deiner Frau! Sie wird dich schon trösten, wenn es in ihren Plan passt!«
Sie rannte in die entgegengesetzte Richtung davon.
Als die Tränen versiegten, blieb nur noch diese dumpfe Verzweiflung, und sie haderte mit dem Schicksal, dass ihr dieses falsche Geschöpf in die Quere geschickt hatte.
Spät in der Nacht, der bewölkte Himmel ließ die Welt schwarz erscheinen, erreichte Jila die Behausung. Kein Mensch war mehr wach. Vorsichtig, um niemanden zu wecken, schlich sie durch das stille Haus. Ihre tastenden Hände fanden eine kleine Öllampe, die sie mit einem Kienspan aus dem Ofen entzündete. Die kleine Flamme warf merkwürdige, verzerrte Schatten auf die Wände, als Jila weiterschlich. Vorsichtig schob sie den Vorhang beiseite, der den großen Schlafraum vom Flur trennte. Sie blickte in das entsetzte Gesicht einer Frau, die nicht mit ihrem Auftauchen gerechnet hatte. Mindestens ebenso entsetzt starrte Jila auf den blitzenden Gegenstand, der aus den erhobenen Händen der Frau – sie war niemand anders als Yanni – auf Nyrraks Oberkörper zielte.
Mit einem schrillen Schrei sprang Jila die heimtückische Attentäterin an und riss sie sofort mit zu Boden. Die Lampe zersprang unter dem Vorhang, wo sie der erschrockenen Hand entglitten war. Nun kam Leben in die ruhig daliegenden Körper. Jemand brüllte nach Licht, ein heilloses Durcheinander entstand. Nyrrak versuchte sich im Dunkel zu orientieren, doch prallte etwas mit Wucht gegen seine Beine, so dass er wieder auf das Lager fiel. Nicht weit von sich entfernt hörte er das Stöhnen einer Frau, und in dem ganzen Lärm immer wieder Jilas Stimme: »Nein! Verschwinde! Stirb!«
Schließlich tauchte der Hauswirt auf, der sich in dem Durcheinander am besten zurecht gefunden hatte. In seiner Hand hing eine der kleinen Öllampen, und in dem unheimlichen Licht starrten sie auf eine unheimliche Szene. Nyrrak lag auf seinem Lager und erwehrte sich des über ihm sich panisch wälzenden Teddus. Frau und Kinder des Bauern drängten sich in einer Ecke des Raumes, und dicht neben dem Lager Nyrraks lagen zwei Körper auf dem Boden – in einer dunklen Blutlache. Der obere Leib gehörte Jila, und sie schlug noch immer auf den anderen ein, immer kraftloser, bis ihre Bewegungen erstarben und sie zitternd und weinend an die Wand rückte. Der zweite Körper bewegte sich nicht. Mit einem Schrei sprang Nyrrak auf und wälzte ihn herum. Die entsetzten Augen seiner Frau starrten ihn glasig an, ihre Hände umfassten noch immer den Griff eines Dolches, der in ihrem Körper steckte.
Im Dunkel der Nacht erschollen laute Rufe. Man hörte das Klirren von Metall und das hastige Patschen schneller Füße über die morastige Straße. Als erstes erschienen drei Menschen zu Fuß, die vor dem Lärm zu flüchten schienen. An der Spitze hielt sich ein großer, starker Mann, der eine Frau an der Hand mit sich zog. Dahinter kam ein dürrer, aufgeschossener Typ, der kaum Schritt halten konnte.
Die Frau stöhnte auf.
»Weiter, weiter!«, stieß der erste Mann hervor. »Komm schon!«
»Wir dürfen nicht auf den Berg der Teufel!«, schrillte der dürre Kerl. »Die Dämonen werden uns zerfetzen!«
Der erste achtete nicht darauf. Die Angst seiner beiden Begleiter rührte von den Legenden her, die sich um den Teufelsberg rankten. Aber er war sicher, dass sie sich jetzt nur noch dort retten konnten, wenn die Häscher der Inquisition aus Angst vor dem Teufel zurück blieben.
So zog Nyrrak die geschwächte Jila hinter sich her und trieb sich selbst und die anderen immer wieder an.
Kurz nach Yannis Tod, Jila hatte gerade unter Zittern erklärt, was sie gesehen hatte, war im gesamten Dorf ein Tumult ausgebrochen, als die Gundus und die Jäger Trakmadons aufgetaucht waren. Nyrrak sah das als Rehabilitation Jilas und war sofort über die Felder des Bauern davon gestürmt. Die Verwirrung des Bauern hatte ihnen einen wertvollen Vorsprung eingebracht.
An eine Flucht über den Fluss in das heidnische Land war jetzt nicht mehr zu denken, so dass ihnen keine andere Möglichkeit als der Teufelsberg blieb.
Gegen die Gundus konnten sie sich einige Zeit halten, denn die kamen nicht viel schneller vorwärts als sie selbst. Und doch kamen sie stetig näher, das erkannte Nyrrak an dem steigenden Gebrüll hinter ihnen.
Seit zehn Minuten rannten sie jetzt schon in flachem Winkel den Fuß des Berges hinauf. Nicht mehr lange, und die Steigung würde sie in eine langsamere Gangart zwingen. Sie konnten nur auf die abschreckende Wirkung des Berges hoffen, sonst würden die ausdauernden Reittiere der Jäger zum Zuge kommen.
So schleppten sie sich mit keuchenden Lungen die engen Windungen des Pfades den Berg hinauf, kaum noch in der Lage, die Beine zu bewegen. Ein Blick zurück ließ Nyrrak aufstöhnen. Die Reiter hatten nur kurz gezögert, jetzt machten auch sie sich an den Aufstieg.
»Schneller!«, keuchte er verzweifelt.
Was hatte ihre Flucht jetzt noch für einen Sinn? Gab es die Dämonen des Teufelsberges, wurden sie gemeinsam mit ihren Häschern vernichtet. Gab es sie nicht, blieben die Häscher am Leben, nur ihrem armseligen Dasein würde ein Ende gesetzt...
*
Er hieß Drullf. Er entstammte dem Wissenschaftlervolk der Rytar. Das war sein Vorteil, denn die Rytar wurden meist in Ruhe gelassen. Unter Zwang forschte es sich nun einmal nicht halb so gut wie freiwillig. Nicht, dass die Rytar mit fortwährenden Forschungen beschäftigt gewesen wären. Im Grunde nutzten sie ihre Stellung, um ein möglichst bequemes Leben zu führen. Nur wenn ihre Neugier erwachte, wurden sie zu dem, woher sie ihren Ruf hatten: Forscher mit unstillbarem Wissensdurst. Jedenfalls so lange, bis die selbstgestellte Aufgabe erledigt war und die Neugier wieder einschlief.
Sie waren nicht besonders gesellig, deshalb wurden sie auf vielen peripheren Welten der Galaxis mit Beobachtungsposten betraut. So einen Posten hatte Drullf inne – auf dem Planeten Entrison, eine primitive Bauernwelt, auf der zeitweise Verbrecher festgehalten wurden.
Ein müdes Grunzen läutete den Tag des massigen, grünen Rytars mit seinen drei Beinen ein. Träge hob er die drei Säulenbeine aus dem Schlaflager und senkte sie mit einem lauten Donnern auf den Boden.
Mit trübem Auge blickte das Wesen umher und erkannte die Reste seines Abendessens neben seiner Schlafstelle. Mit den viergliedrigen Pranken griff er nach dem bereits stinkenden Stück Fleisch und stopfte es in den breiten Mund. Anschließend kommentierte er sein Mahl mit einem herzhaften Rülpsen.
Unterbrochen wurden seine Mahlzeiten nur von den routinemäßigen Rundgängen, die er wöchentlich durch seine Station machen musste. Und jeden zweiten Tag musste er sich einmal ins Observatorium begeben, um das Universum optisch zu durchforschen. Das war sein Auftrag, und seiner Meinung nach erledigte er die Aufgaben bereits seit vielen Jahren zur Zufriedenheit der Regierung. Zumindest hatte sich noch nie jemand beschwert, obwohl er die zweitägigen Sternenforschungen mit der Zeit zu allmonatlichen Ereignissen zurück gestuft hatte.
Seufzend rollte er sich aus der Schale. Es wurde Zeit. Jede Bewegung untermalte er mit einem Stöhnen und Japsen, jeder Atemzug wurde von dem Fleischberg akustisch unterlegt.
Sein Weg führte ihn durch die Zentrale, in der die Wände mit Monitoren gespickt waren und alle Schaltelemente untergebracht waren. Misstrauisch schielte er auf das Flackern eines Lämpchens. Schleim tropfte auf die Armaturen, Speichel lief in Fäden aus dem breiten Mund des ätzend grünroten Koloss. Ihm war nicht auf Anhieb klar, was das zu bedeuten hatte, doch dann deaktivierte mit einem Griff die Überwachungsanlage. Seit knapp zwei Umdrehungen der Welt um ihr Zentralgestirn hatte sich nichts Besorgnis erregendes ereignet, und er wünschte, das es so bliebe.
»Gehirn, tu den Schaden wegmachen tun, jawohl ja? In Sektor 3-L!«, nuschelte er und schleppte sich weiter.
Sektor 3-L lag außerhalb der Station, gewissermaßen im Fundament des Baus, deshalb musste das System für die Zeit der Reparatur deaktiviert werden.
Drullf erinnerte sich an einen Zwischenfall vor einem knappen Jahr: Ein Architekt war in die Station eingedrungen und hatte Dinge erfahren, die kein Entrisoner wissen durfte. Deshalb war er von der Inquisition geläutert worden – den unglaublichen Erzählungen eines Narren glaubte niemand, die Gefahr schien gebannt.
Das Observatorium bestand nur aus einem Raum, in dessen Mitte eine Energieschale hing. Sobald Drullf sich hinein legte, erlosch das künstliche Licht und die zentrale Steuereinheit stellte die Verbindung zum orbitalen Beobachtungssatelliten her. Die Daten wurden aufbereitet und als Holographie in die Kuppel über dem Rytar projiziert. So lag er da und sabberte seine Befehle, die die Automatik zum andern der Projektionen brachte: sie konnte zoomen, drehen, spiegeln und was der Dinge mehr waren.
Der Koloss rieb seinen zum Zerplatzen gespannten Bauch und kratzte sich ausgiebig an den Genitalien, die sich auf dem Rücken befanden. Ihn langweilte die Aufgabe. Wenig später schlief er schon wieder.
*
»Schneller!«
Trakmadon trieb seine Leute zu größter Eile an. Sie durften keinen Gedanken daran verschwenden, dass sie sich auf verbotenem Gebiet befanden. Und seine Taktik schien Erfolg zu haben. Die Männer trieben ihrerseits ihre Gundu mit allen Mitteln vorwärts, wollten die flüchtigen Ketzer endlich fassen. So ging es den Teufelsberg hinauf, dass alle Lungen keuchten, die Tiere röhrende Laute der Missbilligung ausstießen und von zornigen Tritten der Männer bezwungen wurden.
Trakmadon erblickte sie, wie sie zwischen den Felsen verschwanden, die das letzte Hindernis vor der Hochebene bildeten. Dort würden sie mit den Gundus nur langsam vorwärts kommen, aber es gab von dort oben kein Entkommen. Trakmadon lachte hysterisch. Wenn die Dämonen ihm nicht zuvor kamen, war dieser Nyrrak ihm endlich sicher.
Vor einer halben Stunde erst war er mit seinen Leuten öffentlich im Dorf erschienen. Der Tumult, den die Bewohner daraufhin veranstaltet hatten, musste Nyrrak vertrieben haben. Das Yanni den Tod gefunden hatte, berührte den Inquisitor nicht. Sie war nur der Köder gewesen, der sich als nutzlos erwiesen hatte. Es gab keine Anhänger Nyrraks, den Trottel und die Frau vielleicht ausgenommen. Junda hatte seine tote Tochter mit erstarrtem Gesicht betrachtet, seine Hände ballten sich in eiskalter Wut. Dann hatte er sich abgewandt und war Trakmadon begegnet. Den Inquisitor schüttelte es bei der Erinnerung an die Szene erneut. Derartig tödlichen Hass hatte selbst er in seiner langen Laufbahn niemals gesehen.
Jetzt ritt Junda noch neben ihm durch die behindernden Felsen, drängte sich jedoch schnell an die Spitze der Jäger. Seine Augen flammten, er trieb sein Tier zu größter Eile an.
»Fasst ihn lebend, wenn ihr könnt!«, brüllte er hinter den Jägern drein, die soeben zwischen den Felsen verschwanden.
Dahinter begann plötzlich ein gewaltiges Geschrei, und Trakmadon drängte schneller durch das Wehr. Der Anblick verschlug ihm den Atem.
In der Mitte der Hochebene lag das Schloss der Dämonen! Gewaltig, von einem silbrig-grauen Glanz, erinnerte sein Baumaterial an die Schwerter, die im Land der Inquisition gefertigt wurden. Fackeln, die nicht aus Feuer waren, ließen die unbezwingbaren Wände des Schlosses in der Dunkelheit erstrahlen.
Hinter ihm waren seine restlichen Männer zum Stillstand gekommen. Keiner konnte die Augen von der Burg lösen, die Tiere scharrten angstvoll mit den Hufen.
Ein gellender Schrei riss Trakmadon aus seiner Starre. Über die Ebene hetzte nur noch Junda auf seinem Gundu den Flüchtenden nach und kam ihnen immer näher. Seine Wut konnte selbst von dem gewaltigen Anblick des Schlosses nicht gedämpft werden. In ohnmächtigem Zorn musste Trakmadon mit ansehen, wie die Frau das Schloss erreichte. Sie machte eine undeutbare Bewegung, dann klaffte eine Öffnung in dem Schutzwall, durch den sie schnell verschwand.
»Lass Nyrrak nicht entkommen!«, schrie Trakmadon unbeherrscht.
Seine Jäger überwanden erst jetzt ihre Erstarrung und trieben die Tiere hinter Junda her.
Tatsächlich schien Nyrrak den Rückzug seiner Gefährten decken zu wollen, denn er war zurückgefallen und erwartete Junda in abwartender Haltung. Der erreichte ihn Augenblicke später und wollte ihn einfach niederreiten. Trakmadon brüllte, als er sah, wie der ehemalige Bauer geschickt auswich und sich hinter dem Mann auf das Tier schwang. Man sah, wie er den Kopf des anderen packte und mit einem kräftigen Ruck herumriss. Danach hing sein ehemaliger Schwiegervater leblos auf dem bockenden Gundu.
Nyrrak sprang wieder hinab und stürmte durch den sich schließenden Spalt in der Wand in das Dämonenschloss.
Es war ganz anders, als er es sich in seinen kühnsten oder auch schlimmsten Träumen vorzustellen vermochte. Überall saßen an den Wänden rot, blau und grün leuchtende Dämonen. Sie strahlten wie Feuer, doch flackerten sie nicht. Sie waren beständig wie die Sonne. Nur in anderen Farben.
Nyrrak erkannte Jila einige Meter vor ihm. Zögerlich schlich er zu ihr. Sie blickte auch auf die Leuchtdämonen.
Erst jetzt bemerkte Nyrrak das Fehlen des Trottels Teddus. Er hatte es also nicht bis in die Burg geschafft. Sein Schicksal schien besiegelt. Nyrrak bedauerte ihn. Seine Vergangenheit barg noch viele Geheimnisse, und schließlich war er über die Zeit der gemeinsamen Flucht fast zu einem richtigen Freund geworden. Er versuchte einen Ausgang wieder zu finden. Erfolglos. Sie saßen in der geheimnisvollen Burg fest.
»Was sind das für böse Geister?«, hauchte Jila.
Nyrrak konnte die Frage nicht beantworten. Er nahm Jilas Hand und ging mit ihr den finsteren Korridor entlang. Es war stickig und kalt. Nur die blauen Dämonen spendeten Licht.
»Ich habe Angst.«
Jila klammerte sich an Nyrrak fest. Bei allem was der Bauer bis jetzt erlebt hatte, war dies der düsterste Moment. Sie waren zwar den Häschern der Inquisition entronnen, doch nun liefen sie durch die Höllen der schlimmsten Verdammnis. Das Schloss auf dem Teufelsberg!
Teddus war schon einmal hier gewesen. Bevor er der Inquisition zum Opfer fiel. Hier erhielt er anscheinend sein Wissen über Osiris und die anderen fremden Götter. Lag hier vielleicht der Ursprung von Nyrraks und Jilas Albträumen? Mut und Neugier wichen der Angst.
Entschlossen ging Nyrrak den Gang entlang. Jila folgte im angstvoll.
Plötzlich durchzuckte ein stechender Schmerz den Schädel des Bauern. Er fiel auf die Knie. Durch seinen Kopf schossen unzählige Bilder. Eine Stahlscheibe, die durch den Weltraum fliegt. Zwei verbundene Pyramiden aus Stahl, die die Sonne zum explodieren bringen. Der Satan! Der Teufel. Seine leuchtenden feurigen Augen. Rotes Fleisch, das Mal von drei Sechsen. Jila! Feuer! Tote! Dann wird es dunkel.
Als nächstes spürte Nyrrak die Wärme Jilas. Sie hockte über ihn gebeugt und streichelte ihn behutsam.
»Nyrrak? Was ist mit dir?«
Langsam kam er wieder zu Sinnen. Der Schmerz ließ nach. Mit Mühe richtete sich der Entrisoner auf.
Er klammerte sich an der Schulter Jilas fest. »Ich weiß nicht, oh holde Jila. Ich ... ich habe Dinge gesehen, fern jeglicher Realität. Der Satan selbst ist mir begegnet.«
Jila erschrak bei den Worten. Der Aberglaube war stark ausgeprägt in diesem Volk. Allein die Erwähnung des Wortes Satan löste bei jedem aus dem Volke der Entrisonen eine grenzenlose Panik aus. Doch Jila wusste, dass sie anderes waren als normale Entrisoner. Sie sahen Dinge, die andere nicht sahen. Sie wurden von Träumen oder gar Visionen geplagt von wahrscheinlich großer Bedeutung. Und deshalb trachtete ihnen Trakmadon nach dem Leben.
Nyrrak entschloss sich, weiter zu gehen und nahm Jila bei der Hand. Sie schritten durch einen langen Gang mit vielen roten, gelben, grünen und blauen Leuchtdämonen.
Nach einer Weile wurde es heller. Neugierig guckte Nyrrak um die Ecke. Ihm offenbarte sich ein Raum mit vielen leuchtenden Punkten. Überall piepte und surrte es. Der Boden und die Wände waren gelbweiss und wirkten steril. Ganz anders als die Burgen auf Entrison.
Jila wollte nicht weitergehen, doch irgendetwas zog sie immer weit in den fremden Raum. Dort wo die Dämonen warten würden. Beide verspürten einen Druck auf ihren Augen und schmerzhaftes Pochen in ihren Schädeln. Jila schloss die Augen und taumelte.
Visionen schossen durch ihren Kopf.
Ein Teufel. Ein grüner Teufel, gehörnt und mit einer Axt in den Pranken mit der er viele Menschen richtete. Jila sah Menschen in Panik aufschreien und weglaufen. Viele von den grünen Teufel waren in dem großen Raum und zerhackten Frauen und Männer gleichermaßen.
Jila konnte diese Todesvisionen nicht ertragen, sie zwang sich dazu die Augen zu öffnen. Nyrrak war verschwunden und sie fand sich selbst am Boden in der Ecke des Raumes sitzend wieder.
»Nyrrak?«, flüsterte sie.
Doch Nyrrak gab keine Antwort. Er war mit sich selbst beschäftigt. Die Visionen nahmen überhand. Hunderte, nein Tausende von neuen Szenarien offerierten sich in seinem Geiste. Er sah so vieles. Ein scheibenförmiges Metallluftschiff, ein roter Satan in langer Kutte, eine wunderschöne blonde Frau, ein fliegendes Schiff aus Metall ... so viele neue Eindrücke und Erinnerung. Zu viel für den Kopf.
Schweiß rann Nyrrak von der Stirn. Sein Kopf schmerzte. Vor den Augen zog ein Schleier entlang. Dann fiel er auf den Boden. Mühsam kroch er weiter, schleppte sich in den nächsten Raum. Dort zog ihn etwas magisch hin.
Mit alle Kraft hievte sich Nyrrak mit Hilfe einer der blinkenden Kästen hoch und starrte auf das Ding.
Plötzlich wusste er, was er zu tun hatte. Wie in Trance, wie in einem Traum geschah es, dass er einen Finger hob und auf eine Taste drückte. Nyrrak blickte auf die Tür neben dem Kasten, die sich mit einem lauten Knarren öffnete.
»Jila!«, rief er seine Gefährtin.
Sie schleppte sich hoch und ging mit schweren Schritten zu Nyrrak. Jila war klitschnass, die Augen wirkten müde.
Nyrrak nahm sie bei der Hand und deutete auf die offene Tür. »Irgendetwas sagt mir, wir müssen dort eintreten, um das Geheimnis unserer Träume zu lüften.«
Jila nickte schwach und signalisierte damit ihre Zustimmung. Nyrrak zerrte sie mit in den dunklen Raum. Mit einer automatisierten Handlung drückte er einen Schalter an der Wand.
Es ward Licht. Weder Nyrrak noch Jila wunderten sich über diese seltsamen, hexerischen Ereignisse.
Nyrrak glaubte nicht, was er sah. In diesem Raum hingen an einer Stange zwei Anzüge. Der eine glich beinahe einer blauweißen Ritterrüstung. Das andere war ein sehr gewagtes Kleid einer Frau. Es gewährte großzügige Einblicke in Bauch, Beine, Rücken und Busen. Daneben lagen in einer Vitrine seltsame Waffen. Sie hatten keine Klingen und sahen aus wie die modernen Pulvergeschosse, wie sie die Armee in der Entwicklungsphase hatte.
Nyrrak wanderte mit dem Blick weiter durch den Raum. Jila hingegen ging zielstrebig zu dem Kleid hin und berührte es. Sie zog die dreckigen, ausgetretenen Stiefel voller Löcher aus und schlüpfte mit ihren Füßen in die schwarzen Stiefel, welche unter dem Kleid standen.
»Die passen als wären sie für mich von einem Meister geschustert worden«, meinte sie erstaunt.
Nyrrak fixierte sich derweil auf eine leuchtende Abbildung. Sie schimmerte grün und zeigte Schriften und Bilder. Nyrrak hatte diese Zeichen niemals zuvor in seinem Leben gesehen, dennoch kamen sie ihm irgendwie bekannt vor. Er stockte bei den Bildern.
Dann merkte er noch, wie sich mit einem dumpfen Ton ein stechender Schmerz in seinem Genick ausbreitete, ehe Dunkelheit ihn umfing.
*
Trakmadon und seine Männer standen immer noch am Fuße des Berges und beobachteten das Dämonenschloss. Die steinerne Miene des Inquisitors drückte keinerlei Gefühlsregung aus. Mit Argusaugen beobachtete er jede Veränderung am Schloss.
Noch immer stand der Narr Teddus an den Toren und lief aufgeregt umher. Abfällig musterte Trakmadon den Trottel.
»Offizier!«, rief der Kircheninquisitor.
Ein anderer Mann kam angeritten und salutierte.
»Suche die mutigsten Männer aus. Die gottesfürchtigsten Soldaten sollen mir zum Dämonenschloss folgen.«
Der Mann erschrak. Wollte Trakmadon wirklich dieses ketzerische Vorhaben in die Tat umsetzen? Jeder von ihnen konnte in der Hölle landen. Das Dämonenschloss galt als schlimmster Punkt auf der Welt. Hier befand sich der Einstieg zur Hölle.
»Aber Herr ...«, gab der Offizier zu bedenken.
Trakmadon würdigte ihn keines Blickes. »Sollten deine Truppen mir nicht folgen, so verweigern sie Gott den Dienste und werden von mir exkommuniziert!«
Der Offizier verstand. Voller Furcht ritt er davon und suchte die Männer aus. Trakmadon war fest entschlossen, Nyrrak und Jila zu finden.
*
»Ahje, was das denn? Was tust hier suchen tun, ja?«, fragte das seltsame Wesen mit lauter Stimme. Nur noch sein Schniefen und Atmen war lauter.
Jila hielt Nyrrak fest, der noch immer bewusstlos war. Sie verstand nicht recht, was dieses klobige Wesen mit drei Beinen und einem riesigen Auge von ihr wollte. Allein der Anblick dieses Dämonen machte ihr riesige Angst. War sie nun im Fegefeuer? War nun alles vorbei?
»Verstehste nicht? Bist deppert und doof, ja, jawohl? Ich bin Drullf! Ich bin der Rytar. Aber des kennst du nicht, ja, nicht wahr?«
Jila verstand teilweise, was dieses Wesen sprach. Es kommunizierte in ihrer Sprache, doch seine Ausdrucksweise war grauenvoll.
»Bist du ein Dämon? Ein Vasall des Satans? Bist du hier, um mich und Nyrrak in die Hölle zu holen?«
Jilas Stimme klang schwach und angstvoll. Die Ereignisse der letzten Stunden, insbesondere die Erscheinung dieses Drullf, waren einfach zu viel für einen normalen Entrisoner gewesen. Auf der anderen Seite bewunderte sich Jila für ihr Durchhaltevermögen und ihre Fähigkeit, die neuen Ereignisse zu verarbeiten.
»Nee, ich doch net. Ich bin der Wärter. Verstehste du nicht, nicht wahr? Bist ja auch deppert und doof. Primatenentrisone. Ich bin der große Bewacher des Planeten. Zwei Menschen tue bewachen ich, verstehste? Die sollen net ihre Erinnerungen zurück tue kriegen. Verstehst? Ne, tust nicht, gelle? Bist ja auch deppert und doof. Kackst ja noch auf ein Klo ohne Spülung. Primitivlinge seid ihr. Aber passt nur auf, der Drullf wird es euch schon zeigen tun.«
Jila saß eine Weile vor dem fremden Dämonen und versuchte seine gesprochene Worte geistig zu übersetzen. Er redete davon, ein Wächter auf dieser Burg zu sein mit der Aufgabe zwei Menschen zu beobachten, die auf dieser Welt gefangen sein. Diese Menschen sollten niemals an ihre alten Erinnerungen gelangen.
Jila wurde unwohl zumute. Sie dachte über die Parallelen zwischen ihnen und den beiden Leuten nach, von denen Drullf sprach.
Nyrrak war immer noch bewusstlos. Der Schlag von Drullf hatte gesessen. Jila überwand sich, dieses Wesen genauer anzusehen. Es stand auf drei Säulenbeinen. Der Torso war unförmig und glich einer Kartoffel. Der halbrunde Kopf ging übergangslos in den Torso über. Ein großes Auge und ein breiter Mund bildeten die Sinnesorgane. Ohren und Riechorgane waren nicht erkennbar. Das Wesen war fett und schwitzte. Das schwere Atmen war deutlich zu hören.
»Verstehste?«, wiederholte Drullf seine Frage beharrlich.
Jila nickte schwach.
»Gut, hier isses recht einsam und langweilig, verstehst? Könnt Abwechslung und ein Spielzeug gebrauche tun. Verstehst?«
»Nein, ich verstehe sowieso nur die Hälfte von dem, was du redest, seltsame Kreatur!«
Drullf grunzte überrascht. Schleim triefte aus dem Mund und platschte auf den Boden. Jila musste sich einen Brechreiz unterdrücken.
Nyrrak kam langsam zur Besinnung. Jila streichelte sanft über sein Gesicht.
»Was ist ...« Nyrrak stockte, als er Drullf vor sich sah.
Dieser bewegte sich ein paar Schritte auf sie zu. Jila bemerkte erst jetzt den fauligen Geruch in seinem Atem. Das große Glubschauge starrte die beiden unentwegt an.
»Momende mal! Uijuijui! Kindsle, ihr seid ja die zwo, die ich bewache tue soll. Das verstehe ich net!«
Nyrrak und Jila sahen sich fragend an. Dann sprang Nyrrak auf und stellte sich vor das seltsame Wesen. Es versuchte Nyrrak zu packen, doch der Entrisoner war schneller. Er duckte sich und versetzte ihm einen schmerzhaften Tritt in den Untertorso.
Prustend wankte das Wesen. Jila suchte derweil Waffen und betätigte allerlei Knöpfe. Drullf brüllte »Huia« und warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf Nyrrak. Der Entrisone brach keuchend zusammen. Dann packte der Rytar den Menschen und warf ihn in einen anderen Raum. Jila blickte entsetzt dem Geschehen zu. Nun wurde auch sie nicht von dem Rytar verschont. Das skurrile Wesen sperrte beide in den benachbarten Raum. Keuchend und prustend zog es von dannen.
*
Trakmadon und seine Soldaten zogen angstvoll aber dennoch entschlossen voran. Sie kamen der Burg immer näher und Teddus lief wie ein in die Ecke getriebener Tiger umher.
Er wusste, dass sein Ende gekommen war. Vergeblich suchte er eine Nische, einen Durchgang zum Inneren der Burg. Doch die Festung blieb ihm verschlossen.
Die Inquisitoren trabten erhaben auf ihren Gundun heran. Es ward nicht mehr lange bis sie die Burg erreichten.
Teddus versuchte zu fliehen, doch die Bogenschützen schnitten ihm den Weg ab. Sie verletzten ihn nicht, deuteten ihm aber wohl, seine Flucht zu unterbinden.
Trakmadon fühlte sich nun etwas entspannter. Sie standen an der Burg und nichts war passiert. Er stieg aus dem Sattel. Drei andere Soldaten kesselten den kreischenden Narren ein und stießen ihn auf den Boden.
Trakmadon befahl einen Soldaten, Teddus Gesicht in den Schlamm zu drücken. Der Offizier leistete dem Befehl mit Vergnügen Folge. Dann zog er ihn wieder hoch.
»Mein Sohn, vor MODROR, gestehe deine Missetaten und dir möge vergeben werden. So sprich; wo sind die beiden Flüchtigen?«
Trakmadon versuchte Freundlichkeit in seine Stimme zu legen. Doch Teddus hörte ihm gar nicht mehr zu. In den Augen stand der Schwachsinn.
»Hier hat alles angefangen«, jaulte der Volltrottel. »Hier hat Teddus bösen Dämonen gesehen. Hier hat Teddus über Osiris gelesen.«
Trakmadon wusste, worüber Teddus sprach. Einst war er ein großer Architekt, doch nach einem Urlaub kehrte er als Schwachsinniger zurück, redete von dreibeinigen Monstern und fremden Göttern mit den Namen Osiris, Anubis oder Seth.
Natürlich war dies Gotteslästerung höchsten Grades. Es gab keine Wesen mit drei Beinen. Es gab auch keine anderen Götter neben MODROR. Die gegenteilige Behauptung rief die Inquisition auf den Plan. Ihre von MODROR gegebene Aufgabe war es, sein Andenken aufrecht zu erhalten und den uneingeschränkten Glauben an MODROR zu bewahren. Jeder Verstoß gegen den unabdingbaren Glauben musste bestraft werden.
Deshalb gab es Leute wie Trakmadon. Sie folterten, knechteten und töteten im Namen Gottes. Sie taten es für Gerechtigkeit und Güte.
Auch Teddus wurde nicht verschont. Trakmadon hatte ihn persönlich gefoltert. Es gab Apparaturen im Folterkeller, die von den Ahnen stammten. Diese richteten viele Schäden am Geiste an. Da Teddus ein einflussreicher Mann war, wollte man ihn nicht töten. Man raubte ihm seines Verstandes. So konnte man ihn einschüchtern, lenken und sollte dies fehlschlagen würde niemand einem Narren Glauben schenken.
Doch Trakmadon glaubte langsam an das, was Teddus erzählte. Er packte den Mann, der voller Schmutz war und rüttelte ihn.
»Sage mir, wo du diesen Dämon gesehen hast? Wo hast du von den fremden Göttern gelesen? Rede, Frevler, oder dein Leben ist vorbei!«
Teddus fing an zu weinen. »Hier war es! In der Burg. Ich fand einen Eingang, der jetzt aber versiegelt ist. Dort lief ich durch Räume mit leuchtenden Dämonen, die Licht spendeten. Mir erschienen Bilder der Götter und sie sprachen ihre Namen. Dann begegnete ich dem dreibeinigen Monster mit nur einem Auge. Es warf mich hinaus.«
Trakmadon ließ den Narren los. »Beendet sein lasterhaftes Dasein und sucht danach nach einem Eingang. Wir werden diese frevelhafte Burg im Namen MODRORs durchsuchen.«
Da erschien plötzlich das Abbild des Dämonen, drei Ellen höher als ihr größter Soldat. Breiter als ihr stärkstes Tier. Das Auge loderte, der Rachen drohte sie zu verschlingen.
Ohne den Befehl abzuwarten, schossen die Soldaten Trakmadons auf die teuflische Kreatur, doch vergeblich. Die Pfeile schossen hindurch ohne Wunden zu hinterlassen. Es schien beinahe, als wäre dieses Wesen nur aus einem Dunst entstanden.
Es fing an zu brüllen. Panik breitete sich aus und die Kirchenritter flüchteten in heillosem Durcheinander. Trakmadon war der letzte, der tapfer vor der furchtbaren Kreatur stand. Als er seine Niederlage erkannte, ergriff auch der Inquisitor die Flucht. So schnell er konnte, ritt er den Teufelsberg hinunter. Doch er schwor bei MODROR, diese Niederlage nicht auf sich beruhen zu lassen.
Das Dämonenschloss musste vernichtet werden!
*
»Den habe ich es zeigt tun«, grollte Drullf in seinem mühsamen Dialekt und amüsierte sich köstlich über die fortlaufenden Entrisoner.
Er hatte die Eindringlinge vertrieben und die anderen beiden inhaftiert. Jetzt wurde es Zeit, sich auszuruhen. Sicherlich hätte er sofort Shul‘Vedek oder den Dreierrat informieren sollen, denn die beiden Gefangen waren von höchster Wichtigkeit. Sie waren der Grund, warum er hier seinen Dienst tat.
Das machte ihn stutzig. Er hatte hier eine einfache Aufgabe. Er lebte sorglos in den Tag hinein. Bei einer Meldung würde die höhere Stelle Untersuchungen anordnen oder ihn gar versetzen. Das durfte nicht passieren! Deshalb entschloss er sich dafür, nicht Meldung zu erstatten. Stattdessen legte er sich schlafen.
Nyrrak und Jila saßen in dem ihn bestens bekannten Raum. Dort lagen die seltsam feinen Anzüge, die Waffen ohne Klingen und Behälter, die unentwegt Schriften und Bilder zeigten.
Nyrrak hockte gebannt vor dieser Apparatur und schien sie zu studieren. Jila hingegen zog sich das saubere, feine Kleid an. Die Lumpen mochte sie nicht mehr tragen.
Jila legte sich in eine der Ecken und beobachtete Nyrrak. Vor ihrem geistigen Auge schossen einige Bilder. Sie und Nyrrak wurden von dem roten Satan mit den drei Sechsen auf der Stirn gefangen genommen.
Ihr Kopf schmerzte so sehr. Die Erinnerungen verblassten.
Nyrrak stand wieder vor der Abbildung, die er als letztes vor seiner Ohnmacht betrachtet hatte. Und plötzlich sah er klar.
»Jila!«, schrie er, aufs Äußerste erregt. Er packte ihre Arme und zog sie zu sich hoch. »Jila, das hier ist ein Bild von uns!«
Seine Blicke wanderten von ihrem Kleid zum Bild und zurück. Es gab keine Zweifel. Noch einmal konzentrierte er sich auf die Schriftzüge unter dem Bild. Die wirren Zeichen verschwommen kurz vor seinem Blick und schienen sich neu zusammenzusetzen, doch er wusste nun, dass seine wahre Erinnerung wiederkehrte. Er las hastig die Beschreibung ihrer Personen und kehrte schließlich zu den Bildern zurück. Dort standen ihre Namen. Sie waren anders.
Mit einem erstickten Schrei sank er unter der Gewalt seiner Erinnerungen zusammen, als er die Namen verstand: Aurec und Kathy Scolar!
ENDE
Aurec lebt noch. Und mit ihm auch die Terranerin Kathy Scolar. In Band 53 wechseln wir zurück in die Lokale Gruppe. Die IVANHOE ist in diplomatischer Mission in Andromeda und trifft auf unbekannte Wesen. Vetra ist der Titel des Romans und das Debut des Autoren Leo Fegerl.
Inquisition – lateinisch für eine gerichtliche Untersuchung – bezeichnet die seit dem Mittelalter eingerichtete Behörde der katholischen Kirche, deren Aufgabe darin bestand, »Ketzer« zu verfolgen, vor Gericht zu stellen und zu verurteilen.
Im Urchristentum war die Strafe für Ketzerei oder Häresie in der Regel die Exkommunikation. Nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, wurden Ketzer auch als Staatsfeinde angesehen. Die Inquisition wurde seit dem Mittelalter auch mit staatlicher Hilfe betrieben. Die Inquisition nahm ihren Anfang Ende des 12. Jahrhunderts, als Papst Innozenz III. einen Kreuzzug gegen die Albigenser organisierte. Er erließ Strafgesetze gegen die Ketzer und schickte Prediger zur Bekehrung in die abtrünnigen Gebiete. Inquisition im eigentlichen Sinn existierte ab 1231, markiert durch die Schrift »Excommunicamus« (»wir exkommunizieren«), die so genannten Ketzerdekrete von Papst Gregor IX., durch die er die Verantwortung der Bischöfe für die Bewahrung der Glaubenslehre einschränkte, die Inquisitoren der besonderen Gerichtsbarkeit des Papstes unterstellte und harte Strafen einführte.
Das Amt des Inquisitors wurde fast ausschließlich von Franziskanern und insbesondere von Dominikanern ausgeübt, da diese über gute Kenntnisse der kirchlichen Lehre verfügten. Dadurch wollte Gregor dem Inquisitionsanspruch von Kaiser Friedrich II. zuvorkommen und den Einfluss der Kirche stärken. Friedrich II. bekämpfte aus machtpolitischen Gründen Häretiker in Oberitalien und führte dabei 1224 den Scheiterhaufen ein. Gregor IX. übernahm diese Hinrichtungsmethode in den so genannten Ketzerdekreten mit der Begründung, dass beim Verbrennen des Leibs zumindest die Seele durch Fürbittgebete gerettet werden könne.
Die Institution der Inquisition war zunächst auf Deutschland und Aragonien beschränkt, sie wurde jedoch bald schon auf die ganze westliche Kirche ausgedehnt. Dem Tribunal standen zwei Inquisitoren von gleicher Machtbefugnis vor, die ihre Autorität direkt vom Papst erhielten. Sie hatten sogar die Vollmacht, Fürsten zu exkommunizieren, und waren damit auch politisch einflussreich.
Die Inquisitoren richteten sich für eine bestimmte Zeit an einem Ort ein. Hier hatten sich all jene einzufinden, die entweder denunziert worden waren oder die sich durch Selbstanklage zu verantworten hatten. Die Strafen für diejenigen, die sich selbst stellten, fielen milder aus als die Strafen für jene, die vor Gericht gestellt und »überführt« wurden, wobei es eine Gnadenfrist von etwa einem Monat für ein »freiwilliges« Geständnis gab. In der Regel galten bereits zwei Zeugenaussagen als Beweis für die Schuld, 1252 legitimierte Papst Innozenz IV. offiziell den Einsatz der Folter, um die Verdächtigen zu einem Geständnis zu zwingen. Zunächst wurden die Namen der Ankläger den Angeklagten nicht mitgeteilt, bis Papst Bonifazius VIII. Ende des 13. Jahrhunderts diese Praxis abschaffte.
Den Inquisitoren half bei der Urteilsfindung eine Art Jury aus Geistlichen und Laien. Die Strafen und Urteile wurden öffentlich verkündet. Die Strafe konnte in einer Wallfahrt bestehen, in öffentlicher Auspeitschung, in einem Bußgeld oder darin, ein Kreuz durch die Straßen des Orts zu tragen. Wer falsche Anklage erhob, musste ein Gewand tragen, auf das zwei rote Stoffzungen aufgenäht waren. In schweren Fällen konnten die Angeklagten auch mit Konfiszierung ihres Eigentums oder Gefängnis bestraft werden. Eine Todesstrafe konnten die Inquisitoren jedoch nicht verhängen, deshalb überstellten sie einen Schuldigen den weltlichen Behörden, die dann das Todesurteil aussprachen und vollstreckten.
Die Inquisition, die sich zunächst auf Albigenser und Waldenser beschränkte, dehnte ihre Tätigkeit später auch auf andere Gemeinschaften aus, die von der offiziellen Kirchenlehre abwichen; außerdem wurden Wahrsager sowie Frauen verfolgt, die man als Hexen verfolgte. Nachdem die Albigenser anfangs des 15. Jahrhundert zurückgedrängt waren, schränkte die Inquisition ihre Tätigkeit zunächst ein.
Als aber im 16. Jahrhundert der Protestantismus auch nach Italien vordrang, richtete Papst Paul III. auf den Ratschlag von Kardinal Gian Pietro Carafa in Rom die »Kongregation für Inquisition« ein, auch als »römische und weltweite Inquisition« oder als »Sanctum Officium« bezeichnet. Die ursprüngliche Kommission mit Befugnissen für die gesamte Kirche bestand aus sechs Kardinälen. Das Sanctum Officium war nicht nur geringeren Kontrollen als die Inquisition des Hochmittelalters unterworfen, sie hatte auch andere Funktionen inne: Die ursprüngliche Inquisition befasste sich mit dem Irrglauben im Volk, das Sanctum Officium prüfte Rechtgläubigkeit eher im akademischen Sinn und untersuchte insbesondere die Schriften von Theologen und hohen Klerikern.
In den ersten zwölf Jahren war die Tätigkeit der römischen Inquisition relativ bescheiden und beschränkte sich fast ausschließlich auf Italien. Als 1555 Kardinal Gian Pietro Carafa zum Papst gewählt wurde und den Namen Paul IV. annahm, drängte er auf die energische Verfolgung Verdächtiger, auch Bischöfe und sogar Kardinäle wurden nicht ausgenommen. Er beauftragte die Kommission mit der Erstellung einer Liste von Büchern, die dem kirchlichen Glauben sowie der kirchlichen Moral widersprachen, worauf 1559 der erste »Index librorum prohibitorum« (»Index der verbotenen Bücher«) erschien.
1633 wurde Galileo Galilei von der römischen Inquisition angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt, die später in lebenslangen Hausarrest abgemildert wurde; erst im Oktober 1992 rehabilitierte die katholische Kirche Galilei öffentlich. Aufgrund zahlreicher Beschwerden wandelte Papst Paul VI. das Sanctum Officium 1965 im Rahmen des 2. Vatikanischen Konzils in die nun »Glaubenskongregation« genannte Behörde um.
Die spanische Inquisition unterschied sich ebenfalls deutlich von der Inquisition des Hochmittelalters. Sie wurde 1478 auf Wunsch des spanischen Königs Ferdinand V. und der Königin Isabella I. mit Zustimmung des Papstes eingerichtet und sollte sich vor allem mit den »Marranen« befassen. Das waren Juden, die sich unter Zwang oder auf Grund gesellschaftlichen Druckes hatten taufen lassen, insgeheim jedoch ihren jüdischen Glauben beibehielten. Nach 1502 wandte sich die spanische Inquisition auch den Personen zu, die auf ähnliche Weise vom Islam zum Christentum konvertiert waren. Binnen weniger Jahre verlagerte der Papst den größten Teil der Kontrolle über die Inquisition aber auf die weltlichen Herrscher, die spanische Inquisition wurde zu einem Instrument des Staates. Die spanische Inquisition war vor allem in protestantischen Gebieten für ihre Grausamkeit bekannt. 1522 führte Kaiser Karl V. die Inquisition in den Niederlanden ein, sie erwies sich jedoch zur Bekämpfung des Protestantismus als untauglich. In einigen Ländern bestand die Inquisition bis ins 19. Jahrhundert; erst 1834 wurde sie in Spanien, 1859 in Italien und 1870 im Kirchenstaat abgeschafft.
Björn Habben
Drullf entstammt vom Volk der Rytar. Er ist Wächter der Observationsstation auf dem Planeten Entrison. Ein Rytar ist ein einäugiger Fleischtorso auf drei langen, starken Beinen.
Entrison ist ein erdähnlicher Planet in der Galaxie Barym. Der Durchmesser des Planeten liegt bei 8.799 Kilometer, die Schwerkraft bei 0,984 g. Entrison bietet eine reichhaltige Natur. Die auf ihm lebende, humanoide Spezies verfügt über den Stand des terranischen, frühen Mittelalters. MODROR wird als Gott verehrt.
Entrison dient 1298 NGZ als Gefängnis für den Saggittonen Aurec und die Terranerin Kathy Scolar, die mit falschen Erinnerungen und Scheinidentitäten dort ihr Leben fristen müssen. Allerdings finden sie ihr wahres Ich heraus.
Geburtsort: Entrison
Größe: 171 Zentimeter
Gewicht: 68 Kilogramm
Augenfarbe: braun
Haarfarbe: braun
Bemerkungen: minderbegabt, körperliche Missbildungen
Teddus ist ein Dorftrottel in der Stadt in der Jila arbeitet. Er ist gutmütig, wird jedoch von allen anderen Menschen verachtet und gedemütigt.
Teddus ist ein anerkannter Architekt gewesen, bis er durch Zufall in die geheime Station der Rytar gelangt ist und an Datenspeicher zu Aurec und die Milchstraße gelangt. Sein Geist kann diesen Schock nicht überwinden und die Folter der brutalen Inquisition tut ihr übriges und macht aus dem Menschen ein Narren.
Geburtsort: Entrison
Größe: 187 cm
Gewicht: 80 kg
Augenfarbe: braun
Haarfarbe: braun
Bemerkungen: arroganter Charakter, skrupelloses Organ der herrschenden Gottheit MODROR.
Trakmadon trägt ausschließlich dunkelgraue, schnörkellose Uniformen. Schwerer Hut aus Leder, geziert von langer weißer Feder.
Er tritt in Erscheinung als Yanny ihren Ehemann Nyrrak (Aurec) an die Inquisition verrät. Trakmadon jagt Aurec, versagt jedoch.
Die DORGON-Serie ist eine nicht kommerzielle Publikation des PERRY RHODAN ONLINE CLUB e. V. — Copyright © 1999-2015
Internet: www.proc.org & www.dorgon.net • E-Mail: proc@proc.org
Postanschrift: PROC e. V.; z. Hd. Nils Hirseland; Redder 15; D-23730 Sierksdorf
— Special-Edition Band 52, veröffentlicht am 25.12.2015 —
Titelillustration: Gaby Hylla • Lektorat: Jürgen Freier und Jürgen Seel • Digitale Formate: Jürgen Seel