Prolog: Den Tod vor Augen
Die Klinge glitzerte im schwachen Licht des künstlichen Himmels. Elyns Augen kehrten immer wieder zu dem Messer zurück, das Adelheid ihr mit einer verächtlichen Geste vor die Füße geworfen hatte.
Sie zog ihre Stirn kraus. Ausgerechnet Joak Cascal verdankte sie diesen Schlamassel. Musste er denn auch jeder terranisch aussehenden Frau hinterher lechzen? Sie schwor sich, dass Joak das leidtun würde, wenn das hier vorbei war. Wenn …
»Fehlt dir der Anstand oder der Mut, dich zu töten?«
Adelheids Stimme triefte vor Hohn.
Elyn blinzelte. Wie kam sie hierher? Sie war unter freiem Himmel, in einem umzäunten Garten. Vorsichtig stemmte sie sich auf ein Knie hoch. Der Boden war aus Stein, zeigte ein Mosaik, das sie aus dieser unmittelbaren Nähe nicht erkennen konnte. Adelheid stand weniger als zwei Meter entfernt. Auf ihrer Schulter hockte eine große schwarze Krähe.
Die Alyske richtete sich auf. Zwischen ihr und der alten Lilim standen zwei muskelbepackte Tertiärentropen. Wie groß diese Wesen waren! Adelheid ging wirklich kein Risiko ein.
»Was ist, Mädchen …?« Adelheids Stimme tropfte samtweich aus ihrem Mund. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«
Elyn schwieg verbissen. Was sollte sie auch sagen?
»Ich habe beschlossen, dass du nicht lange auf deine Hinrichtung warten sollst.« Der faltige Mund verzog sich zu einem hässlichen Lächeln. »Man hat ja schließlich ein Herz!«
Adelheids Augen zeigten, wie sehr die alte Frau ihren Triumph genoss.
»Vielleicht noch ein paar letzte Worte … oder einen letzten Wunsch?«
»Deinen abgetrennten Kopf von Würmern zerfressen im Dreck!«
Die Worte brachen gegen Elyns Willen aus ihr heraus. Alles in ihr schrie danach, sich nach vorn zu werfen, der grässlichen Alten die Hände um den Hals zu legen und zuzudrücken. Ganz langsam! Den Blick fest auf diese Augen gerichtet sehen, wie die unbarmherzige Kälte langsam aus ihnen entwich und der Angst Platz machte.
Adelheid lachte böse. Die Tertiärentropen strafften sich, als ob Elyns Gedanken auf ihrer Stirn abzulesen waren. Ein Messer blitzte in Adelheids Händen. Elyn spürte ihren Mund trocken werden. Was hatte die Alte vor? Wollte sie ihr persönlich die Kehle durchschneiden oder Schlimmeres? Sie biss die Zähne fest aufeinander. Sie würde nicht um ihr Leben betteln. Keinen Ton sollte Adelheid von ihr hören!
»Keine Angst …!« Die Stimme der Lilim war jetzt kalt. Eiskalt!
Die alte Frau hob ihren Arm. Die große Krähe kletterte schwerfällig von der dürren Schulter über den Arm und blieb auf dem Handrücken sitzen. Die tiefschwarzen Knopfaugen musterten Elyn.
»Gefällt sie dir?« Der Ton der Alten war wieder samtweich. »Ein schönes Tier, nicht?« Ihr Blick streifte Zustimmung fordernd Elyns Gesicht. »Eine Krummschnabelkrähe! Diese Vögel sind sehr eigenwillig. Schwer zu dressieren! Und noch schwerer zu füttern.« Sie strich dem dunklen Vogel sanft über den Kopf. »Sie fressen ihre Beute nur, solange sie am Leben ist, weißt du?«
Elyn schluckte. Unwillkürlich wanderten ihre Augen von den krallenbewehrten Füßen des Vogels, welche fast die Größe einer ihrer eigenen Hände hatten, zu dem mächtigen gebogenen Schnabel. Ohne Frage konnte das Vieh damit einen ihrer Arme brechen.
»Deine letzte Chance, meine Liebe!« Adelheids Stimme war unbarmherzig. »Zerschneide dein Gesicht und lebe, oder …«
Sie streckte ihren Arm mit der Krähe. Der Vogel breitete seine Schwingen aus. Ein tiefes misstönendes Krächzen stieg aus dem Brustkorb des Vogels und wuchs zu einem einzigen entsetzlichen Schrei an.
»Wenn sie einmal angefangen haben zu fressen, hält sie nur noch der Tod der Beute auf.«
Elyns Herz schlug bis zum Hals. Sie spürte die Angst in allen Fasern ihres Körpers. Adelheids Arm hob sich noch ein Stück. Wieder schrie der Vogel. Er stieß sich vom Arm seiner Herrin ab.
Glockenhell gellte Adelheids Lachen. Dann …
1. Artumwandlung
»Wie lange will man uns noch warten lassen?« Missmutig kaute Remus an seiner Unterlippe.
Elyn unterbrach ihre Wanderung um den Konferenztisch. Sie war über die lange Wartezeit nicht weniger verärgert als der Terraner. »Woher soll ich das wissen? Denkst du, ich weiß mehr, weil ich seine Tochter bin?«
»Schon gut!« Er hob beschwichtigend die Hände.
»Hör auf, mich mit deinen Fragen zu nerven! Nimm dir meinetwegen ein Beispiel an ihm.« Mit dem Finger deutete sie auf Joak Cascal, der es sich zwischen zwei Stühlen bequem gemacht hatte und vor sich hin döste.
Remus Scorbit seufzte lautlos und starrte weiter die Tür an. Was blieb ihm auch sonst zu tun? Schließlich hatte er zugestimmt, Eorthors Tochter auf dieser verrückten Spionagemission auf die SI KITU zu begleiten. Nein, eigentlich hatte Joak ihn dazu überredet. Er bedachte seinen Kameraden mit einem düsteren Blick. Für Joak bestand die Welt nur aus Abenteuern und Frauen. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, weshalb er sich mit diesem Halunken abgab. Die Gruppe wollte mehr über die immer noch geheimnisvollen Entropen und Hexen herausfinden. Woher kamen sie? Welchem Auftrag von SI KITU folgten sie genau? Was war ihre Motivation? Eorthor wollte die drei auf Adelheids Flaggschiff, der SI KITU, einschleusen, um Informationen zu sammeln.
Elyn nahm ihre Wanderung um den ovalen Tisch herum wieder auf. Was dachte sich ihr Vater nur? Er bestellte sie und die Terraner hierher, um über die Mission zu sprechen, und ließ sie dann stundenlang warten. Als ob sie nichts anderes zu tun hatte! Ein bitteres Lächeln zog über ihr sanftes Gesicht. Eigentlich hatte sie tatsächlich nichts anderes zu tun. Aber trotzdem sollte Eorthor sich an seine eigenen Regeln halten. Wehe man verspätete sich, wenn man mit ihm verabredet war, aber von allen anderen verlangte er selbstverständlich Geduld. Vor allem von ihr!
Und er? Wahrscheinlich hatte er die Zeit wieder in einer Besprechung über wissenschaftliche Berechnungen und Prognosen vergessen. Alles drehte sich nur noch um sein Lieblingskind, die NESJOR. Darum, wie man die achthundert Kilometer durchmessende Raumfestung, die neue Heimat der Alysker, weiter ausbauen und verbessern konnte. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, Alyskertechnik und Kybertech miteinander zu verschmelzen.
Die Tür glitt unvermittelt wie von Geisterhand zurück. Drei Männer der Besatzung betraten den Raum. Ihnen folgten, getragen von einer Schwebeplattform, einige Kisten.
Die Männer nickten ihr und den beiden Terranern grüßend zu, bevor sie sich ihren Kisten zuwandten. Die Plattform sank zu Boden und die drei begannen, mehrere sorgfältig verpackte Gegenstände herauszuheben.
Elyn biss die Zähne zusammen. Es fehlte nur noch ein Nebelwerfer. Ihr Vater war der Ansicht, jeden seiner Schritte planen und inszenieren zu müssen, und oft genug hatte er damit Erfolg. Immer wieder gelang es ihm, Fragen und Proteste damit abzuwürgen. Sie wandte sich demonstrativ um, zog einen der Stühle unter dem Tisch hervor und setzte sich mit dem Rücken zur Tür.
»Ah! Ihr seid schon da! Gut. Gut.«
Ihr Vater eilte in den Raum. Die Tatsache, dass er sie fast zwei Stunden hatte warten lassen, ignorierte er. Roi Danton und Aurec folgten ihm.
»Würde jemand bitte den jungen Mann dort wecken!«
Den jungen Mann! Roi Danton kannte Cascals Namen ganz genau. Elyn drehte sich zur Seite und trat gegen Joaks Stuhl.
»Fangen wir gleich an! Ich hab nicht viel Zeit. Man erwartet mich im Sektor 456a, um … ach!« Danton winkte ab. Verbiss sich zu sagen, dass sie das ohnehin nicht verstehen würden.
»Das dort ist eure Tarnung!« Er deutete auf die Päckchen, die seine Männer zu öffnen begannen. »Aber das habt ihr wahrscheinlich schon vermutet, oder?«
Scorbit und Cascal taten ihm den Gefallen und näherten sich neugierig den Kisten. Mehrere blaue Schläuche kamen zum Vorschein.
Cascal griff nach einem Schlauch und hob ihn hoch. Ein Entropenarm baumelte vor seinem Gesicht. »Ein bisschen lang, oder?«
»Das gleichen wir aus!« Einer von Eorthors Assistenten öffnete eine weitere Schachtel und brachte eine elektrische Greifhand zum Vorschein. »Hier!« Er reichte sie Cascal. »Damit füllen wir die fehlenden Zentimeter!«
Joak nahm die Hand entgegen und begutachtete sie. Die Finger waren aus einem leichten Kunststoff und bis über die Hälfte massiv. Im Inneren der Hand gab es eine Art Handschuh. Er stülpte sie über. »Sitzt perfekt.«
Der Assistent nickte. »Diese Verkleidungen sind für je einen von Ihnen angefertigt worden. Sie können sie nicht vertauschen. Hier …!« Er nahm eine weitere künstliche Hand aus einer anderen Schachtel. Man sah den Unterschied auf den ersten Blick. Die Finger der zweiten Hand waren etwas länger und das Verbindungsteil der Prothese deutlich schmaler.
»Das ist auch bei den Beinen und dem Kopf so.« Unterstützt von seinen schweigsamen Kollegen packte er die genannten Teile aus. Er griff sich zwei rechte Beinhüllen und hielt sie Joak hin. »Nehmen Sie!«
»Die eine ist schwerer!« Cascal wog die beiden Teile in den Händen.
»Ja.« Der Assistent nickte glücklich. Er war in seinem Element. »Wir haben fast zehn Zentimeter dicke Einlagen in eines der Kostüme gepackt. Ihr Freund ist für einen Entropen etwas zu klein. Und …«
»Das reicht!« Eorthor war ärgerlich. »Sie müssen nicht wissen, wie das Zeug gebaut wurde. Passt es ihnen endlich an!«
Der Assistent verstummte. Er nahm Cascal eines der Beine aus der Hand und reichte es einem Kollegen.
»Wenn Sie dann …«, der Assistent deutete verlegen in Cascals Richtung.
»Was?« Der Terraner begriff nicht.
»Ausziehen!« Eorthor verdrehte die Augen über so viel Begriffsstutzigkeit.
Beide Terraner starrten Eorthor fassungslos an.
»Ihr könnt unmöglich eure Kleidung unter der künstlichen Haut tragen. Sie ist so konzipiert, dass sie euch wie eine zweite natürliche Haut umgibt. Ihr könnt sogar transpirieren.« Der Alysker hoffte inständig, dass dieser Hinweis die beiden nicht auf eine weitere Besonderheit der Anzüge hinwies.
»Ihr könnt die Verkleidung auch im Nebenraum anlegen«, meinte Danton etwas taktvoller.
»Was ist mit mir?« Elyn sah sich um. »Ich sehe keine Verkleidung für mich.«
»Wozu?« Eorthor gab sich erstaunt. »Du ähnelst ihnen genug. Wir färben dein Haar und verdecken deine Ohren, das wird reichen.«
Der dritte der Männer, die mit den Kisten hereingekommen waren, näherte sich Elyn. Er trug ein paar Kleidungsstücke, wie sie die Lilim bevorzugten, und eine kleine Tasche.
Elyn sah sich den hautengen Dress an. Nicht gerade die Art von Bekleidung, die sie bevorzugte.
»Hiermit verdecken wir die Spitzen an den Ohren.« Die Stimme des jungen Mannes war schrill vor Aufregung. Eorthors Anwesenheit machte ihn sichtlich nervös.
Elyn setzte sich und ließ ihn seine Arbeit tun. Es dauerte nur wenige Minuten, bis eine dünne Latexschicht die Spitzen ihrer Ohren abgerundet hatte.
»Jetzt noch die Haare.« Der Junge öffnete eine flache Dose, die eine rote Paste enthielt.
»Rot?« Skeptisch starrte sie auf die dicke Paste.
»Die einzige Farbe, mit der sich Schwarz vollkommen verdecken lässt.« Eorthor dauerte das zu lange und es störte ihn, dass sie ihn nicht um Erläuterung gebeten hatten.
Das gefiel Elyn. Der Assistent begann, ihre Haare mit der Paste einzureiben und sie dann mit einer Bürste, deren Borsten elektrisch beheizt wurden, zu bürsten. Elyn ließ es geschehen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Männern zu, die sich schon bis zum Bauch in Sekundärentropen verwandelt hatten. Sie kamen aus dem Nebenraum, wo sie einen Teil der Kunsthaut angelegt hatten, um ihren männlichen Bereich nicht der Öffentlichkeit preiszugeben. Die Oberkörper waren nackt. Wie erwartet, hatten sie sich Eorthors Willen gefügt.
Eben wurden ihnen die Handverlängerungen und die Arme übergestülpt. Elyn unterdrückte ein Lachen. Die beiden sahen aus wie Chimären. Scorbit machte ein paar tapsige Gehversuche auf seinen Plateausohlen.
»Umpf!« Remus wankte. »Wie soll das gehen? Ich schwanke wie ein Betrunkener.«
»Stell dir vor, es wären High Heels.« Cascal grinste seinen Partner schadenfroh an.
»Wäre doch eher was für unseren affektierten Franzosen?«, fragte Remus und blickte zu Roi.
»Huh?«, machte der nur.
Aurec blieb die ganze Zeit ruhig. Er kauerte an der Wand mit vor den Bauch verschränkten Armen und beobachtete das ganze Szenario nachdenklich.
»Moment!« Der redselige Assistent griff nach einem kleinen Scanner und zielte damit auf die Sohlen. »Versuchen Sie, normal zu gehen! Nur ein paar Schritte.«
Scorbit tat, wie ihm geheißen. Anfangs wankte er wie nach einer durchzechten Nacht, doch wurde er zunehmend sicherer, bis sein Schritt schließlich fest war.
»Gut!« Der Assistent legte das kleine Gerät zur Seite. »Nun noch der Korpus und der Kopf.«
Ergeben ließen sie sich in die blauen, dick gepolsterten Körperpanzer einhüllen. Dann hoben zwei der Männer die dicken Entropenköpfe aus dem Karton.
»Uh!« Cascal schüttelte sich bei dem Anblick. »Keine Haare und dieser fürchterliche bunte Bart. Kurz und struppig!«
»Du willst doch wohl kaum für weibliche Sekundärentropen attraktiv sein, oder?« Im Gegensatz zu Cascal hatte Scorbit sich ausgiebig mit den wenigen Informationen beschäftigt, die Eorthor ihnen im Vorfeld gegeben hatte.
Die drei Männer stülpten ihnen die Köpfe über. Cascal hustete. Er sagte etwas, war aber nicht zu verstehen. Die drei Männer drückten die Köpfe tiefer. Zu Elyns Entsetzen nahmen sie kleine Gummischläger und begannen damit, auf die Gesichter einzuhämmern.
»Aua!« Cascal schob einen Assistenten von sich. Die Lippen des Entropenkopfes bewegten sich fast synchron zu seinen Worten.
»Sprechprobe!« Eorthor unterband jedes weitere Maulen. »Lest die Sätze ab!« Er reichte den beiden Terranern je ein Infopad. Gehorsam rezitierten beide die Sätze, während die Assistenten sie mit ihren Scannern umkreisten, bis Worte und Lippenbewegungen absolut synchron waren. Der eingebaute Translator übersetzte das Interkosmo automatisch ins Entropische.
»Perfekt!« Eorthor rieb sich zufrieden die Hände. »Verschließt die Anzüge!«
Zwei der Männer traten hinter die Terraner. Jeder hielt eine Art Bunsenbrenner in der Hand. Das pulsierende grelle Licht der Flamme verstärkte diesen Eindruck noch.
»Was soll das?« Cascal wich einen Schritt zurück.
»Das ist notwendig!« Eorthor wedelte ärgerlich mit der Hand. »Damit werden die Kostüme sicher verschlossen. Wir können schließlich keine Reißverschlüsse benutzen.«
»Und wie legen wir die Dinger dann ab?« Cascal war sein Unbehagen deutlich anzuhören.
»Überhaupt nicht!« Eorthors Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass es über diesen Punkt keine Diskussion gab. »Für die Dauer der Mission seid ihr Entropen! Nicht aus der Haut hinauszukommen wird euch dabei helfen, euch natürlicher zu bewegen, und so lange braucht ihr schließlich nicht, um das Schiff zu durchsuchen.«
Cascal verzog das Gesicht, protestierte aber auch nicht länger.
Zwei von Eorthors Assistenten machten sich daran, die künstliche blaue Haut zu verschweißen. Der Gestank war furchtbar. Elyn beobachtete, wie das Material Blasen warf, um sich dann nahtlos miteinander zu verbinden.
»Fertig!« Der Mann, der ihr die rote Paste ins Haar gerieben hatte, trat einen Schritt zurück.
Elyn nahm den kleinen Handspiegel, den er ihr entgegenhielt. Ein fremdes Gesicht starrte ihr aus dem Glas entgegen. Unwillkürlich strich sie sich mit der Hand durchs Haar. Ihr linkes Ohr wurde sichtbar. Die schön geformte Spitze war nicht mehr zu sehen. Das Ohr war rund, fast wie das eines Terraners. Sie hob die Hand und strich darüber. Es fühlte sich taub an.
»Wie heiße ich?«, fragte sie.
»Livia«, sagte ihr Vater.
Mit Mühe unterdrückte sie ein Kichern.
»Das kann ich mir merken«, gab sie zurück. Der Name passte zur Kleidung, fand sie.
»Gut!« Eorthors Interesse galt den beiden Männern, die als Sekundärentropen vor ihm standen. »Gut. Sehr gut«, fügte er zufrieden hinzu.
Elyn gesellte sich zu den Männern. Auf der Straße hätte selbst sie die beiden nicht erkannt. Sie musterte ihre Partner, um sich Einzelheiten einzuprägen. Auf der SI KITU durfte es keine Verwechselung geben.
»Und wie heißen sie?«, fragte sie.
»Cascal heißt Jokor«, begann einer der Assistenten. »Und Remus …«
»Noch was!«, unterbrach Eorthor mit strenger Stimme. Er hielt einen eiförmigen Gegenstand in der Hand. »Diese Entwicklung hier nenne ich ALSKYP! Es besteht zur Hälfte aus Alysker- und zur anderen Hälfte aus Kybertech-Technologie.«
Zufrieden registrierte er, dass seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten. »Die Alystronik ist auf Entropentechnologie abgestimmt. Sobald ihr im Schiff seid, sucht ihr eine Schnittstelle zum Computernetz, den Rest könnt ihr ALSKYP überlassen. Es wird die Bordsyntronik selbständig hacken und sich an Daten runter laden, was möglich ist.«
Nun bewegte sich Aurec auf Cascal, Scorbit und Elyn zu.
»Ich danke euch, dass ihr diese Mission durchführt. Wir sind unter Zeitdruck. Noch in diesem Monat soll die Expedition zum Riff starten. Seid vorsichtig, bringt uns Informationen über diese seltsamen Entropen und …« Nun lächelte Aurec wieder. Es war das sympathische Lächeln, was ihn immer so warmherzig erscheinen ließ. »Kommt gesund zurück!«
2. Auf der SI KITU
Elyn – die nun den Tarnnamen Livia trug – spürte ihr Herz schneller schlagen. Zusammen mit Jokor – alias Joak Cascal – und Christofer, wie Remus Scorbit jetzt hieß, die sich mittlerweile vollkommen natürlich in ihren Entropenkörpern bewegten, verließ sie den kleinen Gleiter, der sie von der Oberfläche des Planeten auf die SI KITU gebracht hatte. Mehrere Gleiter waren zeitgleich mit ihnen angekommen und das Flugdeck füllte sich zunehmend mit den Mitgliedern der Besatzung. Überwiegend waren es Sekundärentropen. Nur sehr wenige Lilim bewegten sich selbstbewusst zwischen den blauen Körpern. Alle strebten auf ein einziges schmales Schott zu. Davor staute sich die Menge ein wenig.
Livia schloss sich dem Strom an. Es fiel ihr schwer, den Kopf nicht neugierig hin und her zu wenden. Die SI KITU war ein gewaltiges Schiff und vollkommen fremdartig. Gern hätte sie den Hangar näher in Augenschein genommen, aber das war unmöglich, ohne Aufsehen zu erregen.
»Jetzt wird es ernst«, flüsterte Christofer neben ihr. »Gleich werden wir sehen, wie gut dein Vater ist!«
Sie runzelte verärgert die Stirn. Es war leichtsinnig, hier, mitten unter all den Entropen, so zu reden. Ihre Augen folgten seinem Blick. Die Entropen traten einzeln durch das Schott. Jeder von ihnen streckte seinen rechten Arm aus. Eine Sicherheitsüberprüfung! Unwillkürlich fuhren ihre Finger über das Chiparmband an ihrem rechten Handgelenk. Christofer hatte recht gehabt. In wenigen Sekunden entschied sich, wie gut ihre Tarnung war. Langsam schritt sie weiter und beobachtete die Menge vor sich.
Direkt vor ihr lief eine andere Lilim. Die Sekundärentropen wichen zurück und ließen sie passieren. Auch für Livia schoben sich die großen blauen Körper zur Seite. Ihr blieb keine Wahl, als direkt hinter der anderen Lilim herzugehen. Sich nach Christofer und Jokor umzudrehen wäre aufgefallen. Die beiden mussten sehen, wie sie den Anschluss hielten.
Die hochgewachsene Lilim schob im Vorbeigehen ihren Arm unter einen blau leuchtenden Lichtstrahl. Das Licht änderte seine Farbe zu Rot, und sie verschwand im Inneren der SI KITU. Nun war die Reihe an ihr. Langsam und nach außen ebenso selbstbewusst wie die Lilim trat sie vor das Schott und schob ihren Arm in den Lichtstrahl. Das Licht pulsierte blau. Sie war gezwungen stehenzubleiben. Funktionierte das Armband nicht? Sie hielt den Blick nach vorn gerichtet. Zwang ihren Atem zur Ruhe. Noch schien niemandem etwas aufzufallen.
Das Licht zuckte, blinkte und wurde rot. Livia zog ihren Arm zurück und passierte das Schott. Hoffentlich hatten ihre Begleiter das gleiche Glück! Auf jeden Fall konnte sie nichts für sie tun, wenn sie die Kontrolle nicht problemlos passierten. Eorthors Anweisungen waren in diesem Punkt eindeutig gewesen. Wessen Tarnung auffiel, egal ob durch eigene Schuld oder wegen eines Zufalls, der war sich selbst überlassen. Priorität hatte die Mission. Sie verzog zynisch den Mund. Das Leben von anderen hatte ihrem Vater noch nie viel bedeutet.
Sie blieb stehen und wandte sich um, wie jemand, dem gerade etwas eingefallen war. Von hier aus konnte sie den Strom der Ankömmlinge beobachten. Christofer passierte eben die Schleuse. Jokor war von ihm getrennt worden. Er hing ein Stück zurück und ließ eben einer Lilim den Vortritt.
Christofer schloss zu ihr auf. Gemeinsam warteten sie auf Jokor, der es nicht lassen konnte, der Lilim, die sich in die entgegengesetzte Richtung entfernte, nachzublicken.
»Wenn er jetzt auch noch pfeift, erschieß ich ihn!« Seine Stimme drückte dieselbe Anspannung aus, die auch Livia empfand. Jokor schlenderte unbekümmert auf sie zu. Er schwenkte seine langen Entropenarme. Abrupt wandte Livia sich um und ging weiter. Christofer blieb an ihrer Seite. Etwas schien den Terraner zu beschäftigen. »Ist was nicht in Ordnung?« Wieder spürte sie, wie ihr Puls sich beschleunigte.
»Die Kontrolle«, Remus wiegte bedächtig seinen eiförmigen Entropenkopf, »sie ist …«, er suchte nach den passenden Worten, »primitiv! Ich meine, mit ihrer Technik müsste es den Entropen eigentlich möglich sein, die Armbänder überall auf dem Schiff zu scannen und zu überwachen.«
Livias Herz machte einen Satz. Der Terraner hatte recht. Dass sie die Kontrolle passiert hatten, bedeutete gar nichts. Solange sie auf dem Schiff waren, wurden sie ständig überwacht. Das blaue Licht am Eingang hatte nur einen Sinn: Es sollte Spione nervös machen. Sie schielte auf ihr Armband. Maß es womöglich ihren Puls? Sendete in genau diesem Moment eine Warnung an einen Überwachungsmonitor? Dass hier eine Lilim war, deren Herz laut pochte? Sie sah an seinen Augen, dass ihn die gleichen Gedanken quälten.
»Wir können nur weitermachen!« Entschieden setzte sie ihren Weg fort. Vor einer Wandnische mit einer bunten Markierung am Boden blieb sie stehen. Offensichtlich ein Transmitter, der die Decks miteinander verband.
Jokor beschleunigte seinen Schritt und schloss zu ihnen auf. »Wollt ihr mich loswerden oder warum rennt ihr so?«
»Wir haben einen Auftrag!« Livias Stimme hörte sich in ihren eigenen Ohren nach der ihres Vaters an. Das steigerte ihren Ärger. »Ich will so schnell wie möglich wieder runter von diesem Schiff.«
Selbst als Entrope gelang es Jokor, unverschämt zu grinsen. »Das sollte eigentlich ich sagen, oder Christofer.« Wieder schlenkerte er mit den Armen. »Du kannst dich hier doch ganz entspannt bewegen.«
Wortlos trat sie auf die Markierung und studierte die schwach glimmenden Symbole. Anscheinend waren sie auf der dritten Ebene. »Wartet hier!« Sie betätigte eines der Symbole. Für einen kurzen Augenblick verschwammen die Männer vor ihren Augen, dann waren sie ganz weg. Elyn blickte in einen Gang hinaus. An dessen Ende gab es eine breite geöffnete Tür. Lärm drang daraus und das unverkennbare Klappern von Geschirr. Die Kantine! Erneut berührte sie eines der Symbole. Wieder das Flimmern. Diesmal blickte sie auf ein Frachtdeck. Sie nickte. Das war gut. Auf einem Frachtdeck fanden sie am ehesten einen Ort, um das ALSKYP unauffällig mit der Bordsyntronik zu verbinden. Sie aktivierte ihren Kommunikator und beschrieb den wartenden Männern das richtige Symbol.
3. Unter den Lilim
Vor Jokor glitt das Schott zur Seite. Eine kleine Lagerhalle offenbarte sich ihm. Christofer und Livia blickten an ihm vorbei.
»Perfekt, meint ihr nicht?«
Jokors aufgesetzte Heiterkeit ging Christofer auf die Nerven. »Nicht gerade perfekt, aber ausreichend!«
Sie betraten die Halle und sahen sich um. An den grauen Wänden standen ebenso graue Regale, die gefüllt waren mit – natürlich grauen Kisten und Containern unterschiedlicher Größe. Einzige Farbvielfalt boten leuchtende LED-Lichter. Rot leuchtende Kisten standen zusammen, so auch blaue Kisten und so weiter. Die Sortierung war simpel.
»Na, hoffen wir mal, dass der Laden hier nicht gut besucht wird«, murmelte Jokor und holte die faustgroße Alystronik hervor. Ein sanfter Druck an Ober- und Unterseite reichte aus, um die Kugel bläulich aufleuchten zu lassen. Sie versteckte sich automatisch bei der Vielzahl an blau leuchtenden Kisten.
»Alle Lilim haben sich in der Zentrale einzufinden!« Die unerwartete Stimme aus dem Lautsprecher ließ die drei erstarren. »Der Rat der Lilim beginnt in einer Viertelstunde!«
Livia zuckte zusammen.
Alle Lilim? Damit war auch sie angesprochen. Doch dort lief sie Gefahr, enttarnt zu werden. Mindestens Constance und Niada musste sie ausweichen. Beide Hexen kannten sie.
»Also dann ab mit dir!«, flüsterte Jokor neben ihr. »Wir werden inzwischen versuchen, eine der Nebenschaltzentralen anzuzapfen.«
Livia nickte angespannt. »Ok. Lasst euch nicht erwischen!« Sie drehte sich um und lief zum Antigravschacht.
*
Die Zentrale war sehr groß und vom Kommandostand in der Mitte gut überschaubar. Livia erkannte Adelheid, umgeben von einigen hohen Offizieren. Hologramme um sie zeigten das Siom-System aus verschiedenen Blickwinkeln. Etwas abseits standen ein paar Dutzend Hexen. Die frischgebackene Lilim entschied, sich unter die anderen Frauen zu mischen. So wurde man am wenigsten auf sie aufmerksam.
»… du, was will die Alte?«, hörte sie eine der Frauen tuscheln.
»Ein Funkspruch aus der Heimat … hörte ich von einem der Sekundärentropen.«
»Und?«
Livia sah Constance etwas weiter vor sich. Sicherheitshalber zog sie sich nach hinten zurück. Da sie sich entfernt hatte, konnte sie nichts mehr verstehen.
Adelheid ließ von den Holos ab und kam nun den Lilim entgegen. Sie sah aus wie eine alte gebrechliche Frau. Nur passten die geschmeidigen Bewegungen nicht, mit denen sie sich fortbewegte.
»Die Männer müssen fort. Sie stören«, gebot die Alte. Die Offiziere zogen sich an den Rand der Zentrale zurück. Die Hexen stellten sich zwischen sie und ihre Herrin.
»Nun denn …!« Adelheid stellte sich in Positur. Gebieterisch hob sie die Hand. »SI KITU! Öffne das Hexenportal«
Die KI des Raumschiffs reagierte. Vor den Lilim erschien ein winziges waberndes Licht. Livia versuchte, sich darauf zu konzentrieren, doch der helle Schein blendete sie zu sehr, als dass sie deutliche Umrisse hätte erkennen können. Die Erscheinung vergrößerte sich schnell. Nebel quoll daraus hervor.
Die Alyske sah die umstehenden Entropen nervös zurückweichen, als hätten sie Angst davor, dem Phänomen zu nahe zu kommen. Die Lilim dagegen maßen dem Vorgang nicht die geringste Bedeutung bei.
Prestige!, vermutete Livia. Die Lilim zogen vor den Entropen eine Show ab, um ihren Einfluss und ihre Macht zu festigen. Deshalb hatten die Männer sich zurückziehen müssen.
Adelheid schritt erhobenen Hauptes durch den wabernden Nebel in das Licht und verschwand darin. Die ersten Hexen setzten sich in Bewegung und folgten ihr. Andere drängten nach. Livia kam an die Reihe. Sie unterdrückte ihre Nervosität und schritt voran. Wo würde die Reise hingehen? Was, wenn das Portal sie als Nicht-Hexe enttarnte? Würde sie dann im Hyperraum materialisieren?
Der Nebel empfing und umhüllte sie. Dann empfand sie einen leichten Schmerz. Kaum wahrnehmbar zog er sich den Nacken entlang. Ein Transmitter, wie sie vermutet hatte!
Der Nebel entließ sie und gab eine steinerne Plattform frei. Bizarre Polstermöbel standen wahllos herum. Adelheid hatte in der Mitte der Ebene Platz genommen. Einige der Lilim unterhielten sich etwas abseits laut lachend. Livia ging langsam zur Seite und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Der steinerne Boden hatte einen sichtbaren Durchmesser von vielleicht dreißig Metern, danach verlor er sich im dichten Nebel. Leise und melancholische Musik drang an ihre Ohren.
Ein lautes Krächzen ließ sie zusammenzucken. Aus dem Nebel erschien ein pechschwarzer Vogel. Elegant glitt er durch die Luft.
Adelheid pfiff. Das Tier änderte seinen Kurs und landete auf der Schulter der Hohen Lilim.
»Nehmt Platz! Die Versammlung ist eröffnet!«
Livia folgte der Anweisung, genau wie die anderen Frauen auch. Sie setzte sich so weit nach hinten wie möglich. Ein Platz, von dem aus sie alles perfekt überblicken konnte. Constance und Niada saßen weiter vorn.
»Wer beginnt? Ich will hören, was sich dort draußen tut. Wie ist die Stimmung unter dem fremden Volk?«, fragte die Alte, während sie den Vogel am Kopf kraulte.
Niemand antwortete.
»Nicht so schüchtern, Kinder! Du da! Anjasia! Was hast du erfahren?«
Eine zierlich gebaute junge Frau erhob sich. Sie hatte weiße Blumen in ihr rotes Haar gebunden. »Ich bin durch die Sonnensysteme von Siom Som gezogen. Auf der Suche nach Wesen, die der Natur treu geblieben sind, ohne all die Technik der Metropolen. Viele verschließen sich dem, was draußen passiert. Sie gehen dem Thema aus dem Weg.«
»Typisch für niedere Wesen«, warf Niada verächtlich ein.
Livia vernahm zustimmendes Murmeln.
Eines der jüngeren Mädchen kam auf die hohe Hexe zu und überreichte dieser einen großen Krug. Adelheid erhob sich schwerfällig. Sie ging auf eine der Lilim zu und ließ sie aus dem Gefäß trinken.
»Trink dies im Namen der Großen Alten!«, sprach die alte Frau rituell.
Die Lilim gab den Krug zurück und murmelte: »Möge ihr Geist mich stärken!«
Elyn nahm sich vor, später etwas über diese »große Alte« herauszufinden.
Adelheid wandte sich an eine andere, etwas ältere Hexe. Erneut folgte das Ritual mit dem Krug.
»Was hast du erlebt, meine Liebe?«
»Ich habe mich an den Märkten umgesehen.«
»Und was hast du zu berichten?«
»Man ist nur auf Reichtum aus. Eines der Wesen wollte mir so ihren Sohn verkaufen.«
Adelheid lachte. »Und, hast du ihn gekauft?«
Die Angesprochene warf stolz ihr rotes Haar nach hinten. »Was sollte ich mit einem Mann machen? Ich habe genug Haustiere, um die ich mich kümmern muss.«
Allgemeines Lachen. Und so ging es weiter. Adelheid schritt die Reihen der Hexen ab, ließ sie trinken und fragte sie nach ihren Erlebnissen. Langsam und unerbittlich näherte sie sich Livia, die verzweifelt versuchte, sich nicht als Elyn zu fühlen.
Ihre Gedanken liefen auf Hochtouren. Was sollte sie erzählen? Eins war klar: So gut wie alle Erzählungen liefen darauf hinaus, dass Männer dumm und sexbesessen waren. Das schien Adelheid hören zu wollen. Warum fiel ihr gerade in diesem Augenblick nichts ein? Nur noch eine Hexe befand sich vor ihr.
»… Geist mich stärken!«
Die Hohe Hexe wandte sich Livia zu. Ihr Blick fixierte sie.
Livia lief es kalt über den Rücken. Durchschaute die alte Lilim ihre Maskerade? Drang sie mit ihrem Geist in ihre Gedanken ein?
Nein, das war nicht möglich! Die Alyske besaß einen sehr starken Mentalblock. Niemand konnte ihre Gedanken lesen. Oder doch? Niemand wusste genau, wie stark die Fähigkeiten einer hohen Lilim waren.
Adelheid reichte ihr den Krug. Vorsichtig nippte Livia daran und rezitierte die entsprechenden Worte.
»Was hast du zu berichten?«
»Ich … Ich habe einige Terraner bei einer offiziellen Feier beobachtet.«
»Wie lautet dein Urteil?«
Livia zögerte kurz. Was erwartete man von ihr?
»Die terranischen Männer sind dumme Sexbestien!«
Adelheid verzog ihr faltiges Gesicht und lächelte. Die anderen Frauen lachten.
Nervös suchten Livias Augen Constance und Niada. Constance tuschelte mit einer jungen kichernden Lilim und Niada starrte emotionslos zu ihr herüber. Kurz trafen sich ihre Blicke. Ob sie die maskierte Elyn erkannte hatte? Nein! Dann hätte sie reagiert.
Adelheid wandte sich der nächsten Lilim zu.
Als sie ihren Rundgang beendet hatte, erhob die alte Lilim das Wort. »Schwestern! Unser Schiff wird in die Heimat zurückkehren. Wichtige Angelegenheiten zwingen mich, den Aufenthalt hier abzubrechen. Noch in diesen Minuten werden wir starten. In wenigen Stunden werden wir den Boden von Entrop-A unter unseren Füßen spüren.«
Die Lilim um Livia brachen in Jubel aus. Der Alyske gefror das Blut in den Adern.
4. Der Flug nach Entropia
Das Schott glitt fast geräuschlos zur Seite. Livia blickte in die Halle mit den Ersatzteilen. Nervös sah sie sich um. Der Gang hinter ihr war leer. Niemand schien ihr gefolgt zu sein.
Fast war es schon zu leicht. Ob das eine Falle war? Hatte Niada sie erkannt? Wollte man sie in Sicherheit wiegen? Sie erst einmal beobachten, damit sie mögliche Komplizen verriet, bevor man zuschlug?
Nein! Niada hätte mit Sicherheit schon beim Hexenrat reagiert und sie enttarnt!
Nach kurzem Zögern verließ sie den Gang und das Schott schloss sich wieder. Absolute Stille empfing sie. Nichts deutete darauf hin, dass ihre Gefährten hier ihren geheimen Unterschlupf gewählt hatten.
Sie folgte dem Weg zwischen unterschiedlichsten Regalen und Maschinen bis fast zum Ende der Halle. Dann bog sie nach links ab. Jeden Augenblick müsste sie die künstlichen Entropenkörper von Jokor und Christofer erblicken. Doch als sie in den Bereich kam, wo sie die beiden verlassen hatte, war da …
Niemand!
Livia fühlte eine Gänsehaut über ihren Rücken wandern. War sie falsch abgebogen? Oder hatte sie den falschen Gang erwischt? Nein, es musste dieser sein! Sie hatte ihn sich genau eingeprägt. Waren Jokor und Christofer aufgescheucht worden und hatten die Flucht ergreifen müssen? Doch wohin mochten sie geflohen sein?
Sie ging zur Seitenwand der Halle. Von diesem unscheinbaren, eingelassenen Schaltpult aus hatte Christofer Zugriff auf den Zentralrechner nehmen wollen. Nichts wies mehr daraufhin. Unschlüssig sah sich die Alyske um. Was sollte sie jetzt tun? Abwarten, bis die zwei mit ihr Kontakt aufnahmen?
»Psst!«
Erschrocken fuhr Livia herum. Doch da war nichts als die Wand mit dem Schaltpult. Hatte sie sich das jetzt eingebildet?
Die Wand, eigentlich fugenlos, bekam nun Ritzen. Ein Teil der Abdeckung schob sich tiefer in die Wand hinein und sank danach nach unten weg. Jokors künstliches Gesicht erschien in dem Loch.
»Willkommen, schöne Frau. Nur herein in die gute Stube!«
Eine Stunde zuvor
Das Kybei schwebte reglos in der Luft bei den blau leuchtenden Containern. Nichts wies auf sonstige Aktivität hin. Jokor machte sich währenddessen am Terminal zu schaffen, fragte belanglose Dinge ab, um nicht aufzufallen.
Christofer lehnte an der Wand und machte sich Sorgen. Sie waren schon viel zu lange auf diesem Schiff. Rein! Daten runter laden! Nach einer Möglichkeit suchen, sich unbemerkt abzusetzen, und verschwinden!
Und was war daraus geworden? Livia – Elyn – traf sich mit den anderen Lilim. Jokor vertrieb sich die Zeit mit unnützem Tippen und das ach so tolle Ei brauchte um einiges länger, als Eorthor vorausgesagt hatte. Mit jeder Sekunde stieg das Risiko, enttarnt zu werden. Warum hatte er sich nur auf das Ganze eingelassen?
»Ich hab es!«, rief Jokor.
»Was?«
»Ein besseres Versteck als dieses hier.«
Besseres Versteck? Was sollte das jetzt? Sie sollten doch eigentlich schon wieder auf dem Weg aus dem Schiff sein?
»Und wo soll das sein?«
Jokor wandte sich zu dem Kybei um.
»ALSKYP! Öffne Wartungsschacht 123,788-4!«
Das Ei zeigte keine Reaktion.
»Ich glaube nicht …«, weiter kam Christofer nicht. Die Wand hinter ihm gab nach. Er verlor mit einem überraschten Aufschrei das Gleichgewicht und landete auf dem Hinterteil.
Jokor amüsierte sich köstlich.
Christofer erhob sich fluchend.
»Und? Was denkst du? Dort drin sind wir vor zufälliger Entdeckung geschützt?«, hakte Jokor nach.
Christofer blickte in den schmalen, rötlich beleuchteten Gang.
»Hm, sieht nicht gerade gemütlich aus«, murmelte er missmutig.
Dann bemerkte er die sanfte Berührung eines Prallfeldes, das ihn zur Seite drückte. Wir sind entdeckt worden. Sie haben uns, dachte er panisch. Eorthors Schöpfung schwebte an ihm vorbei in den Schacht. Das energetische Feld erlosch wieder. Danach drängte sich Jokor an ihm vorbei.
»Also, ALSKYP scheint begeistert zu sein!«
»Wenn wir zurückkommen, werde ich diesem Ei zeigen, was man alles mit einem Stein anfangen kann. Auch Eierschalen knacken!«
»Sag mir Bescheid, wenn es soweit ist. Das will ich sehen.«
*
»Das Schiff nimmt Fahrt auf«, erklang es von ALSKYP. »Eintritt in den Hyperraum in 3 Minuten 47 Sekunden.«
»Verdammt!«, schnarrte Jokor. »Jetzt machen wir eine Reise!«
Christofer verkrampfte sich. Jetzt war es passiert! Sie hatten zu lange gebraucht. Und Elyn – Livia – war immer noch nicht da!
»Und was tun wir jetzt?«, fragte er zögernd.
Jokor zauberte aus einer seiner Seitentaschen einen Konzentratriegel hervor und biss herzhaft davon ab.
Mehr bekam Christofer nicht als Antwort. So saßen sie in diesem schmalen Gang und gingen ihren Gedanken nach.
»Die Alyske Elyn nähert sich unserer Position«, verkündete das ALSKYP.
Christofer sah Jokor eilig die Reste seiner Mahlzeit runter schlucken.
»Jetzt wird sich sicher einiges aufklären.«
Gegenwart
»Ihr werdet es nicht glauben, aber es geht direkt ins Entropia-System«, ließ Livia wissen, nachdem auch sie es sich in dem Wartungsschacht gemütlich gemacht hatte.
»Das bedeutet, wir bekommen mehr Informationen …«, begann Jokor. Er bemühte sich, nicht auf ihre knapp und durchsichtig gekleidete Figur zu starren, und fühlte sich so langsam wirklich wie ein Idiot.
»… und unsere Reise wird dadurch deutlich länger und gefährlicher. Stimmt!«, beendete Livia den Satz.
Jokor schien sich sehr schnell an die aktuelle Lage anzupassen, fand sie. Als würde er Freude daran empfinden, dass es brenzlig wurde. Überhaupt wirkte er deutlich gelöster als die letzten Wochen. Offenbar tat ihm das Abenteuer gut.
Christofer hingegen gab sich wortkarg. Aber auch er würde damit klarkommen müssen. Wie ihr Vater auf der NESJOR wohl jetzt reagierte? Die SI KITU machte sich einfach aus dem Staub. Und mit ihr Eorthors einzige Tochter.
»Was habt ihr inzwischen rausgefunden?«
Jokor tippte auf die Oberfläche des Eies.
»Eine gute Frage! ALSKYP? Was kannst du uns über die entropische Kampfkraft sagen?«
Ein Hologramm erschien vor ihren Augen.
Mehrere Typen von schwarzen, eiförmigen Raumschiffen erschienen, die äußerlich den alten »Schwarzen Schiffen« der Galornen vom Typ KEMPEST glichen.
Ein gesprochener Bericht von ALSKYP folgte:
Die Schiffe haben eine gemischte Besatzung aus Primär- und Sekundärentropen, wobei zumindest immer ein Denker (je nach Größe des Schiffes männlich oder weiblich) die Funktion des Kommandanten einnimmt. Allerdings geht die Befehlsgewalt immer auf eine Lilim über, sobald sie an Bord ist.
Typ A: Länge 2350 Meter, größte Breite 1820 Meter – Trägerschlachtschiff
Typ B: Länge 1650 Meter, größte Breite 1270 Meter – Schlachtschiff
Typ C: Länge 1220 Meter, größte Breite 810 Meter – Schwerer Angriffskreuzer
Typ D: Länge 780 Meter, größte Breite 530 Meter – Leichter Kreuzer
Typ E: Länge 230 Meter, größte Breite 120 Meter – Schwerer Trägerkreuzer
Typ F: Länge 140 Meter, größte Breite 70 Meter – Leichter Trägerkreuzer
Mitgeführte Trägerkreuzer sind im »Basisteil«, dem dicken Ende des eiförmigen Schiffes, in entsprechenden Dockingbuchten energetisch und mechanisch angeflanscht und starten nach vorn.
Eine Besonderheit stellen Expeditionsbasisschiffe dar, die auf der Zelle eines Trägerschlachtschiffes aufgebaut sind, jedoch nur über kleinere Fernaufklärungseinheiten verfügen. Schwerpunkte dieser Klasse sind eine überragende Schutzschirmtechnik und wesentlich leistungsstärkere Triebwerke. Daneben gibt es noch diverse kleinere Einheiten wie Jäger, Landungsfahrzeuge und Erkundungseinheiten.
»Interessant, aber damit punktest du jetzt nicht. Das hätte ich sicher auf einem normalen Infostand auch erfahren. Erzähle mir etwas über das mystische Entropia-System!«
Die Hologramme veränderten sich. Ein Sonnensystem entstand, und unterschiedlichste Himmelskörper wurden herangezoomt.
Das System besteht aus insgesamt 14 Planeten. 8 davon bilden dabei den »inneren Ring«, die alle eine Schwerkraft von 1,2 Gravo besitzen. Diese Planeten verfügen über eine »normale« Stickstoff-Sauerstoff-Atmosphäre. Auf der elliptischen Umlaufbahn sind die Planeten in Form eines Achtecks angeordnet und tragen die Eigennamen Entrop-A bis Entrop-H.
Entrop-A ist ausschließlich den Hexen und den Denkern vorbehalten.
Der »äußere Ring« wird durch die restlichen sechs Planeten gebildet, die sich ebenfalls auf einer konzentrischen Umlaufbahn befinden und ein Sechseck bilden. Bei diesen Planeten handelt es sich ausschließlich um Eiswelten mit einer Stickstoff-Methan-Atmosphäre, deren Schwerkraft bei 3,2 Gravo liegt. Diese Welten bilden durch gewaltige Rohstoffvorkommen die industrielle Basis der entropischen Volksgemeinschaft und tragen die Eigennamen Mol-I bis Mol-VI.
Auf den »äußeren Welten« befinden sich gewaltige Fabrik- und Werftanlagen, die vor allem durch die Primär- und Sekundärentropen gewartet werden.
»Ok, was noch?«, fragte Christofer.
Stille.
Jokor zuckte mit den Schultern und klopfte wieder an die Oberfläche des ALSKYPS.
»Hallo! Jemand zu Hause? Was gibt’s noch zu erzählen?«
Eorthors Schöpfung reagierte nicht mehr.
»Vielleicht ist es beschäftigt?«, mutmaßte Christofer.
»Wir werden es in Ruhe weitersuchen lassen. Inzwischen sehen wir uns im Schiff um und versuchen, etwas über die Besatzung und deren Verhalten untereinander herauszubekommen«, entschied Livia.
»ALSKYP! Versuche alles über die Entropen selbst herauszufinden und sei es noch so unbedeutend! Und natürlich sind auch die Portale von großer Wichtigkeit!«
Wieder reagiert es nicht.
»Na dann!«, sprach Jokor und zeigte zum Ausgang des Schachtes. »Livia! Wenn ich bitten darf? Alter vor Schönheit!«
5. Anjasia
Der Raum war fast verlassen. Vereinzelt saßen weiter hinten einige Entropen. Livia betrachtete die Wand vor sich. ALSKYP hatte diesen Raum als Kantine bezeichnet, und die Tatsache, dass die bereits Anwesenden etwas aßen, unterstrich die Behauptung.
Jetzt musste sie nur noch dahinterkommen, wie das mit der Auswahl und der Bestellung funktionierte. Sie blickte auf vier kleine Hologramme in unterschiedlichen Farben. Doch wie sollte sie reagieren? Funktionierte es per Stimmeneingabe oder durch Berührung?
Sie schmunzelte. Die Tochter des großen Eorthor, eine Unsterbliche, älter als alle hier in diesem Schiff, schaffte es nicht einmal, eine einfache Bestellung aufzugeben. Der neue Name passte vielleicht doch ganz gut zu ihr.
Am besten wäre es, sich etwas zurückzuziehen und zu beobachten. Irgendwann mussten andere kommen. An denen konnte sie sich dann ein Beispiel nehmen.
»Hallo!«, erklang es hinter ihr.
Livia drehte sich überrascht um. Sie war so in Gedanken vertieft gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie nicht mehr allein war. Vor ihr befand sich die junge Lilim mit den Blumen in den roten Haaren.
»Hallo Anjasia!«, grüßte sie zögerlich zurück.
»Na, fällt dir die Entscheidung schwer?«
»Heute besonders, ja. Ich kann mich gar nicht entscheiden. Weißt du was? Bestell du was für mich! Überrasche mich!«
Anjasia schien sie einem Moment zu fixieren. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Hatte sie sich verraten? Dann lächelte die Lilim und kam näher.
»Oh! Es ist mir eine Ehre. Irgendwann muss es ja das erste Mal für mich sein, nicht?«, flüsterte sie sanft in Livias Ohr.
Dabei streiften ihre Finger Livias Unterarme.
Die Alyske erschauerte. Diese Berührung ging ihr durch Mark und Bein.
Es war so … Sie konnte es nicht richtig beschreiben. So … ungewohnt und doch schön.
Der Duft der Lilim umhüllte sie. Nahm Besitz von ihr. Livia drohte, sich darin zu verlieren. Sie wollte sich nur noch Anjasia hingeben.
Doch in ihrem Inneren entstand ein Widerwille. Erst nur ganz schwach. Elyn wollte ihn verdrängen, aber die Vernunft zog sie unbarmherzig aus dem Delirium. Psi-Fähigkeiten! Sie musste sich in Acht nehmen und sich wappnen gegen den Einfluss.
Anjasia griff an ihr vorbei in das blaue Hologramm und murmelte etwas, das Livia nicht verstand. Das Hologramm erweiterte sich und umgab nun die beiden Frauen. Anjasia grinste ihre vermeintliche Eroberung an.
»Du wirst staunen! Das, was ich dir aussuchen werde, wird deinen Gaumen zum Schmelzen bringen.«
Verschiedenste Speisen umgaben die beiden. Anjasia schob eine nach der anderen beiseite. Der Einfluss ließ leicht nach. Livia nutzte die Zeit, um sich ihrer selbst wieder bewusst zu werden.
Was geschah hier? Warum versuchte Anjasia, sie zu verführen?
Die Lilim griff in das Holo nach einer Schüssel, und diese wurde materiell.
Ausgereifte Transmittertechnologie?
»Das hier musst du kosten! Komm mit!«, sprach sie und bewegte sich auf einen der Tische zu.
Elyn folgte zögernd. Ihr Blick fiel auf die beiden als Entropen getarnten Terraner. Diese erhoben sich nun und schritten an ihr vorbei in Richtung Nahrungswand.
»Kennst du die beiden?«, fragte Anjasia plötzlich.
Elyn entschloss sich, zum Teil mit der Wahrheit herauszurücken.
»Du meinst Jokor und Christofer? Ja, warum?«
»Ach, nur so. Du hast sie direkt angesehen«, antwortete Anjasia und bot ihr den Platz vor ihr an.
»So, und jetzt koste! Ich komme gleich wieder.«
Elyn sah auf die Schüssel hinab und suchte nach Besteck. Doch da war nichts dergleichen. Nur die Schüssel gefüllt mit einer rosafarbigen, dampfenden Flüssigkeit.
Sie sah Anjasia nach, die jetzt bei den beiden Terranern stand und sie ansprach. Was sollte das nun wieder? Dann hob sie ihren Arm und ließ ihn über die Schüssel wandern. Eine kleine versteckte Schaltung am Code-Band war schnell aktiviert. Die kleine Syntronik scannte. Gleich würde sie wissen, ob es für Alysken essbar war.
*
Jokor griff kurz entschlossen in das grüne Holo. Es wiederholte sich der Vorgang wie vorhin bei der süßen kleinen Lilim. Sie waren umgeben von unzähligen exotischen Speisen.
»Was hältst du davon? Sieht aus wie gekotzte Spaghetti«, scherzte er.
Christofer schüttelte den Kopf. »Ich nehme diesen Laib Brot, oder was das sein soll. Sicher ist sicher.«
»Feigling! Du musst für alles offen sein!«
Er wollte die Speise eben beiseite schieben, da schälte sich aus den erbrochenen Nudeln das Gesicht der Lilim.
»Hallo!«, sprach sie ihn süß lächelnd an.
»Äh … Hallo!«
»Ihr beide könnt mir einen Gefallen tun.«
»Aber immer doch! Stets bereit«, erwiderte Jokor und ignorierte den drohenden Blick seines Gefährten.
»Ihr habt doch gesehen, dass ich mich eben mit der Lilim unterhalten habe.«
»Livia? Ja, haben wir.«
»Ich will mehr über sie wissen.«
»Warum?«
Die Lilim sah ihn verwirrt an. Dann lachte sie.
»Livia gibt sich mit Entropen ab, die Befehle hinterfragen.«
»Ist das gut oder schlecht?«, mischte sich Christofer nun ein.
»Na, ihr seid mir komisch! Wo hat sie euch beide denn her? Also zurück zum Thema! Du bist Jokor?«
»Nein, Christofer. Er ist Jokor.«
Jokor alias Joak Cascal schmunzelte. Die Hexe war nett. Und so voller Lebensfreude.
»Erzählt mir alles, was ihr von Livia wisst!«
»Warum?«, wiederholte er seine Frage.
»Du gibst nicht auf, wie? Weil ich mich in einem Liltarritual befinde und ich das Herz von Livia erobern will.«
»Du … sie …?«, stammelte Christofer alias Remus Scorbit.
Selbst für Cascal kam dies zu überraschend. Aber er musste reagieren. Liltarritual? Livia erobern … Das versprach, interessant zu werden. Wurde ja auch langsam Zeit, dass die alte Alyske an eine Beziehung kam! Dabei ihr Gesicht zu sehen, das wollte er um nichts im Universum verpassen!
»Aber da helfen wir doch liebend gern. Wir beide kennen Livia schon lange. Was genau willst du über sie wissen?«
Die Lilim spielte scheinbar verträumt mit einer ihrer Locken.
Dann begannen die Fragen.
*
Livia hatte einen Finger in die rosa Soße eingetaucht und davon gekostet. Anjasia hatte nicht zu viel versprochen. Es schmeckte köstlich.
Noch immer stand die Lilim bei den Terranern und unterhielt sich mit ihnen. Worum es wohl ging?
Jokor schaute in ihre Richtung. Der Blick gefiel ihr ganz und gar nicht. War da Schadenfreude zu erkennen? Der Gesichtsausdruck war so typisch für Cascal, dass sie unwillkürlich nervös wurde, ob er sie nicht entlarvte. Konnten Sekundärentropen so viel Selbstbewusstsein haben?
Anjasia kam zum Tisch zurück. Vorsichtig balancierte sie vor sich ein volles Tablett. Mit erwartungsvoll leuchtenden Augen setzte sie es vor Elyn ab. Die Alyske brachte es nicht über sich, die Speisen zurückzuweisen. Tapfer kostete sie eine nach der anderen.
Nach und nach verlor sie ihre Anspannung. Die Speisen schmeckten ausgezeichnet und die Augen der Lilim leuchteten jedes Mal vor Freude, wenn ihr eine weitere davon zusagte. Zum ersten Mal, seit sie an Bord des Schiffes gekommen war, breitete sich in ihrem Körper ein wohliges Gefühl aus. Sie fühlte sich schläfrig und entspannt. Im Augenblick interessierte sie nicht einmal mehr das schadenfrohe Cascal-Grinsen.
Ein kurzer schriller Alarm gellte durch den Raum. Livia fuhr zusammen. Jokor und Christofer waren zu Säulen erstarrt. Niemand sonst im Raum schenkte dem Ton Beachtung.
Anjasia lächelte. »Sekundärentropen!« Sie wandte sich ihrer neuen Freundin zu. »Schau dir deine beiden an! Die lassen sich durch jeden technischen Hokuspokus beeindrucken.«
»Ja!« Livia schluckte und versuchte ein Lächeln. »Albern, nicht?«
Anjasia wandte sich einem der beiden Aussichtsfenster zu, die es nur in der Kantine gab. Filter glitten vor die Kraftfelder, die den Raum vom Vakuum trennten. »Ich finde es eher …«, sie zögerte kurz, »… romantisch!« Unter ihren langen Wimpern beobachtete sie Livia, die unwillkürlich an ihrer dünnen Kleidung zu zupfen begann.
Die Alyske verbarg ihre Unsicherheit über Anjasias Verhalten, indem sie sich der Aussicht zuwandte. Das Universum veränderte sich. Es wurde dunkler. Schien sich zusammenzuziehen, dann waren sie plötzlich in einer Art Röhre oder Tunnel.
Das Tempo des Schiffes änderte sich. Es stoppte fast, kämpfte sich mühsam voran wie durch Sirup, dann gab es einen Ruck. Die SI KITU taumelte vorwärts und setzte die Fahrt in gewohnter Ruhe fort.
Livia hielt den Atem an. Außerhalb des Schiffes hatte sich die Umwelt verändert. Etwas zog sich, wie die Fäden eines langgezogenen Spinnennetzes, am Schiff entlang. Die Materie schillerte in allen möglichen Rot- und Brauntönen. Gedämpfte und sanfte Farben umgaben das Schiff. Fasziniert von dem Schauspiel nickte sie. »Romantisch, ja!«
6. Entropia
Wie betäubt blickte Livia sich um. Sie stand auf dem Raumhafen von Entrop-C. Die SI KITU war nahe dem Transmittergebäude, am Rand des riesigen Feldes gelandet. Beeindruckt musterte sie das endlos scheinende Landefeld.
Ununterbrochen landeten und starteten Schiffe. Plump aussehende Tertiärentropen eilten zwischen den Schiffen hin und her oder bedienten turmhohe Kräne, um die Frachträume zu leeren oder neu zu füllen. Sie blickte nach oben. Irgendwo dort konnte man einen dunkleren Himmel erahnen.
Der Hafen selbst war hell erleuchtet. Sie seufzte. Ihr Blick folgte den beiden Markierungslinien, die Passagiere entweder zu den Transmittern, den wartenden Shuttles oder zum Ausgang des Hafens bringen sollten. Der Ausgang war nicht weit entfernt. Es drängte sie, dieses hektische Treiben hinter sich zu lassen. Sie wollte allein sein. Nachdenken! Und sie hätte gern ihre normale Kleidung zurück. Sie musste überlegen, wie sie diese neue Situation am besten nutzen konnte.
Jemand näherte sich ihr. Anjasia! Die junge Lilim blieb neben Livia stehen. »Begleitest du mich?«
Die Alyske in der Maske einer Hexe wandte sich der jungen Frau zu. Die großen glänzenden Augen blickten sie aufmerksam an. Anjasias betörender Duft hüllte sie ein. Für einem Moment war sie einfach nur Elyn, und ihr Herz schlug schneller bei der Erinnerung an die weiche Haut der jungen Hexe. Ein Teil von ihr wünschte sich, Anjasia zu folgen, das Gefühl von Nähe und Geborgenheit in ihren Armen zu genießen.
Im Geist hörte sie Eorthors zynische Stimme. Obwohl ihr Vater Lichtjahre entfernt war, genügte allein die Erinnerung an seine Kälte, um den Augenblick zu zerstören. Zögernd schüttelte sie den Kopf. »Ich werde noch ein wenig hierbleiben.« Sie sah die Enttäuschung in den Augen der Lilim. »Ich komme bald nach, Anjasia.« Sanft legte sie der jungen Hexe ihre Hand auf den Arm. »Ich muss über ein paar Dinge nachdenken.« Sie schenkte der anderen ein warmes Lächeln.
Anjasias Augen strahlten schon wieder. »Ich warte auf dich!« Die Lilim küsste ihre Fingerspitzen und drückte sie sanft auf Livias Mund. Elegant und mit einer fließenden Bewegung wandte sie sich um und folgte den anderen Frauen zu dem Transmitter, der sie nach Entrop-A bringen würde.
Livia blickte ihr einen Augenblick hinterher. Sie ekelte sich vor dem Teil in ihrem Inneren, der die junge Lilim ausnutzte. Mit einem Ruck wandte sie sich ab. Entschlossen folgte sie der Markierung, die sie zum Ausgang brachte. Sie wollte sich der fremden Stadt zu Fuß nähern.
Schritt für Schritt näherte sie sich dem Portal, das sie in die dunklere Stadt dahinter entlassen würde, und beschleunigte ihre Schritte. Mit einem Mal hatte sie es eilig, dem Landefeld mit seinen hellen Spots und dem hektischen Treiben zu entkommen. Die Tertiärentropen, die als Wachen am Eingang postiert waren, grüßten sie mit Respekt. Sie schenkte ihnen keine Beachtung.
Das hoch aufragende Tor entließ sie in eine parkähnliche Landschaft. Zögernd trat sie ein paar Schritte auf den sorgsam gesäumten Weg hinaus. Ein kleiner Park trennte das Flugfeld von der Stadt. An seinem anderen Ende zeichneten sich die Silhouetten fremdartiger Gebäude deutlich vor einem tief dunklen Himmel ab.
Genießerisch tauchte sie in das Zwielicht der Allee ein, die parallel zur Schnellstrecke für die größeren Fahrzeuge vom Raumhafen direkt zur Stadt führte. Ein warmer Wind strich ihr über die nackten Schultern und spielte mit ihren langen Haaren, während sie langsam vorwärts ging.
Hier fühlte sie sich sicher. Sie genoss das Gefühl von festem Boden unter ihren Füßen, das Geräusch von Wind anstelle des allgegenwärtigen Summens der Maschinen und vor allem die frische Luft. Entspannt legte sie den Kopf in den Nacken. Der Himmel lag wie eine schwarze Samtdecke über dieser Welt. Nur wenige Lichtpunkte wanderten durch die Finsternis.
Mit den Augen folgte sie der langen Reihe der Alleebäume. Die Entropen hatten eine Vorliebe für Mosaikböden. Selbst hier, auf diesem einfachen Weg, zierten Szenen aus dem Leben dieser Wesen den Boden. Im Weitergehen versuchte sie, einzelne Bilder zu erkennen.
Schließlich drangen die Geräusche der Stadt an ihre Ohren. Dann zog sich ihr Magen zusammen. Von hinten hörte sie … Schritte! Jemand folgte ihr! Sie spürte ein Prickeln im Rücken. Nur mühsam widerstand sie dem Impuls, den Kopf zu drehen und über die Schulter zurück zu sehen. Ihre Hand tastete vorsichtig nach dem kleinen Dolch, den sie auf solchen Missionen immer bei sich trug.
»Livia!«
Joak! Wenigsten war das seine Stimme, die ihren Decknamen gerufen hatte. Jokor, verbesserte sie sich in Gedanken. Elyn zog ihre Hand zurück und wandte sich um. Zwei Sekundärentropen kamen mit eiligen Schritten den Weg hinunter. Sie unterdrückte ein Grinsen. Jokor und Christofer! Die beiden hatte sie ganz vergessen.
»Sie benimmt sich schon wie eine echte Hexe.« Jokor schenkte ihr einen vorwurfsvollen Blick.
»Du wirst uns mit deinem Geplapper noch ins Verderben schicken.« Christofer musterte ihre Umgebung misstrauisch. Außer ihnen dreien war niemand hier.
Elyn machte ein hochmütiges Livia-Gesicht. »Ich erlaube euch, mich zu begleiten.« Sie wandte sich auf dem Absatz um. »Natürlich werdet ihr drei Schritte hinter mir gehen! So wie es euch zukommt, Männer!«
Jokor drängte sich unbeeindruckt an ihre Seite. »Gewöhne dich nur nicht zu sehr daran, Elyn!«
Der maskierte Terraner fühlte sich sichtlich unwohl. Für ihn musste dieser Ort die Hölle sein, war er doch umgeben von den Lilim, von denen die meisten mehr als attraktiv aussahen und dies in ihrer knappen, durchsichtigen Kleidung auch deutlich zeigten. Wahrscheinlich schwitzte er unter seiner blauen Kunsthaut Blut und Wasser. Livia unterdrückte ein Schmunzeln.
»Jokor!« Christofers Stimme verriet Ärger. Er musste seinen Tadel nicht aussprechen.
Livia gab ihm recht. Ihre Situation war heikel genug, ohne dass sie ihre wirklichen Namen benutzten oder wie Teenager herumalberten. Sie mussten jedes unnötige Risiko vermeiden.
Schweigend legten sie die letzten Meter zu den erleuchteten Häuserreihen zurück. Eine Brücke, die sich über ein träge dahinfließendes Wasser spannte, markierte eine natürliche Grenze zur Stadt. Livia blieb auf der Brücke stehen und blickte in das dunkle Wasser hinunter. Es gab so gut wie keine Strömung. Sie musterte die flache Uferböschung.
Christofer, der neben ihr stand, deutete zum Raumhafen zurück. »Der Hafen liegt auf einer künstlichen Insel.«
Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Er hatte recht. Hafen und Park schwammen auf einer künstlich angelegten Fläche auf einem See. Wie tief mochte das Wasser sein? Auf jeden Fall stellte die Anlage eine beeindruckende architektonische Leistung dar.
Livias Blick wanderte zurück zum Hafen. Ihre Blicke tasteten den Weg ab, den sie gekommen waren, wanderten den Rand des künstlich gesäumten Ufers ab. Die flache Böschung bildete keine gerade Linie, wie sie zunächst gedacht hatte. Sie schwang sich in beide Richtungen in einem sanften Bogen.
Die Brücke hinter sich lassend, lief sie ein paar Meter weiter, bis sie die erste Häuserzeile erreichte. Dort wandte sie sich erneut um und musterte die künstliche Insel. An beiden Seiten folgten die Häuser dem Ufer. Die Stadt wand sich um den Raumhafen herum.
Livias Blick kehrte von den erhellten Lichtpunkten zum ruhigen Wasser zurück. Ein einsamer Stern spiegelte sich einen Moment lang in der glatten Oberfläche. Sie hob den Kopf. Ein weiterer Stern kreuzte ihren Blick. Dann noch einer, der sich in die entgegengesetzte Richtung bewegte.
Sie stutzte. Etwas an diesem Himmel stimmte nicht! Das hatte sie schon vorhin empfunden, als sie ihn das erste Mal musterte. Natürlich war es hier zwischen Raumhafen und Stadt viel zu hell, um wirklich Sterne sehen zu können. Aber wenn sich schon welche gegen das künstliche Licht durchsetzten, dann sollten sie sich nicht mit dieser Geschwindigkeit bewegen.
»Was ist?« Christofer beugte sich ein wenig vor, um ihr Gesicht besser sehen zu können.
»Der Himmel!« Sie wandte den Kopf, musterte das dunkle Gewölbe. Es hatte nichts von der Tiefe eines Nachthimmels. Jetzt, wo sie genauer hinsah, wirkte er fleckig. Beinahe so, als ob man durch ein Kaleidoskop blickte, in dem es nur schwarze und graue Plättchen gab. Mit einem Mal hatte der Himmel etwas Bedrohliches.
Christofer, der neben ihr stand, schien ähnlich zu empfinden. »Sieht eigenartig aus!«
»Wie ein schlechtes Gemälde.« Jokor zog die Schultern hoch.
»Eine Raumblase!« Livia biss sich auf die Lippen. Natürlich! Entropia lag im Inneren einer Raumblase. Hier gab es keine Sterne. Der Himmel würde ewig schwarz bleiben, auch wenn es kein störendes Kunstlicht gab. Das, was sie zuvor für Sterne gehalten hatte, waren Satelliten oder Schiffe.
»Mann sind wir blöd!« Der Ärger in Jokors Stimme war nicht gespielt. Er hasste es, wenn ihm offensichtliche Tatsachen entgingen. »Eine Raumblase, die mit dem Normalraum verbunden ist.«
»Ja!« Christofer nickte düster. »Ein Portal, durch welches die SI KITU das Entropia-System erreichte.«
»Damit ist eine wichtige Aufgabe klar.« Livia musterte ihre Begleiter. »Wir müssen herausfinden, ob es weitere Ankerpunkte gibt.«
»Außerdem sollten wir klären, wo wir was zu essen finden.« Jokor blickte sehnsüchtig zur Stadt. Fehler ärgerten ihn, aber er hielt sich nie lange mit Selbstvorwürfen auf. Seine Sinne richteten sich schnell wieder auf die Gegenwart und ihre Notwendigkeiten.
»Ja!« Livia nickte und setzte sich langsam in Bewegung. Weiter vorn verschwand der ruhige Weg zwischen den ersten Häusern. »Was anderes! Ich glaube nicht, dass es für eine Lilim üblich ist, sich mit Sekundärentropen herumzutreiben.«
»Ich kann dir ja etwas hinterhertragen. Hutschachteln vielleicht?«
Livia warf Jokor einen halb amüsierten, halb ärgerlichen Blick zu. Die Situation war zu ernst, um auf dummen Klischees herumzureiten.
»El… Livia kann besser auf sich aufpassen als du!« Der Blick, mit dem Christofer seinen Partner bedachte, zeigte deutlich, dass er vom Gesagten überzeugt war. »Und sie hat keine Hutschachteln.«
»Schluss!« Manchmal fiel es Elyn schwer, Terraner zu verstehen. In dieser Hinsicht fiel es ihr immer leichter, sich in ihrer neuen Identität wohlzufühlen. Christofer und Jokor arbeiteten als Team perfekt zusammen, aber wenn man ihnen zuhörte, entstand oft der Eindruck, dass sie sich nicht leiden konnten und dass sie unreif und dumm waren. Vielleicht verbarg sich dahinter aber auch nur eine Methode, wie die beiden mit ihrer Angst umgingen.
Ein Teil von ihr bedauerte, dass sie nicht die Zeit hatte, die beiden Männer genauer zu studieren. »Wir teilen uns auf! Remus und ich kümmern uns um ein Quartier, das wir ein paar Tage als Basis benutzen können. Jokor! Du schaust dich in der Stadt um! Versuch etwas über die Infrastruktur in Erfahrung zu bringen.«
»Kein Problem, Ma’m! Und … er heißt Christofer. Wichtig!«
»Und …«
»Ja?«
»Halt dich von Frauen fern!«
Jokor räusperte. »Ich würde doch nie …«
Der Rest ging im Summen des Empfangsgeräts unter, das man ihr auf dem Schiff gegeben hatte. Für Notfälle! Was immer das zu bedeuten hatte.
»Livia?«
Das war Anjasias Stimme. Livias Herz schlug schneller.
»Wenn du möchtest, bleibe ich für eine Nacht hier!«
Livias Gedanken überschlugen sich. Die Vorstellung, dass Anjasia ihretwegen ihre Pläne änderte, gefiel ihr. Ganz zu schweigen von der Aussicht, einen Abend mit der Lilim zu verbringen. War sie je Elyn gewesen? Ach was!
»Halt dich von den Frauen fern!«, murmelte Jokor fast unhörbar.
Livia überhörte es. »Das wäre wunderbar!«
»Wo bist du?«
»Ich bin durch den Park gelaufen und instruiere gerade meine Begleiter.« Sie ignorierte Jokors empörten Blick.
»Die beiden Entropen?« Anjasia lachte übermütig. »Prima, die können unser Gepäck tragen. Dann muss ich den hier nicht die ganze Strecke bezahlen.«
»Da bekommst du deine Hutschachtel!« Das Grinsen auf Christofers Gesicht erlosch sofort wieder. »Anjasia kann uns hier sehr nützlich sein. Es dürfte Elyn – Livia – nicht schwerfallen, weitere Informationen aus ihr herauszuholen. Da ist allerdings noch ein dringendes Problem, mit dem wir uns beschäftigen müssen.«
Seine beiden Begleiter blickten ihn an, ohne zu verstehen.
»ALSKYP!« Mehr brauchte er nicht zu sagen.
»Noch immer keine Reaktion?«, erkundigte sich die Alyske.
Jokor schüttelte den Kopf.
»Ich werde es bei mir lassen und darauf achten. Wenn sich was tut, sage ich es euch.«
»Aber pass darauf auf! Nicht auszudenken, wenn das den Lilim in die Hände fällt.« Livia schüttelte sich.
»Das wäre nicht so gut!« In einem Reflex legte Jokor eine Hand auf die Tasche, die ihren Schatz verbarg.
»Vielleicht sollten wir …« Livia unterbrach sich. Anjasia erschien auf dem Weg. Ein vollbeladener Tertiärentrope folgte ihr. Sie musste der Gruppe gefolgt sein. Wie leicht hätten sie sich verraten können!
*
Anjasia dachte an Livia. Sie wanderte unruhig in ihrem Hotelzimmer umher. Sollte sie es wagen? Oder ging sie zu schnell vor? War es nicht noch zu früh? Besser, sie ließ Livia erst mal etwas in Ruhe. Nicht, dass sie am Ende dachte, sie klebe zu stark.
Anjasia warf einen Blick zur Tür. Sie könnte vielleicht unter einem Vorwand bei Livia vorbeischauen. Ach verdammt! Bei Männern war das so einfach. Da hatte sie noch jeden mit ihren Fähigkeiten erobert.
Aber eine andere Lilim? Das war etwas ganz Neues für sie. Aber da musste sie nun durch. Diese Frau berührte etwas in ihr, das neu war. Ihre … ja, es bedeutete ihr etwas, was sie von ihr dachte. Und sie wollte sie kennenlernen, auch wenn sie sich dadurch verletzlich fühlte. Das konnte sie nicht verleugnen. Und es brachte nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Sie gab sich einen Ruck und verließ ihr Hotelzimmer. Livias Raum befand sich am anderen Ende des Flures. Wenn ihre Auserwählte vor ihr stand, dann würde ihr schon etwas einfallen. Kurz zögerte sie. Dann klopfte sie leise. Niemand reagierte. Schlief Livia schon? Würde sie böse sein, wenn sie sie jetzt weckte? Besser sie beließ es bei dem einen Versuch. Vielleicht sollte sie etwas spazieren gehen, um auf andere Gedanken zu kommen.
Seufzend wandte sie sich um und ging zum Ausgang. An der Rezeption hielt sie an.
»Ich möchte eine Nachricht hinterlassen – für die Lilim Livia, sollte sie das Hotel verlassen und ich noch nicht zurück sein.«
Der Sekundärentrope lächelte entschuldigend. »Es tut mir leid, Edle Herrin, aber sie hat das Hotel bereits wieder verlassen.«
»Was? Wann?«
»Vor etwa zehn Minuten. Sie war in Begleitung eines Entropen.«
Nein! Sie hatte sich zu lange Zeit gelassen! Jetzt war ihre Angebetete fort! Anjasia wandte sich ab und ließ den Angestellten stehen. Sie griff nach ihrem Empfangsgerät und rief nach Livia. Keine Antwort.
Sie kehrte noch einmal um und bat den Entropen, sie zu benachrichtigen, sobald Livia zurückkehrte.
Dann brach sie zu ihrem Spaziergang auf.
*
Dieser Körper war eine Wucht. Wie beweglich sie war! Jokor hätte der grazilen Lilim ewig zusehen können. Wie sich diese Frau von Gerät zu Gerät schwang! Elegant agil. Seine Augen glänzten.
Seit zwei Tagen erkundete er die nähere Umgebung der Hauptstadt auf Entrop-C. Er war durch Industriegebiete und Wohnviertel gezogen, bevor er auf diese gläserne Trainingshalle inmitten eines großangelegten Parks gestoßen war. Eine einzelne Frau war durch die Scheiben zu erkennen. Sie bewegte sich geschickt durch eine Art Parcours. Für ihn war es eine wahre Freude, sich das anzusehen.
Nachdenklich blickte er sich um und entdeckte einen großen offenen Eingang weiter links. Offen hieß, öffentlich zugänglich. Also auch für ihn. Er betrat die gläserne Kuppel. Alles was er sah, erinnerte ihn entfernt an ein Fitnessstudio für Terraner. Bei einigen Geräten erahnte Jokor ihre Funktion, andere gaben ihm Rätsel auf.
Er riss sich davon los und konzentrierte sich wieder auf die Schönheit, welche sich auf dem äußeren Laufring entlang an der Innenseite der Halle abplagte. An einer Seitenwand gelehnt genoss er die Vorstellung.
Nach etwa einer Viertelstunde nahm die Hexe erschöpft am Boden Platz.
Jokor erspähte einen Getränkespender. Es war der gleiche Automat wie in der Kantine. Er füllte einen Becher und schritt auf die Schönheit zu. »Hier, für so eine hervorragende Darbietung hat man eine kleine Erfrischung verdient«, munterte er sie auf.
Die Frau blickte kurz hoch. Konnte er Erstaunen in ihren Augen erkennen? Wenn er nur nicht in diesem blöden Entropenkörper steckte! Dann könnte er seinen wahren Charme ausspielen.
»Danke«, antwortete sie mit süßer Stimme und nahm ihm den Becher ab.
Jokor setzte sich neben sie. »So wie das eben aussah, trainierst du öfters hier?«
Die Frau schlürfte an dem Getränk. »Wenn es die Zeit zulässt, schon. Was treibt dich hierher?«
»Ach, ich kam gerade zufällig vorbei.«
Sie erhob sich. »Ach so. Na dann, ich muss weiter!«
»Hey, warte! Ich würde gern mehr von dir erfahren. Wir könnten uns doch mal zu einem Drink treffen!«
Die Frau beugte sich zu ihm hinab. Er konnte den Duft ihrer Haare riechen. Exotisch und doch erinnerte es Jokor an Rosen.
»Sag bloß, du interessierst dich für mich?«
»Wie könnte ich bei so einer Schönheit nein sagen? Man sollte allein schon deinen Duft einfangen und als das teuerste Parfüm der Galaxis verkaufen.«
Sie richtete sich wieder auf und lachte. Welch zauberhaftes Lächeln sie hatte. Vielleicht würde er sie eines Tages in seiner wahren Gestalt aufsuchen. Gegen eine Liebschaft mit so einem Geschöpf war nichts einzuwenden.
Unvermittelt trat die Lilim zu.
*
Wir könnten uns doch mal zu einem Getränk treffen.
Ryla war verwirrt.
Natürlich kam es immer wieder vor, dass junge Entropen übermütig wurden und versuchten, die Gunst einer Hexe zu gewinnen. Aber so frech und geradeheraus? Sie drehte sich um und beugte sich zu ihm hinab.
»Sag bloß, du interessierst dich für mich?«
Wie könnte ich bei so einer Schönheit nein sagen? Man sollte allein schon deinen Duft einfangen und als das teuerste Parfüm der Galaxis verkaufen.
Diese Antwort war so überraschend, dass sie darüber lachen musste. Auch Ryla konnte ihr KOL deutlich riechen. Sie verströmte es bewusst, um den Entropen von sich abzustoßen. Wieso wirkte es bei dem hier nicht? Es schien ihm im Gegenteil zu gefallen. Das war kaum vorstellbar. Sie sandte neugierig ihre telepathischen Sinne aus.
Da war nichts. Oder doch? Eine Art Wand, eine Blockade, gegen die ihre Sinne anrannten, ohne hindurchzudringen. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Das war gar kein Sekundärentrope! Das war etwas anderes.
Sie musste schnell handeln!
*
Cascals Reflexe erwachte in Sekundenbruchteilen. Er wich zur Seite aus. Dennoch streifte ihn der Stiefel seiner Kontrahentin im Gesicht. Er fühlte, wie die künstliche Gesichtshaut riss. Er war enttarnt. Wieso hatte die Lilim ihn überhaupt angegriffen? Womit hatte er sich verraten? Innerlich fluchend konnte er jetzt nur eines tun: Schadensbegrenzung! Die Hexe musste zum Schweigen gebracht werden.
Mit dem Fuß verhakte er sich in ihrem Standbein und brachte sie zu Fall. Dann sprang er hoch und setzte ihr nach. Gewandt wich sie zur Seite aus. Doch er war schneller! Bevor er zuschlug, dachte er noch kurz: Schade um das schöne Gesicht.
Die Hexe sackte bewusstlos zusammen. Blut rann aus ihrer Nase.
Cascal sah sich um. Dank der Glaswände konnte man die Parklandschaft gut überblicken. Nirgends war ein Zeuge zu sehen.
Jetzt musste er erst einmal die bewusstlose Hexe und sich selbst außer Sichtweite bringen. Er musste nachdenken, überlegen, was er mit ihr machen sollte und nachsehen, wie hoch die Schäden an seinem Gesicht waren, um wieder Jokor zu werden. Weiter hinten sah er Räume ohne Glaswände. Umkleidekabinen? Sanft hob er die bewegungslose Frau hoch und trug sie hinüber. Seufzend bereitete er sich auf die kommende Diskussion mit Livia vor. Oh, sie würde ihm die Hölle heiß machen!
Ein Krächzen ließ ihn innehalten. Eine schwarze Krähe saß auf einem der Trainingsgeräte und starrte ihn mit ihren kalten Augen an.
Nur ein Vogel. Keine Gefahr! Hoffentlich! Weiter.
»Was ist passiert?« Die Stimme einer weiteren Lilim erklang vom Eingang her.
Langsam wandte er sich um. Innerlich ging er alle Möglichkeiten durch, die er jetzt noch hatte. Ausgerechnet Anjasia stand dort.
Sie kam auf ihn zu. »Ryla! Was ist geschehen?«
»Äh … Ich fand sie hier auf dem Boden liegend«, log Jokor und legte die Bewusstlose wieder ab. Verzweifelt bemühte er sich, die zerstörte Hälfte seines Gesichtes von der Hexe abgewandt zu halten.
Anjasia beugte sich besorgt zu Ryla hinunter.
Der Terraner holte aus, um auch Anjasia ins Land der Träume zu schicken.
Erneut krächzte die Krähe. Eine unsichtbare Kraft packte den Mann und riss ihn nach hinten. Er krachte gegen die Glaswand. Die Krähe landete elegant zwischen ihm und den zwei Frauen.
Anjasia starrte ihn sichtlich verwirrt an.
Vielleicht konnte er sich noch herausreden. »Ich …« Weiter kam er nicht. Es wurde finster um ihn herum.
*
Anjasia war fassungslos. Zuerst fand sie Ryla bewusstlos und blutend vor, und dann griff eine der Schutzkrähen den netten Entropen Jokor an und paralysierte ihn! Sie ließ von ihrer Gefährtin ab und beugte sich zu Jokor hinunter.
Die Schutzkrähe ließ sie gewähren.
Der Entrope blutete im Gesicht. Es war regelrecht aufgerissen. Verwirrt hielt Anjasia inne. Diese Verletzung konnte nicht vom Angriff der Krähe stammen.
Geräusche am Eingang lenkten sie ab. Mehrere Gleiter landeten draußen. Ein Trupp bewaffneter Entropen stürmte herein und sicherte die Umgebung ab. Ein höherer Offizier näherte sich ihr respektvoll, während sich andere um Ryla kümmerten.
»Edle Herrin? Seid Ihr in Ordnung?«
Die junge Hexe nickte immer noch verwirrt.
Der Entrope zeigte auf Jokor. »Darf ich?«
Anjasia nickte und wich zur Seite. Sie fühlte sich für Jokor verantwortlich, aber Entropen konnten einem verletzten Artgenossen sicher viel besser helfen.
»Die Schutzkrähe hat Jokor attackiert«, murmelte sie.
»Deswegen sind wir hier, Herrin. Die Schutzkrähe hatte über Funk gemeldet, dass der Entrope die edle Ryla angegriffen hat. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um euch zu retten.«
Retten? Sie? Nein, das konnte nicht sein! Jokor hätte ihr sicher nichts angetan!
Der Offizier beugte sich nur kurz über Jokor, dann fluchte er. Aufgebracht sprach er über Funk mit der Zentrale. »System-Alarm! Wir haben einen Eindringling!«
Anjasia wandte sich um und starrte auf Jokers Gesicht. Der Offizier hatte einen Teil davon runter gerissen. Dahinter war eine zweite Haut zu erkennen. Das war kein Entrope. Aber was war er dann?
7. ALSKYP
Als Cascal zu Boden ging, aktivierte ALSKYP den Deflektor. Der Paralysebeschuss hatte den Plasmaanteil in Mitleidenschaft gezogen. Die Syntronik rief daraufhin ein Notprogramm ab, deren Hauptaufgabe die Flucht war.
Taststrahlen trafen auf das ALSKYP, während es sich, unsichtbar fürs Auge, vom Terraner löste und davonschwebte. ALSKYP sendete eine Kontaktanfrage an die Quelle. Ein entropischer Roboter in der Gestalt eines schwarzen Vogels nahm an. Eorthors Schöpfung schickte einen alyskischen Virus, der extra auf entropische Syntroniken abgestimmt war. Dieser bewirkte die sofortige Formatierung aller Speicher. Mit jedem Datenaustausch verbreitete es sich weiter. ALSKYP erhob sich in luftige Höhe und ortete passiv.
In etwa drei Kilometern südlich maß es starke Energieströme an. Die Impulse waren verwirrend. Die KI entschied sich mit einer Verzögerung von zwei tausendstel Sekunden, sie anzufliegen. Routinen liefen ab: Kontakt zum Plasmaanteil immer noch negativ / Notprogramm aktiv / Flucht hat Priorität Eins.
*
Ryla war wieder bei Bewusstsein. Sie berichtete Anjasia und der Schutztruppe, was vorgefallen war. Wie der Terraner sich verraten hatte, als das KOL ihn nicht störte, wie er es sogar als angenehm empfunden hatte. Und mit welch miesen Tricks er sie ausgeschaltet hatte, nachdem sie ihn bereits besiegt und zu Boden geworfen hatte. Dabei war auch seine Maske zerstört worden. Der Offizier der Schutztruppe schüttelte empört den Kopf, als die junge Hexe schilderte, wie Cascal erst um Gnade gebettelt und sich unterworfen hatte und dann hinterhältig über sie hergefallen war.
»Entsetzlich, edle Ryla!« Sein großer Kopf wackelte bekümmert. »Welch ein Glück, dass die edle Anjasia und die Schutzkrähe zur Stelle waren.«
»Und dass du so schnell reagiert hast!« Ryla musterte den Entropen hochmütig. »Ich werde das deinem Vorgesetzten gegenüber lobend erwähnen, und auch die edle Adelheid soll es erfahren.«
Die Augen des blauen Wesens, das sie um mehr als zwei Haupteslängen überragte, glänzten glücklich.
Ryla winkte ihrer Freundin zu. »Anjasia? Begleitest du mich?«
»Natürlich!«
Die junge Lilim kam an ihre Seite und schob stützend einen Arm unter ihren Ellbogen. Ryla ließ es geschehen.
Anjasia stieß einen schnalzenden Laut aus, während sie auf den Ausgang zugingen. Die Schutzkrähe rührte sich nicht. Die Lilim blieb stehen, streckte ihren Arm aus und schnalzte noch einmal. Wieder rührte sich die Krähe nicht. Sie ging die wenigen Meter zum hochentwickelten Roboter zurück, der kaum von einer echten Krähe zu unterscheiden war. Das Tier reagierte nicht. Es stand einfach steif da. Anjasia beugte sich hinunter. Noch immer nichts. Der Roboter reagierte nicht. Nicht einmal die Kameraaugen zeigten eine Reaktion.
»Was ist damit?« Ryla trat neben sie. Der Offizier hielt weiterhin respektvoll Abstand.
»Sie reagiert nicht.«
Ryla beugte sich über die Krähe. Ihre Hand suchte nach dem Resetknopf unter dem Schnabel. Es summte leise, dann kam wieder Leben in den Vogel. Die Flügel schlugen und die Augen rotierten in ihren Höhlen. Aufmerksam starrte das Tier seine beiden Herrinnen an. Ryla ließ sich von dem Offizier ein Diagnosegerät geben und betätigte ein paar Knöpfe. »Datensalat!« Sie schaltete den Vogel wieder ab und übergab ihn dem Offizier. »Bring ihn zur Reparatur!«
8. Aufgeflogen
Die Stadt war unglaublich – fremd und doch auf eine bestimmte Art auch vertraut. Livia hatte Stunden damit verbracht, zwischen den Häusern herumzuwandern, sich die Gebäude, Parks und Geschäfte angesehen. Sogar eine Entsprechung zu einer Bibliothek hatte sie gefunden. Sie hatte sie sich zusammen mit Anjasia angeschaut. Gestern war sie gemeinsam mit der jungen Lilim den ganzen Tag unterwegs gewesen: ein Glücksfall.
Anjasia hatte erzählt, dass sie einer kleinen, aber wachsenden Gruppe von Lilim angehöre, die das arrogante und überhebliche Gebaren vieler Hexen offensiv ablehnen. Sie würden sich für die Gleichheit aller Entropen einsetzen, ohne die individuellen Fähigkeiten der Einzelnen zu ignorieren.
Auch die Beziehungen zu den Verbündeten könnten von weniger Misstrauen geprägt sein.
Heute Morgen hatte sich Anjasia nicht gemeldet, und jetzt, wo sie allein war, fühlte sich das gut an. Die junge Lilim war so lebendig und verstand es, düstere Gedanken zu vertreiben, da fiel das Lügen besonders schwer. Unwillkürlich griff Livias Hand nach dem Kommunikator. Die kleine Tasche war leer. Sie musste das Gerät im Hotel gelassen haben. Ärgerlich schob sie den Gedanken beiseite. Christofer blickte so teilnahmslos drein, wie es sich für einen Sekundärentropen gehörte.
»Wo bleibt Jokor?«, murmelte die Alyske. Der Terraner war kein Anfänger! Er sollte wissen, dass er eine Nachricht senden musste, wenn er sich verspätete. Hoffentlich war nichts passiert.
Livia ließ ihre Augen über den Platz wandern, den sie als Treffpunkt bestimmt hatten. Vor einigen Tagen war er ihr gut geeignet erschienen. Es war kein wirklicher Park, nur ein paar Pflanzen in Kübeln und dazwischen Geschäfte. Allerdings war hier viel weniger los, als sie gedacht hatte. Nur vereinzelt wanderten ein paar Sekundärentropen umher.
Wenigstens nahm niemand Notiz von ihnen. Livia stutzte. Waren sie nicht vor wenigen Minuten noch angestarrt worden? Nein, nicht sie beide, eigentlich nur sie selbst. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Etwas stimmte nicht. Sie hob die Hand.
»Lass uns verschwinden!«
»Was …?« Christofer blickte sie aus eiförmigen Entropenaugen verwirrt an.
»Nur ein Gefühl!« Sie setzte sich in Bewegung. »Wir sollten nicht länger hierbleiben.«
»Was ist mit Jokor?«
»Wir finden ihn schon! Komm jetzt!« Sie beschleunigte ihre Schritte.
Christofer zog unbehaglich die Schultern hoch, folgte ihr aber zum Park, der sich an den Platz anschloss. Sie gingen viel zu schnell, das wusste Elyn, aber ihre innere Stimme sagte ihr, dass hier etwas nicht in Ordnung war.
Sie erreichten den Eingang zum Park. Niemand hielt sie auf. Ein schmaler Weg führte in den künstlich angelegten Urwald. Livia bog vom Hauptweg ab. Die Pflanzen waren geschickt arrangiert worden. Hier und da beleuchteten Scheinwerfer die fremdartigen Gewächse mit einem weichen Licht. Vereinzelt waren sogar Vögel zu vernehmen. Wieder dachte sie an Anjasia. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Andere Gedanken schoben sich dazwischen.
»Schön hier.« Christofer stakste auf seinen verlängerten Entropenbeinen mühelos neben ihr her. »Hierher hätte ich meine Exfrau mitnehmen sollen.«
»Um sie vor der Scheidung zu beseitigen?«
Ihr Begleiter blieb stehen. Er starrte sie an. Verletzt! Das hatte sie nicht gewollt. Oder doch … Sie war zornig auf sich, auf Jokor, auf ihren Vater, und ihre Wut brauchte ein Ziel. Aber Christofer hatte das nicht verdient. Er am allerwenigsten.
»Es tut mir leid!«
Er antwortete nicht. Livia begriff. Der Terraner hatte ihre Anspannung bemerkt. Auf jeden Fall war seine Bemerkung ein Versuch gewesen, sie aufzumuntern.
»Ich …« Wieder einmal hatte sie sich benommen wie ihr Vater. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Es ist nur …« Sie rang um die richtigen Worte. »Verdammt … ich …«
»Schon gut!« Christofer hob die Hand und winkte ab, was mit seinen langen blauen Fingern befremdlich wirkte.
Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her. Immer tiefer drangen sie in den grünen Pflanzendschungel vor. Livia konnte nicht anders, als sich immer wieder umzusehen. Sie waren allein. Nirgends waren andere Besucher zu sehen. Aber vielleicht war das normal um diese Zeit. Auf dem Platz war auch nicht viel los gewesen.
Ein Trampelpfad weckte ihre Aufmerksamkeit. Er führte zwischen das Buschwerk. »Komm!« Ihr Flüstern war kaum laut genug, dass Christofer es wahrnehmen konnte.
Sie tauchten zwischen den Blättern unter.
*
Nackt und paralysiert lag er vor ihr. Rylas Augen tasteten den Körper des Terraners ab. Auf ihren Befehl hin hatte man ihm die künstliche Entropenhaut abgezogen. Darunter trug er nichts. Ein Spion im Entropia-System! Sie wusste nicht, wann es das je gegeben hatte. Adelheid würde toben.
»Er ist sicher nicht allein!« Ihre Stimme war kalt. »Wir müssen die anderen finden!«
Der Sekundärentrope, der die anderen anführte, nickte. Er griff nach seinem Funkgerät, um ihre Anweisung an die Zentrale weiterzugeben.
Rylas Blick wanderte über die künstliche Entropenhaut, die schlaff und zerrissen neben dem Terraner lag. Viel hatte er nicht bei sich gehabt. Keinerlei Ausrüstung. Die mussten seine Komplizen haben. Ihr Blick fiel auf ein Armband, das noch an der künstlichen Haut festhing. Sie bückte sich und hob es auf. Ein Chiparmband. Die Worte SI KITU sprangen ihr in die Augen.
»So bist du also hergekommen!« Fast zärtlich folgten ihre Finger den Konturen der Schrift. Das erleichterte die Suche. Sie hielt das Armband dem Entropen hin. »Hier! Er ist mit der SI KITU gekommen. Ich will wissen, wer an Bord war. Und was dieser hier an Bord gemacht hat. Mit wem er zusammen war, mit wem er geredet hat … einfach alles. Jede Kleinigkeit!«
Der Entrope nahm das Armband schweigend entgegen und zog sich zurück.
Ryla beugte sich zu Jokor hinab und flüsterte ihm ins Ohr: »Terraner, für diese Dummheit wirst du leiden. Dafür werde ich persönlich sorgen.«
*
Adelheid erstarrte! Ein Spion! Hier im Entropia-System! Sie erhob sich. Sofort verstummten die Stimmen der anderen Entropen. Von der Lilim, die hereinkam, um ihr eine Nachricht ins Ohr zu flüstern, hatte man keine Notiz genommen.
»Adelheid?« Die Flugscheibe des Denkers surrte leise, als sich das Gerät anhob und seinen Träger mit Adelheid auf Augenhöhe brachte.
»Ein Spion!« Sie biss die Zähne einen Augenblick fest aufeinander. »Niada hat auf Entrop-C einen terranischen Spion gestellt und er ist nicht allein, wie es scheint. Seine Komplizen sind noch frei!«
Ein Aufstöhnen ging durch die Reihen. Empörte Stimmen riefen durcheinander. Adelheid hob die Hände. »Ich werde sofort nach Entrop-C aufbrechen!«
»Soll ich dich begleiten?«
»Nein! Das erledige ich allein.«
Der Denker nickte, was ihn noch skurriler aussehen ließ.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, eilte Adelheid aus dem Raum.
*
Jokor war seit einer Stunde überfällig und sie saßen untätig hier zwischen den Blumen herum. Christofer zerdrückte eine Blüte mit der Hand. Ein intensives süßes Aroma schloss ihn in eine Duftwolke ein. »Ihm ist etwas passiert!« Eorthors Worte dröhnten in seinem Kopf: Wer gefasst wird, bleibt zurück! Das kam für ihn nicht in Frage. Niemals würde er einen Freund zurücklassen.
»Das denke ich auch.« Livia seufzte. »Ich schätze, dass man bereits nach uns sucht.« Sie bekam das plötzliche Desinteresse der Entropen auf dem Platz nicht aus dem Kopf.
»Joak würde nie …!«
Sie unterbrach den empört Auffahrenden. »Die Lilim haben sicher Methoden, um ihn zum Reden zu bringen!«
Christofer biss sich auf die Lippen. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Jokor sich unter einer brutalen Folter wand. Sie hatten ihn am vergangenen Abend das letzte Mal kontaktiert. Nun konnte er sich schon stundenlang in den Händen der Entropen befinden, und sie würden sicher keine Zeit verlieren, ihn zu verhören.
»Wir müssen hier weg!«
»Wir können ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen!«
»Erst einmal müssen wir wissen, was überhaupt mit ihm passiert ist! Mit ihm und dem ALSKYP.«
*
Anjasia lief, ohne auf den Weg zu achten. Die Zweige schlugen in ihr Gesicht, und Tränen rannen über ihre Wangen. Sie konnte es noch immer nicht fassen. Jokor, in Wirklichkeit ein Terraner? Ein Spion?
Es klang so unwirklich. Noch nie hatte ein Nicht-Entrope die Planeten des Systems betreten. Sie musste Livia davon erzählen. Was, wenn der andere Entrope auch nicht echt war?
Anjasia verkrampfte sich. Jetzt, wo Jokor enttarnt worden ist, könnte Livia in Gefahr schweben. Sie musste sie sofort suchen gehen. Aber sie hatte ein schlechtes Gefühl dabei. Hatte Ryla recht, als sie spontan sagte, ihre geliebte Livia müsse mit den Fremden unter einer Decke stecken? Würde sie sie je wiedersehen?
*
»Das ist er also!« Adelheid trat näher an Cascal heran, der mit gesenktem Kopf am Boden saß. Er beachtete die alte Lilim nicht.
»Hat er gesprochen?«
»Noch nicht.« Niada schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich unbehaglich. Adelheid vermittelte ihr stets das Gefühl, bei ihrer Arbeit zu versagen. »Er ist erst seit kurzem wieder bei Bewusstsein. Immerhin haben wir mit Hilfe des Armbandes die wichtigsten Informationen, um seine Komplizen zu fassen.«
»Ah ja!« Gedankenverloren strich die alte Lilim mit den Fingern über ihr Handgelenk.
»Woher hatte er es?«
Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
Niada biss sich auf die Lippen. Das Thema hätte sie lieber vermieden. »Es ist nachgemacht.«
Adelheids Hand erstarrte in der Bewegung. Hing für einen Moment in der Luft. »Nachgemacht?«
Niada schluckte. »Ja. Die Codes sind echt.«
»Man hat uns Daten gestohlen und damit mehrere Identifikationsarmbänder gefälscht. Und damit haben sich mehrere Agenten auf die SI KITU geschlichen, sich dort frei bewegt, was weiß ich für Informationen gesammelt und haben das dann auf Entrop-C fortgesetzt?«
»Ja.« Niada hielt dem Blick der alten Lilim mit Mühe stand.
»Wie viele Agenten sind es?«
»Drei!« Niada fühlte sich wieder auf sicherem Terrain. »Eine Frau, die sich als Lilim ausgibt, und noch ein Mann in Entropen-Verkleidung.«
»Drei?« Adelheids Augen wanderten aufmerksam über Cascal. Auch wenn der Terraner sich weigerte, sie anzusehen, wollte sie keine seiner Reaktionen verpassen. »Ist das sicher?«
»Ja! Anjasia hat uns zusätzlich weitere Indizien mitgeteilt. Sie hatte sich mit der Spionin angefreundet und ist völlig verstört.«
Adelheid lachte verächtlich. »Welch eine Verirrung.«
»Bereitet das Verhör vor!« Adelheid wandte sich ab. »Wir machen es hier. Wenn wir Glück haben, rufen seine Schreie die Verräter herbei.«
*
Die Verräter befanden sich tatsächlich in Hörweite. Sie hatten die Bewegung bemerkt und waren ihr gefolgt, bis zum Ort des Geschehens.
»Mann, sind das viele!« Christofer zog sich wieder hinter die Blätter des Dickichts zurück.
»Und sie suchen ganz offensichtlich etwas!« Livia spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Sie war sich sicher, dass der Aufruhr ihnen galt.
»Du bist sicher, dass sie uns suchen?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Livia nickte nur. Ihre Aufmerksamkeit galt einer Gruppe Entropen, die sich in einer losen Formation dem Park näherten. »Wir müssen hier weg!« Sie zog sich weiter in das Gebüsch zurück. »Wir versuchen es mittendurch!«
»Querfeldein!« Mechanisch formten Christofers Lippen das Wort, während er die Pflanzen unbehaglich musterte. Sie wussten nichts über die Vegetation und auch nicht, ob es außer den Vögeln, deren Geschrei sie seit Stunden begleitete, noch andere Tiere gab. Sicher keine gefährlichen, denn dies war ein öffentlicher Park, aber jedes aufgescheuchte Vieh konnte sie verraten. Trotzdem folgte er Livia, so schnell es die verschlungenen Gewächse zuließen, tiefer zwischen die Pflanzen.
Im letzten Moment konnte er anhalten, als Livia stehenblieb. Eine tränenüberströmte Anjasia kam ihnen entgegen. Bei ihrem Anblick blieb sie wie angewurzelt stehen und breitete die Arme aus.
»Livia!«, rief die junge Frau verzweifelt. »Sie sagen, du bist eine Spionin. Ist das wahr?«
Die Alyske nickte betreten. »Es ist anders, als es aussieht«, begann sie.
»Was?«, brüllte Christofer los. Anjasia erschrak. Sie hob einen bebenden Zeigefinger.
»Sie sagen, er ist kein Entrope. So wie der andere. Sie haben ihm die Haut abgezogen, und darunter war er ein … ein …« Sie schauderte.
»Ein Terraner«, half Livia aus. Vorsichtig ergriff sie Anjasias Hand. Die junge Lilim entzog sich.
»Ich habe dich wirklich gemocht«, stieß sie hervor. »Und du hast uns verraten.«
»Ich habe dich auch gemocht, Anjasia. Und du bedeutest mir immer noch viel. Du bist … besonders. Ich habe mir die ganze Zeit gewünscht, du würdest mich mögen, wie ich wirklich bin.«
Die Frauen starrten einander an.
»Warum hast du uns verraten? Mich verraten?«, fragte Anjasia.
»Bitte versteh, wir suchten nach Informationen über eure Kultur, eure Herkunft. Wir wollten wissen, wer ihr seid, um euch zu verstehen«, bat Livia.
»Um uns zu vernichten! Du paktierst mit Männern und mit Fremden, um uns zu vernichten«, stieß die Lilim hervor.
»Nicht alle Männer sind schlecht. Diese hier sind meine Freunde. Sie könnten auch deine sein, wenn du willst. Gute Freunde, ehrliche Freunde.«
Anjasia lachte. Livia packte der Zorn.
»Wenn du mir nicht glaubst, warum die Krokodilstränen, warum das Gesülze, wie viel ich dir bedeute? Dabei glaubst du mir nicht ein Wort. Was soll schlecht daran sein, wenn wir eure Herkunft kennen? Kennst du sie überhaupt selbst?«
Langsam schüttelte Anjasia den Kopf. »Keine von uns kennt sie. Nur Adelheid. Sie trägt einen Speicherkristall, am Herzen trägt sie ihn, heißt es, auf dem alle Geheimnisse ruhen. Nie kommst du an ihr vorbei.«
»Aber du wünschst mir Glück?«, fragte Livia.
Die junge Frau nickte. »Ich möchte deinen wahren Namen wissen«, bat sie.
»Und ich möchte hören, wie du ihn aussprichst«, erwiderte die Alyske. »Ich heiße …«
Die Gewächse um sie herum begannen, sich zu bewegen. Für einen Augenblick überwältigte sie eine uralte instinktive Angst, die ihnen die Sprache verschlug. Aber die Schlangenwurzeln und Blätter griffen nicht nach ihnen. Im Gegenteil, sie zogen sich zurück.
Anjasia schrie nun doch auf. »Was passiert hier?«
Die Pflanzen krochen in den Boden zurück, ließen eine deckungslose Fläche aus Sand und Gartenerde liegen.
Nun schrien die Entropen. Sie hatten sie sofort entdeckt. Livia rannte los, auf das andere Ende des Parks zu, weg von ihren Verfolgern. Christofer folgte ihr auf seinen verlängerten Beinen mit mächtigen Sprüngen. Hier gereichten ihm die künstlichen Entropen-Gliedmaßen zum Vorteil. Trotzdem reichte es nicht. Ihre Verfolger kamen schnell näher. Zu schnell.
Dann übertönte eine grässliche Stimme die Flucht, und sie blieben schlagartig stehen, weil es keinen Sinn mehr hatte. Adelheid war da.
9. In den Händen der Entropen
Niedergeschlagen starrte Cascal vor sich auf den Boden. Nichts gab es, was seine Gedanken beschäftigen und von der Tatsache ablenken konnte, dass er es vermasselt hatte. Er biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte.
Wenn wenigstens die anderen der Verfolgung entkommen konnten! Adelheid hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie über die anderen beiden Agenten Bescheid wusste. Ebenso großen Wert hatte sie darauf gelegt, ihn damit zu quälen, dass sie ihm und seinen dummen Hormonen ihre Entdeckung verdankten und wie viel Schlimmeres geschehen würde, wenn die Lilim seine Freunde erst einmal hatten.
Das war für ihn die größte Pein gewesen, viel bedrohlicher als die körperlichen Qualen, die ihnen drohten. Im Geiste hörte er noch immer die unangenehm schrille Stimme der Alten, die mit wachsender Begeisterung beschrieb, mit welcher Folter seine Freunde zu rechnen hatten.
Hätte er nur auf Elyn gehört und nicht dieser blöden Hexe nachgestellt. Vermutlich war das eine Überreaktion, um die Gedanken an Anya zu verdrängen. Er hatte es noch mal wissen wollen. Und um welchen Preis? Er war ein Idiot gewesen!
Adelheids schrille Stimme erklang. Eine andere Frau jammerte, flehte, dann schrie sie auf, und es wurde still. War das Anjasia gewesen? Die Arme!
Näher kommende Schritte ließen ihn den Kopf heben. Cascal stockte der Atem. Livia wurde an beiden Armen von Tertiärentropen festgehalten und zum Weitergehen gedrängt.
Dahinter kam Remus. Ihm hatte man die Kunsthaut vom Gesicht gerissen. Zwei weitere Entropen schleiften den halb Bewusstlosen zwischen sich. Achtlos ließen sie ihn auf den Boden fallen. Das Stöhnen seines Freundes traf Cascal bis ins Mark. Unbekleidet oder nicht, er sprang auf, um ihm zu helfen.
Das war ein Fehler! Die Tertiärentropen waren schnell. Eine Faust streifte Cascal an der Schulter und schleuderte ihn hart zu Boden. Verwirrt starrte er den Muskelberg an, der kampfbereit über ihm aufragte. Immerhin hatte er genug Verstand, um liegenzubleiben. Er widerstand sogar der Versuchung, mit der linken Hand seine rechte Schulter zu betasten. Nachdem zuerst der Schmerz explodiert war, fühlte er sie jetzt nicht mehr.
Der Gesichtsausdruck des Entropen wechselte von Wachsamkeit zu Verachtung. Der Riese trat zurück. Cascal rappelte sich auf. Er konnte sich nur auf seinen linken Arm stützen. Der rechte baumelte kraftlos herab. Mühsam taumelte er zu Remus und kniete sich neben den Freund. Er sah furchtbar aus. Blutergüsse färbten sich violett, und eine Augenbraue war aufgeplatzt. Das Auge begann zuzuschwellen.
Mit dem anderen Auge blickte er Cascal an. Seine zersprungenen Lippen formten ein Wort! Cascal beugte sich tiefer über den Verletzten.
»ALSKYP?«
Cascal zuckte unmerklich zusammen. Das ALSKYP! Er hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war. »Ich …«
Remus versuchte, sich aufzurichten. Cascal half ihm, so gut es mit seiner tauben Schulter ging. Er fühlte sich hilflos und elend, und sein Gewissen schmerzte noch mehr als seine Wunden. Das hier war seine Schuld. Er schaute zu Elyn hinüber, mied aber ihren Blick.
Sie kam zu ihnen, beugte sich ebenfalls über Scorbit. Fast lautlos hauchte sie: »Was ist mit dem ALSKYP?«
Cascal zuckte die Achseln.
Elyn drängte ihn zur Seite. Sie beugte sich wieder über Remus und flüsterte, so dass beide Männer sie verstanden: »ALSKYP hat einen Selbstschutzmechanismus. Erwähnt es mit keinem Wort! Es ist unsere einzige Chance. Außerdem ist es so programmiert, dass es sich und seinen Träger zur Not selbst zerstört.«
Cascal schluckte. Das hätte man ihm ruhig vorher sagen können. Dann wurde Elyns Haltung starr. Adelheid stand vor ihnen.
Die Alte triumphierte. Sie war von einem kleinen Hofstaat umgeben: Neben ihr schwebte eine Denkerin auf ihrer Fußscheibe. Die beiden wurden von einem Sekundär- und einem Tertiärentropen flankiert. Niada trat neben sie.
»Elyn!« Adelheids Gesicht leuchtete. »Das ist doch dein Name!«
Die Oberste Hexe wartete nicht auf eine Antwort. Es war eine Feststellung gewesen. Sie nickte Niada zu, und die Lilim entfernte sich mit einer respektvollen Verbeugung.
»Eorthors Tochter! Ich kenne dein Gesicht, jetzt, wo ich darauf achte. Ein altbekanntes Gesicht. So viel Ruhm liegt mir zu Füßen, Elyn.«
Wieder eine Feststellung. Diesmal aber voll boshafter Zufriedenheit ausgesprochen.
»Nun! Immerhin nimmt uns dieser arrogante Alysker ernst genug, um seiner Tochter die Leitung einer solch frevelhaften Mission zu übertragen.«
Elyn fühlte ihren Mund trocken werden. Adelheid kannte ihren Vater! Das hatte er wohl vergessen, ihr zu erzählen. Sie wandte ihren Kopf nach links und betrachtete Joak und Remus. Die beiden sahen furchtbar aus. Keiner kümmerte sich um die Blessuren der beiden Terraner.
»Du hast dich hier vor den Hütern der Thermodynamik für deine Verbrechen zu verantworten.«
Die Denkerin, die zu Adelheids rechter Seite schwebte, schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders.
»Hüter der Thermodynamik?« Elyn fiel im Augenblick nichts Gescheiteres ein. Das Tribunal war der Verhaftung auf dem Fuße gefolgt. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich eine Strategie auszudenken.
»Die Vertreter SI KITUS.« Die Denkerin ergriff das Wort. Anders als ihr grotesker halber Körper vermuten ließ, hatte sie eine angenehme voll tönende Stimme. »Die ehrwürdige Adelheid ist euch bekannt. Mein Name ist Denkerin0001.«
Die Art, mit der sie ihren Namen betonte, verriet ihr, dass er einige Bedeutung hatte.
»Für die Sekundärentropen wohnt Gnochich der Verhandlung bei, Ursas für die Tertiärentropen.«
Sie nickte auch den beiden zu, die gleichgültig an ihr vorbei sahen.
»Du bist der Spionage überführt!« Adelheids Stimme war streng.
Überführt? Elyn spürte einen leichten Schwindel. Anscheinend hatte man sie bereits verurteilt.
»Du hast ohne Erlaubnis unser System betreten.« Die Stimme der Denkerin war milder. »Du hast hier und jetzt die Gelegenheit, dein Verhalten zu erklären.«
Elyn suchte ihren Blick. Versuchte sie, ihr zu helfen? Und was war mit den Terranern? Hatte man sie bereits verurteilt? Befanden sie sich deswegen in dieser entwürdigenden Haltung?
Adelheid erriet ihre Gedanken. »Dass sie hier sind, ist ein Entgegenkommen unsererseits.« Sie setzte sich. »Was mit ihnen geschieht, hängt allein von dir ab!«
Elyn schluckte. Für einen Moment hatte sie vergessen, wie die Lilim über Männer dachten. Allerdings gehörten dem Tribunal auch Vertreter der anderen Entropen an. Sie musterte die drei und versuchte zu erkennen, ob es Männer oder Frauen waren. Die Denkerin war eindeutig weiblich. Der Sekundärentrope war wohl ein Er. Das verriet der ausgeprägte Bartwuchs. Bei dem Tertiärentropen vermochte sie es nicht zu sagen.
Die drei Entropen folgten Adelheids Beispiel und setzten sich.
»Du hast dir auf höchst niederträchtige Art und Weise die Zugangscodes zur SI KITU beschafft.«
Constance! Elyn zuckte zusammen. War die junge Lilim ihretwegen in Schwierigkeiten?
Die Sekundärentropin beugte sich zu Adelheid und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Adelheids Lächeln war dämonisch. »So! Constance! Ihr hast du die Daten also gestohlen!«
Die Welt drehte sich. Elyn musste einen Schritt nach hinten machen, um nicht zu stürzen. Ihre unbewusste Reaktion hatte Constance verraten. Aber wie war das möglich? Sie war stark genug, um Adelheid und jeden anderen Telepathen abzublocken. Verwirrung zeichnete Elyns Gesicht. Es war der Sekundärentrope gewesen, die in ihre Gedanken eingedrungen war. Vielleicht wusste ihr Vater nicht alles über diese Wesen. Sie musste besser achtgeben. Oder hatten sie die Gedanken der Terraner belauscht?
»Natürlich seid ihr offene Bücher für uns. Vor allem die Männer!« Gnochichs Stimme tropfte vor Hohn. Die Entropin hatte aus dem Wirbel von Elyns Gedanken auch diesmal etwas aufgeschnappt!
Die Alyske war verwirrt. Diesmal hatte sie den Fremden deutlich in ihren Gedanken gespürt.
Hier kannst du uns nichts vormachen, Alyske! Adelheids Stimme dröhnte boshaft direkt in ihrem Kopf. Vor der Mutter aller Lilim gibt es keine geheimen Gedanken.
Elyns Augen folgten der Kopfbewegung der Alten. Die Statue, die hinter dem Tribunal stand! Irgendetwas stimmte damit nicht. Die Augen leuchteten in einem unheimlichen Feuer. In ihrem Kopf hörte sie wieder die alte Lilim.
Wir nennen diesen Raum den »Ort der Wahrheit«. Hier kannst du keine von uns abblocken. Laut fuhr sie fort: »Nun, wie mir scheint, können wir uns jede weitere Verhandlung sparen.« Adelheid schwelgte bereits im Triumph. Die Augen der alten Frau brannten im gleichen fanatischen Feuer wie die der Statue. »Damit hast du zugegeben, dass du die Daten gestohlen hast. Du hast eine Lilim auf die gemeinste Weise getäuscht und ihr Vertrauen missbraucht. Dich auf die SI KITU geschlichen.«
Adelheids Finger bohrte ein Loch in die Luft. »Du hast alle auf dem Schiff getäuscht und für deinen Vater spioniert.«
Das also war es! Elyn begriff plötzlich. Adelheid hatte eine offene Rechnung mit Eorthor.
Die alte Frau fuhr bereits fort. »Du hast dich in unser Heimatsystem eingeschlichen und ausspioniert, welche Maßnahmen wir zum Schutz unserer Welt unternehmen.«
Elyn öffnete den Mund und wollte sich verteidigen, aber Adelheid war noch nicht fertig.
»Sogar deine beiden Handlanger …«, zum ersten Mal schenkte sie den beiden Männern einen angewiderten Blick, »… hast du auf meine Lilim angesetzt! Das setzt deinem Verbrechen die Krone auf.« Die faltigen Wangen der alten Frau bekamen rote Flecken. »Ich denke, ich spreche im Einklang mit meinen Kollegen, wenn ich dich zum Tod verurteile. Hier und jetzt!«
Ihr Blick wanderte von Elyn zu den beiden Terranern. »Was deine Handlanger betrifft …« Ihre Augen kehrten zu Elyn zurück. »Mit ihnen werden wir Milde walten lassen. Schließlich verfügen sie nicht über den Intellekt, um das Ausmaß ihrer Tat zu begreifen. Wir werden ihre Gehirne optimieren. Alle nutzlosen Areale werden entfernt, so dass sie sich fortan auf ein nutzbringendes Leben konzentrieren können!«
Adelheid wandte sich zum Gehen. Außer Hörweite der Gruppe wandte sie sich an ihre Begleiterin.
»Ihr Vater Eorthor ist ein gefährlicher Mann! Mit allem, was er tut, verfolgt er ein Ziel. Stimmst du mir da zu?«
Die Denkerin musterte sie nachdenklich, schließlich nickte sie langsam. »Nach allem was ich über ihn weiß, eilt ihm nicht der Ruf voraus, unbedacht zu handeln.«
Adelheid schien ihren Zorn vergessen zu haben. Ruhig und wie zu sich selbst fuhr sie fort: »Nachdem die Spione entdeckt worden waren und man die Spuren verfolgt hat, die sie hinterlassen haben, ist eins klargeworden: Sie haben besonderes Augenmerk darauf gelegt, unsere Verteidigung auszuspionieren. So viel konnte Niada aus den unberechtigten Dateizugriffen auf der SI KITU rekonstruieren.«
»Ah!« Die Scheibe schwebte ein Stück in die Höhe. »Weiß man denn jetzt, auf welchem Weg sie sich den Zugang verschafft haben?«
»Nein!« Adelheid schüttelte bekümmert den Kopf. »Wir haben kein Aufzeichnungsgerät bei ihnen gefunden.« Sie schwieg einen Moment. Ließ ihr die Zeit, um über die Tragweite ihrer Worte nachzudenken.
Die Scheibe sank wieder tiefer, bis sie fast den Boden berührte, und zeigte damit an, dass sie nachdachte. Als sie schließlich weiterredete, zeigte sich eine sorgenvolle Falte in der Mitte ihrer Stirn.
»Besteht die Möglichkeit, dass sie die Daten direkt an Eorthor gesandt haben?«
»Wer weiß. Eorthor kann nicht wissen, dass wir in einer Hyperraumblase leben. Darauf konnten sie sich nicht einstellen.«
»Und ein geschmuggelter Datenspeicher?«
Schweigend und in trübe Gedanken versunken gingen die beiden weiter.
*
Von Verzweiflung erfüllt standen die drei vor dem flammenden Durchgang. Adelheid wirkte wie eine lauernde Krähe. Was war das? Was hatten die Lilim mit ihnen vor?
Remus bekam einen Stoß von seinem Bewacher. Wie ein Schlafwandler setzte er sich in Bewegung. Er ging an Elyn vorbei, ohne sie anzusehen. Nicht einmal vor dem Portal stockte er. Cascal folgte ihm von sich aus.
Zum ersten Mal, seit die SI KITU sich in Bewegung gesetzt und sie aus dem Siom-System entführt hatte, spürte Elyn Verzweiflung in sich aufsteigen.
Doch als sie selbst folgte, war alles anders als erwartet. Elyn versteifte sich. Das Portal erzeugte nicht das gleiche Gefühl, wie sie es von der SI KITU kannte. Es fühlte sich überhaupt nicht wie ein Teleporter an. Sie hing im Nirgendwo und war sich des Fehlens von oben und unten bewusst.
Das durfte nicht sein! Ihr Herz stockte. Immer mehr geriet sie in Panik. Wollte man sie hier töten? Nein! Adelheid hatte von Verbrennen gesprochen. Diese Freude würde sich die schreckliche Alte sicher nicht nehmen lassen. Aber was geschah dann hier?
Etwas, das einem Luftzug glich, streifte ihre Wange, schien durch sie hindurchzufließen. Sie hatte das Gefühl, leicht angehoben zu werden, und dann fühlte sie sich wie auf einem Fließband vorangeschoben.
Die Berührung veränderte sich, fühlte sich jetzt an wie der warme Strahl einer Wasserdusche. Elyns Angst verlor sich. Ihr Körper entspannte sich, und sie ließ sich willig treiben. Ihre Gedanken kehrten zum Anfang der Mission zurück. … Bilder stiegen in ihrem Geist auf. Schöne Bilder! Sie versank in ihnen.
Der Stoß war brutal. Sie wurde nach vorn geschleudert und landete hart auf dem Boden. Verwirrt hob sie den Kopf. Das lange Haar hing ihr vorm Gesicht. Vor sich hörte sie ein Wispern.
Elyn war verwirrt. Sie wusste nicht, was sie von den Gedanken in ihrem Kopf halten sollte. Sie erinnerte sich an einen Text, auf den Anjasia sie aufmerksam gemacht hatte. Es war der uralte Schöpfungsmythos um SI KITU. Demnach wurden die Entropen geschaffen, um das Übel, das MODROR und das Quarterium darstellten, zu beenden, es war ihre Bestimmung …
Quarterium!
Sie könnte sich ohrfeigen vor Zorn. Wie idiotisch von ihr! Wenn die Geschichte mit SI KITU und der Erschaffung der Entropen wahr war, dann konnten sie das Quarterium noch nicht gekannt haben. Es existierte schlicht noch nicht!
Sie hatte ihren Körper wieder, zog die Beine an und stützte das Kinn auf die Knie. Vor ihrer Verhaftung hatte sie noch einige Boden- und DNA-Proben sammeln können, aber diese eben nicht mehr mit dem ALSKYP auswerten können. Die Proben waren sorgfältig an einem geheimen Ort versteckt. Irgendwie musste sie es schaffen, das Material an Eorthor zu schicken.
Wo war sie hier? Ihr fehlte ein Stück Erinnerung. Das hier schien ein Gefängnis zu sein. Wo waren Cascal und Remus geblieben?
Die Stimme der alten Lilim drang in ihre Gedanken.
»Denkst du über deinen Verrat nach, Alyske?«
»Aus meiner Sicht ist es kein Verrat!«
»Nein!«, spottete Adelheid. »Natürlich nicht! Das brave kleine Mädchen hat nur getan, was der übermächtige Vater befohlen hat.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Ich kenne deinen Vater, Kindchen!«
Gegen ihren Willen musste Elyn grinsen. Kindchen war sie schon lange nicht mehr genannt worden. Vor allem nicht von jemandem, dessen mehrfache Urgroßmutter sie hätte sein können. Und die Ironie der Situation entging ihr nicht. Adelheid hatte fast so viele Vorbehalte gegen ihren Vater wie sie selbst. Doch sie war Gegnerin, nicht Tochter. Sie beide verabscheuten Eorthor – und doch waren sie Feinde, Adelheid war ihrem Vater darüber hinaus verdammt ähnlich.
Elyn hob den Kopf und entgegnete spöttisch: »Wieso wundert mich das nicht?«
Adelheid lachte über die rhetorische Frage. »Eorthor ist allgegenwärtig. Weil er es versteht, sich in den Vordergrund zu drängen.« Die Falten um ihre Augen wurden tiefer. »Er ist ein Wichtigtuer! Ein Gernegroß! Aber dieses Mal hat er sich empfindlich verrechnet.«
Elyn erwiderte ihren fanatischen Blick schweigend. Was sollte sie auch sagen?
»Ich weiß, dass er dich geschickt hat, Alyske! Und ich weiß, wieso! Aber er wird einsehen, dass er einen großen Fehler gemacht hat. Dieses Mal hat er sich den falschen Gegner ausgesucht.«
Ihre Augen sprühten vor Feuer, und selbst die graue Haut der faltigen Wangen gewann in ihrem Eifer wieder Farbe.
»Aber deswegen bin ich nicht hier!«
Die Alte trat einen Schritt zurück und musterte Elyn abschätzend. Ganz plötzlich war aller Eifer aus ihren Augen gewichen, hatte einem kalten Glanz Platz gemacht.
Adelheids Lächeln passte allerdings überhaupt nicht zu ihren Worten.
»Ich bin geneigt, dir dein Leben zu schenken, Alyske. Immerhin bist du dein Leben lang von den Worten des Mannes, der sich dein Vater nennt, verblendet worden.«
Elyn spürte, wie sich die Haare an ihren Armen aufrichteten.
»Es widerstrebt mir, dass eine Frau ihr Leben für die Taten eines Mannes hergeben soll.«
Adelheids Stimme war samtweich und gütig, wie die einer lieben alten Oma. Elyn glaubte ihr kein Wort.
»Andererseits solltest du als Frau über einigen Verstand verfügen, bist also nicht völlig von Schuld freizusprechen.«
Elyn zwang sich zur Ruhe. Sie musste der schrecklichen Vettel nicht auch noch die Genugtuung geben, Emotionen zu zeigen. Adelheid genoss ihr Spielchen.
»Nun – ich bin kein Unmensch, wie du sehen wirst.«
Ihre Hand glitt in eine Tasche ihres Gewandes und brachte ein Messer zum Vorschein.
Elyn richtete sich auf und blickte ihrer Peinigerin fest in die Augen. Das war es dann also! Hier und jetzt fand ihr Leben ein Ende. Nun – sie würde diesem Alptraum, der sich für ein menschliches Wesen hielt, zeigen, wie eine Alyske starb.
Adelheid holte aus und schleuderte ihr das Messer vor die Füße. »Nimm es!«
Verwirrt starrte Elyn auf die Klinge hinunter. Sie wich einen Schritt zurück.
»Was ist, Alyske?«
Adelheids Mund öffnete und schloss sich.
»Ich gebe dir hier und jetzt eine Möglichkeit, dem Feuertod zu entrinnen.« Sie lachte böse. »Du brauchst dich nicht einmal zu töten.« Ihre Worte tropften wie Gift aus ihrem Mund.
»Es reicht, wenn du dich verstümmelst.«
Die schmeichelnde Stimme jagte Elyn einen Schauer über den Rücken.
»Ein paar tiefe Furchen in dein hübsches Gesicht!«
Das Lachen war das einer Psychopathin. Elyn wich einen weiteren Schritt zurück, spürte eine Wand hinter sich. Sie lehnte sich mit Schulter dagegen, fühlte kaltes Metall.
»Was ist, meine Kleine?« Adelheids Stimme vibrierte vor Befriedigung. »Nur ein paar schnelle Schnitte! Ein wenig Schmerz und du ersparst die den Tod auf dem Scheiterhaufen.«
Wieder war das Lachen böse.
»Das wäre kein schlechter Tausch. Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn das Feuer sich deiner Haut nähert?« Sie rückte näher. »Die Hitze wirft Brandblasen auf deiner Haut, noch ehe die Flammen sie wirklich verzehren!«
Adelheid stand jetzt vor ihr. Streckte eine Hand aus und strich ihr über die Wange.
»Die Haut rötet sich und beginnt zu pellen. Fast wie bei einem Sonnenbrand, aber tausendmal intensiver.«
Die Stimme war leise. Eindringlich!
»Dann, wenn das Wasser aus den Zellen unter der Haut verdampft ist, fressen sich die Flammen hinein.«
Adelheids Finger strichen sanft und liebkosend über Elyns Hals. »Kannst du dir das vorstellen, Kindchen?« Adelheid hob die zweite Hand und nahm Elyns Gesicht in ihre Hände. »Wie deine Beine verbrennen! Die Haut platzt auf, das Fleisch verglüht! Es stinkt erbärmlich, wie bei einem geschlachteten Schwein, wenn die Borsten von der Haut gebrannt werden.«
Elyn fühlte ihre Knie zittern. Sie würgte, konnte den Blick aber nicht von den Augen dieser grässlichen Alten lösen.
»Dann verkohlen deine Knochen!« Adelheids Hand strich Elyns Körper hinunter. »Du schrumpfst von unten! Würdest fallen, wenn die Fesseln dich nicht hielten!« Adelheid trat einen Schritt zurück.
Elyn zitterte jetzt deutlich. Ihr war egal, was dieses Monster über sie dachte. Die Alyske wollte nur noch, dass dieses Scheusal verschwand. Sie sollte gehen! Dieses schwarze Loch von einem Mund und diese fürchterlichen Hände, deren Berührung sie noch immer auf ihrer Haut fühlte.
»Dann kommt das Feuer höher! Immer höher!« Mit jedem Wort näherte Adelheid sich rückwärts weiter der Tür. »Es gibt Frauen, die durchhalten, bis die Flammen ihnen die Haut vom Kopf gefackelt haben und ihre Augen platzen.«
Sie lachte.
Elyn rutschte an der Wand hinunter zu Boden. Ihr Fuß stieß gegen das Messer und schob es ein Stück fort. Die Klinge glitzerte im schwachen Licht der Zellenbeleuchtung.
Hypnotisiert kehrten Elyns Augen immer wieder zu dem Messer zurück, das Adelheid ihr mit einer verächtlichen Geste vor die Füße geworfen hatte.
Sie zog ihre Stirn kraus. Wut stieg in ihr auf. Ausgerechnet Joak Cascal verdankte sie diesen Schlamassel. Musste er jeder terranisch aussehenden Frau hinterher schmachten? Sie schwor sich, dass Joak das hier leidtun würde, wenn sie jemals aus diesem Gefängnis herauskam. Wenn … der Gedanke erleichterte sie.
Ohne ein weiteres Wort verließ Adelheid die Zelle. Elyn sackte kraftlos zu Boden. Was sollte sie nur tun?
*
Eine ganze Nacht und den Morgen lang war sie ihrer Angst überlassen worden. Nun, am Vormittag, war die alte Hexe zurückgekehrt.
»Fehlt dir der Anstand oder der Mut, dich zu töten?«
Adelheids Stimme triefte vor Hohn.
Elyn blinzelte. Wie kam sie hierher? Sie war unter freiem Himmel, in einem umzäunten Garten. Vorsichtig stemmte sie sich auf ein Knie hoch. Der Boden war aus Stein, zeigte ein Mosaik, das sie aus dieser unmittelbaren Nähe nicht erkennen konnte. Adelheid stand weniger als zwei Meter entfernt. Auf ihrer Schulter hockte eine große schwarze Krähe.
Die Alyske richtete sich auf. Zwischen ihr und der alten Lilim standen zwei muskelbepackte Tertiärentropen. Wie groß diese Wesen waren! Adelheid ging wirklich kein Risiko ein.
»Was ist, Mädchen …?« Adelheids Stimme tropfte samtweich aus ihrem Mund. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«
Elyn schwieg verbissen. Was sollte sie auch sagen?
»Ich habe beschlossen, dass du nicht lange auf deine Hinrichtung warten sollst.« Der faltige Mund verzog sich zu einem hässlichen Lächeln. »Man hat ja schließlich ein Herz!«
Adelheids Augen zeigten, wie sehr die alte Frau ihren Triumph genoss.
»Vielleicht noch ein paar letzte Worte … oder einen letzten Wunsch?«
»Deinen abgetrennten Kopf von Würmern zerfressen im Dreck!«
Die Worte brachen gegen Elyns Willen aus ihr heraus. Alles in ihr schrie danach, sich nach vorn zu werfen, der grässlichen Alten die Hände um den Hals zu legen und zuzudrücken. Ganz langsam! Den Blick fest auf diese Augen gerichtet sehen, wie die unbarmherzige Kälte langsam aus ihnen entwich und der Angst Platz machte.
Adelheid lachte böse. Die Tertiärentropen strafften sich, als ob Elyns Gedanken auf ihrer Stirn abzulesen waren. Ein Messer blitzte in Adelheids Händen. Elyn spürte ihren Mund trocken werden. Was hatte die Alte vor? Wollte sie ihr persönlich die Kehle durchschneiden oder Schlimmeres? Sie biss die Zähne fest aufeinander. Sie würde nicht um ihr Leben betteln. Keinen Ton sollte Adelheid von ihr hören!
»Keine Angst …!« Die Stimme der Lilim war jetzt kalt. Eiskalt!
Die alte Frau hob ihren Arm. Die große Krähe kletterte schwerfällig von der dürren Schulter über den Arm und blieb auf dem Handrücken sitzen. Die tiefschwarzen Knopfaugen musterten Elyn.
»Gefällt sie dir?« Der Ton der Alten war wieder samtweich. »Ein schönes Tier, nicht?« Ihr Blick streifte Zustimmung fordernd Elyns Gesicht. »Eine Krummschnabelkrähe! Diese Vögel sind sehr eigenwillig. Schwer zu dressieren! Und noch schwerer zu füttern.« Sie strich dem dunklen Vogel sanft über den Kopf. »Sie fressen ihre Beute nur, solange sie am Leben ist, weißt du?«
Elyn schluckte. Unwillkürlich wanderten ihre Augen von den krallenbewehrten Füßen des Vogels, welche fast die Größe einer ihrer eigenen Hände hatten, zu dem mächtigen gebogenen Schnabel. Ohne Frage konnte das Vieh damit einen ihrer Arme brechen.
»Deine letzte Chance, meine Liebe!« Adelheids Stimme war unbarmherzig. »Zerschneide dein Gesicht und lebe, oder …«
Sie streckte ihren Arm mit der Krähe. Der Vogel breitete seine Schwingen aus. Ein tiefes misstönendes Krächzen stieg aus dem Brustkorb des Vogels und wuchs zu einem einzigen entsetzlichen Schrei an.
»Wenn sie einmal angefangen haben zu fressen, hält sie nur noch der Tod der Beute auf.«
Elyns Herz schlug bis zum Hals. Sie spürte die Angst in allen Fasern ihres Körpers. Adelheids Arm hob sich noch ein Stück. Wieder schrie der Vogel. Er stieß sich vom Arm seiner Herrin ab.
Glockenhell gellte Adelheids Lachen in den sonnendurchfluteten Himmel. Dann …
Elyn sank auf die Knie. Ihre Hand fand das Messer, klammerte sich fest um den Griff. Ihr Körper fiel zur Seite. Eine der Krallen des Vogels streifte ihre Schulter. Der dünne Stoff ihrer Bluse schützte sie nicht. Blut spritze ihr ins Gesicht.
Dann kam der Schmerz! Es brannte. Ihr Schrei übertönte das Kreischen des Vogels. Das Messer fest gepackt, wirbelte sie herum, überließ sich ganz ihren Reflexen. Die Krähe fing ihren Sturzflug ab, zog einen kurzen Kreis und schwebte einen Augenblick lang über ihrem Opfer.
Adelheid lachte!
Elyns Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Sie musste den Schmerz ebenso ignorieren wie das Kreischen dieser fürchterlichen alten Frau. Sie musste sich konzentrieren.
Die Krähe stieß herab. Elyn hechtete zur Seite. Im Vorbeifliegen schrammten die Krallen über ihre Waden, hinterließen auch hier tiefe, fürchterlich brennende Furchen.
Diesmal schaffte der Vogel es nicht, seinen Flug abzufangen. Die breiten Schwingen geöffnet, hüpfte er über den Boden. Elyn rappelte sich auf. Das war ihre Chance. Sie sprang dem Tier hinterher.
Der Vogel war schneller, als sie erwartet hatte. Er war schon wieder halb in der Luft, als sie ihn erreichte. Mit weit geöffnetem Schnabel fing er ihren Angriff ab. Die Wucht ihres Zusammenpralls riss sie beide um. Der Vogel verfing sich in ihren langen dunklen Haaren. Wütend hackte der Schnabel auf das Hindernis. Scharfen Messern gleich bohrten sich die Spitzen in Elyns gepeinigte Schulter.
Elyn konnte spüren, wie das Tier seinen Schnabel um ihren ungeschützten Muskel schloss. Die Alyske schrie! Ihre Hand stieß den Vogel von sich, versuchte ihn wegzuschieben. Die Krähe ließ nicht los. Ihr Kopf zuckte hin und her. Erneut spritzte Blut. Elyn fühlte einen Ruck, dann löste sich der Schnabel aus ihrer Schulter.
Elyn empfand nackten Horror, während sie zusah, wie der Vogel einen Teil von ihr verschluckte. Dann kam die Wut, die jeden Gedanken aus ihrem Kopf fegte. Sie schrie und sprang dem Tier nach. Ihre Finger griffen nach den bodenlosen schwarzen Augen. Der Vogel schlug sie mit dem Flügel. Er schrie jetzt ebenfalls. Die Krallen schlugen in ihren Bauch.
Elyn riss ihren linken Arm hoch, und die Krallen ließen los. Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen, dann sackte die Krähe als lebloses Federbündel zu Boden.
Elyn hatte nicht die Kraft, das Messer in der Hand zu behalten. Sie taumelte zurück, presste die Hand auf ihre verletzte Schulter, krümmte sich.
Eine schwere Hand packte sie, verhinderte, dass sie stürzte. Die beiden Tertiärentropen nahmen sie zwischen sich.
»Das hast du nicht umsonst getan!«
Adelheid stand vor ihr, das Gesicht weiß vor Wut. Sie nickte den beiden zu. Der Entrope, der sie zuerst gepackt hatte, drehte Elyn wie eine Puppe auf der Stelle. Zwei seiner Hände legten sich wie eiserne Klammern um ihre Handgelenke. Er verdrehte ihre Arme, bis sich ihre Handgelenke hinter ihrem Rücken berührten.
Eine weitere Hand packte ihre Haare kurz über der Kopfhaut und bog ihren Kopf brutal in den Nacken. Die vierte Hand schob sich in ihrem Rücken unter ihren Gürtel. Ein Schatten fiel auf sie. Der zweite Entrope stand vor ihr, eine Hand erhoben.
Der Schlag traf sie auf die Wange. Der Griff ihres ersten Peinigers verhinderte, dass der Schlag durch ein Wegdrehen des Kopfes abgemildert wurde. Die Finger einer anderen Hand bohrten sich ausgestreckt in ihren Magen. Elyn würgte. Finger bohrten sich in die Wunde an ihrer Schulter, erweiterten sie. Sie schrie. Tränen rannen ihr über das Gesicht.
Ihre Peiniger blieben unbeeindruckt. Der Tertiärentrope ging methodisch zu Werke. Er nutzte seine vier Arme und verstand es, sie immer da zu treffen, wo sie es nicht erwartete. Elyn schmeckte Salz und Blut auf ihren Lippen. Sie hörte und sah längst nichts mehr. Da war nichts mehr als der Schmerz ihrer zerschlagenen Muskeln und der gebrochenen Knochen. Dann stürzte sie in bodenloses Dunkel.
*
»Wie Eorthor wohl reagieren wird?«
»Das spielt für uns keine Rolle mehr.«
In Remus’ Stimme hörte Joak dieselbe Angst, die auch in seinem Inneren wühlte. Dies war nicht das erste Mal, dass man ihn gefoltert hatte, und er war auch schon zum Tod verurteilt worden. Das hilflose Warten in einer Zelle war nie angenehm. Die Angst kam immer. Angst davor zu sterben und auch Angst davor, nicht mit hocherhobenem Kopf vor den Henker zu treten.
Aber dies hier war etwas ganz anderes. Man würde sie entmannen und ihnen im Hirn herumschnippeln, bis sie sich nicht einmal mehr der Tatsache bewusst waren, dass sie Menschen waren. Den erbärmlichen Rest ihres Lebens würden sie als lebende Zombies zubringen.
Er wandte sich um. Ihre Blicke trafen sich, sprachen aus, was sie wegen der Überwachungskameras nicht laut sagen konnten. Diese Genugtuung würden sie ihren Peinigern nicht bieten, hier offen in Verzweiflung zu fallen.
Obwohl …? Vielleicht lohnte es sich, um die Gnade zu bitten, als Mann sterben zu dürfen. Vielleicht würde man sie zusammen mit Elyn verbrennen. Zu dritt aneinander gefesselt auf einem brennenden Haufen Holz stehend, umgeben von diesen Schönheiten, deren unbeteiligte Augen Zeugen ihres letzten Augenblicks sein würden.
Hinter ihm öffnete sich die Tür.
*
Wie hypnotisiert fixierte Anjasia die steinernen Augen. Fast war es, als ob das Monument zu ihr sprach. Alte Texte, die sie als Kind oder junges Mädchen gehört hatte, kamen ihr wieder in den Sinn. Texte über MUTTER.
Fabeln, Sinnbilder und Gleichnisse!
Die Mutter der Lilim hatte ihre Haltung zu Folter, Mord und Unterdrückung deutlich dargestellt. Sie riss sich von dem Monument los und schritt langsam und nachdenklich den Park hinunter. Nicht zum ersten Mal kreisten ihre Gedanken darum, wieso Ideale und Realität in ihrer Welt nicht immer konform gingen.
Natürlich war es falsch gewesen, was Elyn getan hatte. Die Alyske hatte sie benutzt, ihr Vertrauen missbraucht. Im ersten Moment war sie sehr verärgert gewesen, aber war es richtig, sie deswegen zu verbrennen? Welchen Sinn hatte ein so qualvoller Tod? Der Schaden, den Elyn angerichtet hatte, wurde dadurch nicht rückgängig gemacht.
Im Gegenteil! Es war nicht gerecht. Es war falsch. Mit einem Mal war sich Anjasia sicher, dass sie etwas tun musste, um dem Recht, das sie empfand, Geltung zu verschaffen. Sie musste sich beeilen. Sie musste ins Gefängnis und Elyn befreien. Doch dazu brauchte sie Hilfe.
*
Die Frau war wunderschön! Bis auf die Augen … Das erste Mal in seinem Leben wich Joak vor einer Schönheit zurück. Diese Augen waren nicht nur kalt. Da war etwas in ihnen … Er konnte es nicht beschreiben.
»Remus Scorbit und Joak Cascal?«
Ihre Stimme war unbeschreiblich. Tief und voll tönend. Zu jeder anderen Zeit hätte sie Joak in ihren Bann geschlagen.
Sie blickte ihn direkt an. »Du bist Cascal?«
»Ja!« Es gelang ihm, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.
Ihre Augen wanderten zu Remus. »Scorbit!«
Remus sparte sich die Antwort.
Sie trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Einen Moment überlegte Joak, sie zu überrumpeln, sie als Geisel zu nehmen und zu fliehen. Besser auf der Flucht getötet werden, als sich in dieses Schicksal zu ergeben. Er spürte, wie Remus sich neben ihm anspannte. Sein Freund dachte dasselbe wie er.
Die Tür wurde weiter aufgestoßen. Einer dieser schwarzen Vögel schob seinen Kopf herein. Joak spürte den Griff nach seinem Geist, konnte sich nicht dagegen wehren. Nicht einmal Remus eine Warnung zuraunen.
Remus warf sich auf die Frau. Sie war nicht überrascht, wich seinem Angriff elegant aus. Zu zweit hätte es gelingen können, aber allein lief Remus, der darauf vertraute, dass sein Partner neben ihm war, ins Leere.
Scorbit wirbelte herum. Seine weit aufgerissenen Augen richteten sich erstaunt auf Cascal, der noch immer am selben Fleck stand, unfähig sich zu rühren. Hinter Remus hob sich die Krähe in die Luft. Verzweifelt versuchte Joak, ihr mit den Augen zu folgen, Scorbit ein Zeichen zu geben. Der Freund nahm ihn nicht wahr. Die Frau griff ihn an und er musste reagieren. Dann schlug die Krähe zu. Dunkelheit umfing Joak.
Und als er wieder sehen konnte, war alles anders geworden. Sie waren nicht mehr zu dritt. Eine weitere Hexe war aufgetaucht. Eine, die sie zu kennen geglaubt hatten.
»Christa!« Die Stimme war die von Anjasia, aber das Wesen, das sich erhob, jagte Remus einen Schauer über den Rücken. Der Kopf war der von Anjasia, aber ihr, jetzt nackter, Körper war ungleich muskulöser und schillerte in verschiedenen Farben. Auf ihrem Rücken entfalteten sich ein paar Flügel.
Schnell schwebte sie hinter Christa her, die zurückwich. Die Hände hielt sie nach vorn gestreckt wie die Klauen eines Monsters, und das war sie in diesem Moment in Remus’ Augen auch.
Ein Wesen aus der Mythologie – ein Sukkubus – schön und entsetzlich zugleich.
Christas Augen weiteten sich, als sie Anjasia ansah. Sie wollte herumwirbeln, erstarrte aber mitten in der Bewegung. Ihr Körper wand sich, als ob er in einem Spinnennetz gefangen war.
Anjasia griff nach einem Kasten. Ohne dass ihre Füße den Boden berührten, schwebte sie auf Christa zu. Ein kurzer, trockener Schlag und die Lilim ging zu Boden. Anjasia wandte sich um. Ihre nackten Füße patschten über den Boden, als sie zu den Männern zurückkam. Mit fliegenden Fingern löste sie die Fesseln, die Remus hielten. Mühelos zog sie ihn hoch. Ohne dass sich ihre Lippen bewegten, hörte er in seinem Kopf den Befehl, sich um Joak zu kümmern.
10. Wie eine echte Lilim
Mona trat zurück und betrachtete ihr Werk. Die Alyske war noch immer ohne Bewusstsein, auch wenn sie die Spuren der Misshandlung durch die beiden Tertiärentropen getilgt hatte. Nachdenklich betrachtete sie das helle Gesicht der Frau. Unvorstellbar, dass sie ein Alter haben sollte, das weit über das von Adelheid und jeder lebenden Lilim hinausging.
Niemand würde diese Frau auf älter als dreißig schätzen. Mona streckte die Hand aus und strich eine Strähne des mittlerweile wieder schwarzen Haares aus Elyns Gesicht. Zu schade, dass es bald nicht mehr existieren würde.
Die Alyske bewegte sich. Eine ihrer Hände fuhr hoch und tastete nach der Berührung. Eine unwillkürliche Bewegung. Nur langsam kehrte ihr Bewusstsein zurück.
*
Anjasia steuerte das kleine Flugboot mit atemberaubender Geschwindigkeit und beängstigend tief. Die Hexe war eine geschickte Pilotin. Remus saß auf dem Sessel des Copiloten, die Hände untätig in den Schoß gelegt. Immer wieder schob sich das Bild der verwandelten Lilim vor sein inneres Auge. Er rang mit dem Gefühl von Bedrohung und gleichzeitig schmerzhaftem Verlangen, das dieses Flügelwesen in ihm ausgelöst hatte.
»Weshalb starrst du mich so an?« Anjasia wandte den Kopf und musterte den Terraner.
Der zuckte verlegen zusammen.
»Solltest du nicht …«
Seine Hand deutete nach draußen auf die rasend schnell dahinziehenden Sträucher und Bäume. Wenn sie mit dieser Geschwindigkeit auch nur irgendetwas leicht tangierten, würde niemand das Boot unter Kontrolle halten.
Anjasia ließ das Steuer los und lehnte sich zurück. »Wieso?«
Remus’ Erschrecken wich so schnell, wie es gekommen war. Natürlich! Niemand flog bei dieser Geschwindigkeit selbst. Sie hatte die Führung an die automatische Steuerung abgegeben. Hinter ihm kicherte Joak. Er strafte den Freund mit einem bösen Blick.
»Also?«
Verwirrt richtete er die Augen wieder auf Anjasia. Die Augenbrauen der jungen Frau waren in einer fragenden Geste in die Höhe gezogen.
»Ich …« Wieder drängte ihre gewandelte Erscheinung in sein Bewusstsein, wurde in den Hintergrund gedrängt von einem anderen Bild.
Eine Armee von Lilim in ihrer gestaltwandlerischen Form. Nackt, verführerisch und mit unbekannten Fähigkeiten. Keine guten Gegner.
»Entschuldige! Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich wusste zwar, dass Lilim ihre Gestalt ändern können, aber ich habe es nie zuvor gesehen.«
Sie lächelte. »Wir machen es auch nur selten.«
»Ich danke dir, Anjasia!«
»Ich auch!« Joaks Stimme war ungewöhnlich ernst. Selbst ihm war die heitere Unbeschwertheit, mit der er sich sonst allen Dingen entgegenstellte, abhandengekommen.
Anjasias Wangen röteten sich leicht, und sie starrte wieder nach vorn auf die vorbeiziehende Landschaft.
»Ich war sehr wütend auf euch. Auf Elyn! Weil ihr mich benutzt habt und weil ihr unsere Welt ausspioniert habt. Aber euch deswegen auf diese Art verstümmeln …, eure Gehirne zu deformieren! Nein!« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht richtig!« Ihr Blick kehrte zu ihnen zurück. »Zumal ihr ja keine Feinde seid! Eigentlich meine ich. Schließlich gibt es da draußen einen ganz anderen Gegner. Und dann …«
Remus nickte. Er verstand, was die junge Frau zu sagen versuchte.
»Als Adelheid mich geschlagen hat … ich glaube, ich habe in diesem Moment verstanden. Es ist schwer für mich.« Ihr Mund war trocken und erlaubte kaum, die Worte klar zu artikulieren.
Joak überlegte, ob er es wagen sollte, sie zu umarmen. Er entschied sich dagegen.
Die rasende Jagd ging weiter. Anjasia hatte ihnen erklärt, was sie befürchtete. Die Liebe zu Elyn verlieh der heiteren jungen Frau eine Entschlossenheit, die nicht einmal sie selbst sich je zugetraut hatte. Doch es galt, ein Todesurteil zu verhindern. Adelheid hatte angekündigt, Elyn verbrennen zu wollen, und es gab keinen Zweifel, dass sie ihre Ankündigung wahr machen wollte. Trotzdem stieß Anjasia einen schrillen Schrei aus, als der Scheiterhaufen in Sichtweite kam.
»Wir müssen uns beeilen!« Remus starrte gebannt auf die Szene. Elyn stand an einem Pfahl inmitten lodernder Flammen. Ihr Kopf hing herab.
Anjasia jagte den Gleiter knapp über dem Boden direkt auf den schmalen Durchgang zu. »Haltet euch bereit!« Ihre Stimme war schrill vor Aufregung.
Joak zog Remus am Arm. Er hatte begriffen, was die junge Hexe plante. Sie hockten sich neben den Ausstieg, mit beiden Händen fest an die Haltegriffe neben der Tür geklammert.
Das Heck des Gleiters schleuderte herum. Warf die beiden Männer hart gegen die Wand. Fast zeitgleich öffnete sich der Einstieg. Remus rappelte sich als Erster auf. Er sprang aus dem Gleiter. Von irgendwoher ertönte ein Wutschrei. Adelheids Stimme! Doch es blieb ihm keine Zeit, sich umzusehen. Zwei weißgekleidete Lilim stürzten sich auf ihn.
Er wich dem ungestümen Angriff aus. Eine der Hexen trat nach ihm. Er stolperte einen Schritt zurück, bekam dadurch freie Sicht auf die Alyske.
Die zweite Lilim wirbelte zu Cascal herum.
Remus rammte den Ellbogen nach hinten. Ein stechender Schmerz zog durch seinen Arm. Hinter ihm schnappte die Hexe nach Luft, hielt aber ihren Griff eisern geschlossen. Er ließ sich rückwärts fallen. Krachte mit seinem ganzen Gewicht auf ihren Bauch. Etwas knackte. Die Hexe stöhnte, ihre Hände sanken schlaff herunter.
Links von ihm krachte Joak zu Boden, rechts begann Elyns Kleidung zu brennen und noch immer bewegte sich die Alyske nicht. Remus machte einen Schritt auf die Flammen zu. Hinter ihm drehte sich der Gleiter, feuerte eine Salve auf eines der Häuser, die den Innenhof begrenzten.
Ein Fuß hakte sich in seinen und brachte ihn zum Stolpern. Fluchend landete er auf den Ellbogen. Die Hexe hatte sich ebenfalls auf die Arme hochgestemmt. Hass loderte in ihren Augen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Elyns Kopf bewegte. Vielleicht war sie doch noch am Leben.
Die Lilim riss ihre Hand hoch, schleuderte ihm Dreck entgegen. Die Erde traf seinen Mund und seine Nase. Er hustete und warf sich nach vorn. Mit aller Macht schlug er die Faust von unten gegen das Kinn der Hexe. Wie gefällt kippte sie nach hinten. Remus sprang auf. Etwas weiter weg rang Joak noch immer mit der zweiten Hexe. Er wandte sich ab. Die Flammen loderten um Elyn, fraßen an dem zarten Körper. Remus atmete tief ein und sprang in die Flammen.
*
Adelheid schrie vor Wut. Sie erkannte Anjasias Gesicht im Cockpit des Flugbootes. Das willensschwache Luder schoss auf den Balkon, auf dem sie stand, und zwang sie zurück. Adelheid warf noch einen Blick auf den Platz im Innenhof, der zum Ort ihres Triumphs über Eorthor hätte werden sollen. Eine der Henkerinnen lag auf dem Boden und rührte sich nicht mehr, die andere rang noch mit einem der Terraner. Die Schutzkrähe! Adelheid wirbelte herum und rannte in den Raum hinein. Das schwarze Tier stand in der Ecke. Noch im Laufen griff sie nach ihrem Armband und aktivierte es.
*
Denkerin0001 biss sich auf die wulstigen Lippen. Soweit hätte es nie kommen dürfen. Adelheid hatte die Kontrolle über sich verloren und sich von ihrem Hass leiten lassen. Ihrem Hass auf Männer im Allgemeinen und auf Eorthor im Besonderen. Natürlich war der alte Alysker ein arrogantes, skrupelloses und zutiefst amoralisches Wesen, aber durfte man seine Tochter dafür büßen lassen? Selbst wenn sie sich als Spionin schuldig gemacht hatte? Unschlüssig blickte sie zur Treppe. Im Augenblick hatte es wenig Sinn, mit Adelheid zu reden. Sollte sie etwas tun?
*
Joak schlug mit der Faust zu. Der Kopf der Hexe flog nach hinten, aber ihre Hände lösten sich nicht von seinem Hals. Ihre Wut verlieh ihr eine unglaubliche Kraft. Er spürte, wie sich ihre Fingernägel tief in seinen Hals gruben. Blut tropfte herab. Ihm wurde die Luft knapp und auf dem Scheiterhaufen rang Remus verzweifelt mit Elyns Fesseln. Die Flammen, die seinen eigenen Körper malträtierten, ignorierte der Terraner mit verbissenem Gesicht.
Noch einmal holte er aus, legte seine ganze Wut und die Verzweiflung der vergangenen Stunden in den Schlag. Wieder flog der Kopf der Hexe nach hinten. Er schlug weiter zu. Wieder und wieder. Bis der Kopf der jungen Frau schlaff nach hinten fiel. Joak verschwendete keine Zeit. Er schleuderte den schlaffen Körper zur Seite und sprang zum Scheiterhaufen, in der Hand das kleine Werkzeug, das er aus dem Werkzeugkasten des Bootes genommen hatte.
Er drückte den Knopf. Sofort pulsierte ein rötlicher Energiestrahl am vorderen Ende. Er sprang, landete neben Remus, der verzweifelt versuchte, Elyns Körper gegen das Feuer abzuschirmen, und begann, die Fesseln zu zerschneiden. Seine beiden Freunde brannten.
*
Hasserfüllt blickte Adelheid dem Vogel hinterher, wie er sich vom Boden abstieß, zur Tür hinaus glitt und über den zerstörten Balkon nach unten segelte. So leicht würde sie ihre Beute nicht aufgeben. Sie sprang an eine der Konsolen und gab den Alarm für die Sicherheit ein. Hinter ihr zischte ein neuer Schuss des Gleiters in den Himmel. Sie biss sich auf die Lippen. Die Krähe! Aber nein. Da war sie! Mit einem hässlichen Schrei hob sich das künstliche Wesen in die Luft, um gleich wieder in einem Bogen nach unten zu stoßen.
Ein Lächeln umspielte Adelheids Mund. Noch war nichts verloren. Der Hof war zu eng. Anjasia konnte dort nicht richtig manövrieren. Schließlich hatte sie sich nach ihrer Ausbildung anderen Dingen zugewandt. Sie war keine geübte Pilotin. Sie würde das hier nicht schaffen.
*
Der Terraner! Anjasia ließ den Gleiter zu Boden sinken. Die Schutzkrähe paralysierte ihn und Elyn und der andere brannten. Sie riss den Gurt weg, griff nach der Energiepistole, die neben dem Pilotensessel befestigt war und stürzte zur Tür. Der Vogel war auf dem Pfahl gelandet. Sie nahm sich nicht die Zeit zum Zielen, sondern feuerte blind in seine Richtung und stürzte auf Cascal zu.
Mit aller Macht zerrte sie an dem schweren Körper. Er fiel nach vorn. Rollte. … Seine Hand fuchtelte durch die Luft und er lallte etwas. Anjasia konnte seine Worte nicht verstehen. Sie ignorierte ihn, wirbelte herum und warf sich auf Elyn, deren Kleidung immer noch glomm. Neben ihr rappelte sich Remus auf. Der Terraner sah furchtbar aus. Er hatte Brandblasen auf der Haut und seine Augenbrauen waren versenkt. Er taumelte an ihr vorbei und zog Cascal hoch. Sie tat dasselbe mit Elyn. Zerrte die Frau zum Gleiter und hinein in die relative Sicherheit. Remus folgte ihr mit dem paralysierten Joak.
Schwankend starteten sie. Der Gleiter schrammte über Mauerwerk. Dann waren sie unterwegs.
11. Denkerin0001 greift ein
Denkerin0001 beeilte sich, den engen Schacht hinauf zu schweben. Sie kannte Adelheid lange genug, um zu wissen, wie ihr nächster Schritt aussah. Deren persönliche Wache aus Tertiärentropen würde auf jeden Fall zu spät kommen, um das Flugboot zu stoppen. Sie brauchte die Lufteinheiten und die unterstanden nicht Adelheids Kommando.
Am oberen Ende des Schachtes versetzte sie ihre Flugscheibe in den Schwebemodus. Alle vier Tentakel arbeiteten fieberhaft daran, die Abdeckung von der Konsole zu entfernen, dann drückte sie den orangefarbenen Knopf, der die Hangartore der Flugboote verschloss. Eine Notvorrichtung, falls jemand mit einem Boot fliehen wollte. So schnell ihre Tentakel es erlaubten, drückte sie die Klappe wieder an ihren Platz und setzte den Weg in die Zentrale fort, wo sie Adelheid finden würde. Es war eindeutig genug. Sie durfte nicht weiter zulassen, dass Unvernunft ihre Handlungen bestimmte.
Natürlich war es eine unmögliche Tat von Eorthor, dass er seine Tochter als Spionin schickte, aber es gab gewisse Regeln. Einen Spion im Einsatz zu töten … war in Ordnung. Einen Spion zu foltern, auch damit hatte sie keine Probleme, aber persönliche Rachegelüste hatten bei einer solch ernsten Sache nichts verloren und deswegen erkaufte sie Anjasia mit den blockierten Toren genug Zeit, um zu fliehen.
Adelheid musste sich zunächst beruhigen, damit man überhaupt an ihre Vernunft appellieren konnte. Ihre Flugscheibe neigte sich sanft zur Seite, als sie um die letzte Ecke bog.
*
Adelheid riss das Kommunikationsgerät aus seiner Verankerung und schrie mit sich überschlagender Stimme hinein. Alle Gleiter sollten starten und die Flüchtlinge stellen. Sie wollte Anjasia vor ihren Füßen auf dem Boden sehen.
Anstatt sich zu beeilen, stammelte der Leiter in der Bereitschaftszentrale unverständliches Zeug vor sich hin. Ihre Hand umklammerte wütend das Gerät, als sie Denkerin0001 um die Ecke schweben sah. Die hatte ihr gerade noch gefehlt, aber halt … Immerhin waren ihre Leute in der Bereitschaft. Wütend, das Kommunikationsgerät wie einen Schild vor sich gestreckt, stürmte sie auf sie zu. »Deine Affen sollen die Flüchtigen stellen.«
Ruhig nahm sie das Gerät entgegen und ließ sich von dem unglücklichen Befehlshaber in der Zentrale berichten, dass die Hangartore blockierten. Mit ruhiger Stimme gab sie die notwendigen Anweisungen und nur wenig später sahen sie durch die Fensteröffnungen, wie sich mehrere Gleiter in die Luft erhoben. Viel zu spät. Adelheid riss ihr das Gerät aus der Hand. Mit fliegenden Fingern aktivierte sie einen neuen Code auf der kleinen Schalttafel. Die Leitstelle der Raumflotte meldete sich.
»Alle Passagen zum Normalraum sperren! Sofort! Für jeden! Niemand darf rein und keiner raus! Nicht ohne meine ausdrückliche Genehmigung!«
Denkerin0001 seufzte innerlich. Adelheid überschritt schon wieder ihre Kompetenzen, aber es war wohl sinnlos, sie im Moment darauf hinzuweisen. Das würde noch ein schweres Stück Arbeit werden.
*
Anjasias Herz wummerte. Immer wieder spulten sich die letzten Stunden vor ihrem inneren Auge ab. Ihr bisheriges Leben war zuende, es gab keine Rückkehr.
Sie hatte Christa k. o. geschlagen, mit einer Gleiterkanone auf Adelheid gefeuert und eine Schutzkrähe zerstört. Fest umklammerten ihre Hände das Steuer, bis die Handknöchel weiß hervortraten. Was sollte sie jetzt tun? Adelheid hatte sie mit Sicherheit erkannt, und selbst wenn nicht, würde Christas Aussage genügen, damit alle wüssten, dass nur sie Elyn gerettet haben konnte. Adelheid würde kein Erbarmen mit ihr haben. Eine Hand legte sich auf ihre.
»Wir sollten langsamer werden und das Boot landen, meinst du nicht?«
Joaks Stimme! Der Terraner hatte sich schnell von dem Angriff der Schutzkrähe erholt, sogar schon darüber gescherzt, dass er sich langsam daran gewöhnte. Sie blickte auf die vorbeirasende Landschaft. Er hatte recht. Sie mussten landen und sich um Elyn und Remus kümmern.
*
Eorthor starrte auf die Nachricht in seinen Händen. Elyn in den Händen von Adelheid! Und zum Tod verurteilt! Man würde seine Tochter verbrennen. Er spürte, dass er zitterte – und nicht nur vor Wut.
Ein Teil von ihm wunderte sich darüber, wie stark der Gefühlsaufruhr war, der ihn überflutete. Seine Elyn! Seine intelligente, starke und schöne Tochter. Die Fantasie erwies ihm einen Bärendienst und malte ihm in lebendigen Farben aus, wie die Flammen Elyns Haare verbrannten – er sah seine Tochter als glatzköpfige Horrorfratze, das Antlitz von der Hitze zerstört, deren Augen ihn anklagend ansahen.
Wütend warf er die Nachrichtenfolie von sich. Was geschah hier mit ihm? Eine solche Schwäche war seiner nicht würdig. Er musste sofort etwas unternehmen. Er musste diese verdammte Hexe wissen lassen, dass ihr Kampf jetzt persönlich geworden war.
*
Sanft landete die Lilim das Flugboot in der Höhle. Sie hatte es sicher und ohne Zögern in eine Schlucht hineingelenkt, war herabfallenden Lawinen ausgewichen und hatte sich zwischen engen Pässen hindurch geschlängelt. Joak nickte anerkennend. Die junge Hexe war nicht nur schön und mutig, sie war außerdem eine ausgezeichnete Pilotin.
Die Maschinen kamen zur Ruhe und Anjasia sank erschöpft zurück. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie war kreidebleich.
»Das war wunderbar!« Sanft legte Joak der jungen Frau seine Hand auf den Arm. »Wir alle verdanken dir unser Leben, Anjasia!«
Sie lächelte ihm erschöpft zu und ließ sich von ihm aus dem Pilotensessel helfen.
»Was Adelheid tun wollte, war nicht richtig!«
Joak nickte. Das sah er genauso. Zwar konnte man erwarten, mit dem Tod bestraft zu werden, wenn man sich als Spion erwischen ließ, aber was die alte Hexe geplant hatte, roch eindeutig nach Rache und Sadismus.
Gemeinsam begaben sie sich nach hinten, betrachteten Elyn und Remus. Die Alyske war noch immer ohne Bewusstsein.
Remus hingegen öffnete die Augen und drückte sich von der schmalen Pritsche hoch. Er hielt Anjasia seine rechte Hand entgegen. Anerkennung stand in seinen Augen. »Ich danke dir!«
Die Lilim errötete leicht. Verlegen und vorsichtig ergriff sie die Hand, die über und über mit Brandblasen übersät war.
»Du wirst Ärger bekommen.« Scorbit blickte sie besorgt an.
Anjasia schluckte. Der Terraner lag verletzt und mit Schmerzen vor ihr und seine Sorge galt ihr. Jetzt war sie sich ganz sicher, dass ihre Entscheidung richtig war.
»Es wird schon nicht so schlimm werden.« Sie kniete neben der Liege nieder, auf der Elyn lag und untersuchte die Alyske. Ihre Verbrennungen waren nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte, was vermutlich Remus’ selbstlosem Einsatz zu verdanken war. Sie wandte sich an Joak.
»In der Pilotenkanzel, gleich unter dem Statusmonitor gibt es ein Fach, in dem eine medizinische Ausrüstung liegt.«
Wortlos machte sich Cascal auf den Weg zurück in die Kanzel.
Anjasia hob Elyns Augenlider und schaute der jungen Frau in die glasigen Pupillen.
»Drogen!«
»Was?« Remus, der neben ihr kniete, konnte sich kaum aufrecht halten.
»Sie steht unter Drogen, glaube ich!«
Joak kam mit einem kleinen Koffer zurück. Anjasia griff danach, aber der Terraner zögerte einen Moment.
»Was ist?«
Irritiert blickte sie Cascal an.
»Der Funk lief noch!« Er schluckte schwer und sah die junge Hexe unglücklich an. »Adelheid hat dich zur Verräterin erklärt!«
12. Neuigkeiten
Denkerin0001 blickte auf den Monitor und spielte die Nachricht ihres Agenten erneut ab. Eorthor hatte sehr aufgeregt reagiert. Stärker als sie erwartet hatte. Nachdenklich wischte sie sich mit einem Tentakel über die Stirn.
Dass Adelheids vorschnelles Urteil diplomatische Folgen nach sich ziehen würde, hatte sie erwartet, aber Eorthor reagierte fast genauso irrational wie Adelheid. Offensichtlich hatte auch der machtbesessene Alysker seine Schwächen. Er konnte nicht verlieren und er hing überraschenderweise an seiner Tochter. Denkerin0001 beglückwünschte sich dafür, dass sie einen Agenten in Eorthors unmittelbarer Nähe platziert hatte.
*
»Anjasia?« In einem Reflex wollte Joak seine Hand auf die Schulter der jungen Hexe legen, zog sie aber im letzten Moment zurück.
»Was?«
Sie sah ihn nicht an. Ihre Stimme war fast tonlos. Es schnürte Joak das Herz zusammen. »Es tut mir so leid!«
»Was?« Sie wandte sich um, Überraschung in den großen Augen.
»Dass …«, es widerstrebte ihm das Wort auszusprechen, »dass man dich unseretwegen zur Verräterin erklärt hat.«
»Das ist nicht deine Schuld.«
»Doch! Doch das ist es.« Seiner Stimme hörte man an, dass es ihm ernst war mit dem, was er sagte. »Ich habe eine von euch nach der anderen betrogen. Ich war es, der das Armband aus Constances Quartier gestohlen hat. Ich war es, der es Eorthor gegeben hat, damit seine Techniker es entschlüsseln konnten, und dann habe ich es wieder zurückgebracht. So kamen wir auf diesen Planeten. Und danach ging der Betrug weiter. Wir flogen auf, als ich mich unbedingt an diese Frau ranmachen musste, bloß weil ich … Ich bin an all dem schuld. Und nun hab ich auch dein sorgloses Leben auf dem Gewissen. Es gibt für dich keine Rückkehr, und ich bin schuld.«
»Bist du als Einziger schuld?«
»Nein! Natürlich nicht, aber …«
»Dann gibt es nichts, wofür du dich entschuldigen musst, Joak Cascal.«
Der Name, den Anjasia eben erst erfahren hatte, klang aus ihrem Munde ungewohnt. Sie wandte sich wieder ihrer Patientin zu und ließ erstaunt das medizinische Gerät sinken. Auf Elyns Haut gab es keine Spur der Verletzung mehr. Sie überprüfte die Vitalzeichen der Alyske. Sie waren vollkommen normal.
»Ich bin weder dir noch Remus böse. Auch wenn es natürlich unfein war, uns auszuspionieren. Und was meine Entscheidung angeht, euch zu helfen, die habe ich ganz allein zu verantworten. Es ging um das, was ich empfand. Was ich als richtig erkannte.
Außerdem hat Elyn euch als ihre Freunde bezeichnet. Deshalb war klar, dass eine Befreiung Elyns ohne euch nicht sinnvoll ist.«
Beeindruckt blickte er die junge Frau an. Ihr Gesicht war noch immer blass, aber es strahlte jetzt auch Entschlossenheit und Härte aus.
Anjasia blickte wieder auf Elyn hinunter. Sie machte Anstalten, ihr Gesicht zu berühren, und schrak zurück.
»Was mich verletzt, ist die Art, in der Elyn mich hintergangen hat.«
Sie musterte die bewusstlose Frau. Die Behandlung hatte sie vollkommen geheilt, wie war das möglich?
»Und trotzdem hast du sie gerettet!«
Sie warf den Kopf zurück und wandte sich Remus zu. Mit einem neuen Gerät wiederholte sie bei ihm die Behandlung, die sie auch Elyn hatte zukommen lassen.
»Das kühlt.« Der Terraner seufzte erleichtert. Remus hatte erwartet, dass die Behandlung schmerzhaft werden würde. »Es ist angenehm.«
Anjasia lächelte zum ersten Mal, seit Cascal ihr die Hiobsbotschaft überbrachte hatte.
»Deine Wunden sind zum Glück nur oberflächlich. Nicht so ernst wie die von Elyn.«
Sie wandte kurz den Kopf und blickte auf die Alyske, deren Augenlider bereits flackerten. »Eigentlich hätte es bei ihr gar nicht so schnell wirken dürfen.«
Sie beendete Scorbits Behandlung und wandte sich wieder Elyn zu.
»Sie kommt zu sich.« Die junge Hexe runzelte die Stirn. Sie wunderte sich. Schließlich wusste sie nichts über das Jhi, das Elyn bisher nur benutzt hatte, um andere Wesen zu heilen.
13. Niadas Jagdfieber
Endlich kam die Verbindung zustande. Ungeduldig wandte sich Aurec dem Bild Eorthors zu.
»Was willst du?«
Unhöflich wie eh und je. Aber das war Aurec im Augenblick egal. »Ich habe hier etwas gefunden, das du dir ansehen solltest.«
»Lass mich in Ruhe!« Eorthor machte Anstalten, die Verbindung zu unterbrechen. »Ich habe im Moment andere Sorgen.«
»Na dann!« Aurec legte seinerseits die Hand auf den Hebel, der die Kommunikation beenden würde. »In dem Fall werde ich dieses eiförmige Ding, das an der Hülle eines Hexenschiffes klebte, selbst untersuchen. Ich dachte, es interessiert dich auch! Vermutlich eine Nachricht unserer Freunde …« Er legte den Hebel um und Eorthors Gesicht verschwand vom Monitor.
Gleich darauf flackerte es wieder auf. »Nicht! Bitte …!«
Aurec konnte sich nicht erinnern, dieses Wort schon einmal aus Eorthors Mund gehört zu haben. Er wollte schon eine entsprechende Bemerkung fallenlassen, als ihn etwas in den Augen des Alyskers zurückhielt. Wüsste er es nicht besser, würde er sagen, der Alte zeigte Angst.
»Aurec! Zeig mir deinen Fund. Schnell!«
Etwas in der Stimme veranlasste Aurec, den Techniker zu sich zu winken, der mit dem Ei in der Hand bereitstand.
»ALSKYP!«
Das klang wie ein Stoßseufzer. Die Situation wurde Aurec unheimlich. Wusste Eorthor etwas, was er nicht wusste?
»Das ist die KI, die ich Elyn und deinen beiden Terranern mitgegeben habe.«
Mit jedem Wort wurde er wieder mehr zu dem vertrauten, arroganten Alysker. Aurec spürte einen Anflug von Zorn. Eorthor behandelte ihn wie einen seiner Handlanger.
»Elyns Leben steht auf dem Spiel!«
Alle Wut verschwand aus Aurecs Gesicht. »Was …?« Der Schreck fuhr ihm bis ins Mark.
»Die Lilim haben sie erwischt. Adelheid will sie hinrichten lassen. Verbrennen! Vielleicht hat ALSKYP die Koordinaten der Welt der Entropen.«
Aurec riss das Ei an sich. Mit fliegenden Fingern gab er den Code ein, den Eorthor ihm übermittelte. Das ALSKYP erwachte zum Leben.
*
»Elyn.« Anjasia lächelte.
Die Alyske schwang die unbekleideten Beine von der Liege und blickte sich in dem Flugboot um. »Mir fehlt, glaube ich, ein wichtiger Teil der Geschichte.« Sie blickte Anjasia an. Derselbe schuldige Gesichtsausdruck legte sich auf ihr Gesicht, den schon Joak gezeigt hatte.
»Anjasia!« Ihre Hand legte sich in einer vertraulichen Geste auf die Wange der Lilim. »Es ist schön, dich zu sehen. Ich … ich wollte dich nicht betrügen. Ich verstehe das alles gar nicht. Ich weiß nicht, warum ich am Leben bin.«
»Das verdankst du ihr allein.« Joak schob sich neben die junge Hexe. Ohne weiteres Hallo erzählte er, wie die Lilim ihn und Remus vor der Verstümmelung bewahrt hatte und dann zu Elyns Rettung beigetragen hatte.
»Und das, nachdem ich dein Vertrauen auf so schändliche Weise missbraucht habe?« Ernst blickte die Alyske die Hexe an. Sie hielt jetzt Anjasias Hände mit ihren umfasst.
»Das war wirklich gemein von dir!« Anjasia seufzte. »Aber deswegen lass ich nicht zu, dass man dich verbrennt. Und du wolltest mich ja nicht betrügen, nicht wahr? Ich meine, als du mich kanntest? Ich …«
Elyn wich ihrem Blick aus.
»Tapfere Lilim!« Joak setzte sich respektvoll neben Anjasia. Sein Blick bohrte sich in Elyns Augen. »Wir haben Funksprüche aufgefangen. Adelheid hat Anjasia zur Verräterin erklärt!«
»Oh nein!« Elyns Augen verdunkelten sich.
»Ja!« Die Hexe zog wie fröstelnd die Schultern hoch. »Was tue ich jetzt nur?«
Elyn und die Terraner starrten sie hilflos an.
»Unsere Schwierigkeiten sind also noch nicht vorbei. Sie sind erst vorbei, wenn wir aus dieser Hyperraumblase raus sind. Und vorher müssen wir aus dieser Höhle raus, um überhaupt zur Passage der Hyperraumblase zu kommen.«
Remus lehnte sich erschöpft zurück. »Wäre ja auch zu schön gewesen.«
»Wie lange kann Adelheid die Zugänge zum Normalraum gesperrt halten?« Elyn nahm einen Schluck Wasser aus dem Rationsbeutel, den sie an Bord gefunden hatte.
»Lange genug, fürchte ich.« Anjasia zuckte hilflos mit den Schultern. Die junge Hexe war mit ihren Kräften langsam am Ende.
»Wenigstens sind wir wieder vereint.« Joak erhob sich und streckte sich ausgiebig, dabei wandte er sich der großen Front des Bootes zu. Das Blinken stach ihm ins Auge. Mit zwei Schritten war er im Cockpit. »Anjasia!«
Erschrocken sprang die junge Lilim auf. Die Unterhaltung verstummte.
Anjasia genügte ein kurzer Blick auf die Konsole. Mit einem Aufschrei warf sie sich in den Pilotensessel. »Festhalten!«
Geistesgegenwärtig setzte sich Joak in den Sitz des Copiloten. Keinen Augenblick zu früh. Das kleine Boot schoss, wie ein Projektil aus der Mündung, aus der Höhle heraus und rammte fast ein größeres Boot. Joak blickte sich nach Remus und Elyn um. Die beiden saßen gut gesichert auf ihren Plätzen. Zum zweiten Mal blieb ihnen nichts weiter, als auf die Flugkünste der jungen Hexe zu vertrauen.
Anjasia flog verdammt gut! Cascal grinste bei dem Gedanken, sie früher einmal nett und unbedarft gefunden zu haben. Die Kleine hatte viel mehr drauf, als er gedacht hätte.
*
»Da!« Niadas Finger schoss wie ein Speer nach vorn. »Da sind sie!«
Ihre Pilotin reagierte augenblicklich. Sie riss den Gleiter so heftig herum, dass Niada gegen die Wand geschleudert wurde. Das Boot der Flüchtigen war aus einer Höhle herausgeschossen und fast mit dem vordersten Aufklärer kollidiert. Erst im letzten Moment war es zur Seite weggezogen.
Der Pilot, wer immer es war, musste in Panik sein. In Niada erwachte der Jagdinstinkt. Sie warf sich auf den zweiten Sitz und riss mit ihren Kommandocodes die Waffenkontrolle an sich. Gleichzeitig schlug sie die Hand flach auf die Kommunikationsanlage.
»Niemand schießt auf das Schiff! Sie gehören mir! Schneidet ihnen einfach den Weg ab!«
*
Joak zerdrückte einen Fluch zwischen den Lippen. Hier so nutzlos auf dem zweiten Platz zu sitzen, gefiel ihm ganz und gar nicht. Da draußen verfolgten sie mindestens sieben Flugboote. Eines flog sogar an ihrer Seite. »Wie aktiviere ich die Feuerkontrollen?«
»Bist du verrückt?« Anjasias Stimme klag gepresst und empört. »Das sind meine Leute. Wahrscheinlich sind Freunde von mir mit auf den Gleitern. Du wirst niemanden töten.«
Fest packten ihre Hände das Steuer. Sie erhöhte die Geschwindigkeit weiter, obwohl das Tempo für das Gelände ohnehin schon viel zu hoch war. Links und rechts rasten die Felswände wie Schemen vorbei und unter ihnen zog der Boden wie ein außer Kontrolle geratenes Fließband dahin.
Joak hasste die Passivität, zu der er verurteilt war. »Sollten wir nicht etwas höher gehen?«
»Nein!« Anjasia biss die Zähne fest zusammen.
»Ich dachte nur …«
»Joak!« Elyns Stimme war sanft. Sie konnte Cascal gut verstehen. »Vielleicht solltest du sie nicht ablenken.« Der Terraner wandte den Kopf. Fast musste sie über sein unglückliches Gesicht lachen. Seine Schultern zuckten hilflos, dann schaute er wieder nach vorn. Die Füße fest in den Boden gestemmt, schien er unsichtbare Kontrollelemente zu bedienen.
Elyn lehnte ihren Kopf wieder an die Rückwand des Bootes. Es war nicht einfach, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren, wenn man in einem zerbrechlichen kleinen Boot dahin schoss. Ihre Bodenproben! Elyn schrak hoch. Sie brauchte ihre Proben, die sie versteckt hatte. Sonst war womöglich alles umsonst. Umso mehr, da sie nicht wusste, ob ALSKYP entkommen war.
*
Niada fluchte. Wieder war das Boot ihr im letzten Moment entkommen. Sie überlegte fieberhaft. Der Pilot schien das Gelände zu kennen, das sprach dafür, dass es Anjasia war, die das Boot steuerte. Sie runzelte die Stirn. Bisher hatte sie von dieser Träumerin eigentlich keine besonders hohe Meinung gehabt. Allerdings, der Rettungsflug für Elyn war beeindruckend gewesen. Und nun schlug sie ihren Verfolgern wieder und wieder ein Schnippchen. Auf jeden Fall würde sie sich in Zukunft näher mit Anjasia beschäftigen. Falls Adelheid sie am Leben ließ. Niada zog das Flugboot hoch und ließ es in einer steilen Kurve wieder fallen. Sie versuchte, vor das flüchtende Schiff zu ziehen.
*
Niadas Parademanöver! Sie waren zusammen in der Ausbildung gewesen, dann hatten sich ihre Wege getrennt. Schweiß rann Anjasia die Stirn herunter, brannte in ihren Augen. Ihre Gedanken jagten mit unglaublicher Geschwindigkeit hinter ihrer Stirn. Niada würde sich vor sie setzten und kurz vorher ihren Schild aktivieren. Die Energie des Schildes reichte aus, ihre Instrumente zu blenden. Dann waren sie verloren.
Sie schloss die Augen und biss die Zähne aufeinander. Ohne vorher zu stoppen, schaltete sie auf Gegenschub um. Das kleine Schiff bäumte sich auf, die Maschinen kreischten bei dieser derben Misshandlung, dann schossen sie rückwärts. Anjasia betete zu SI KITU, dass niemand direkt hinter ihr flog.
*
Der Boden näherte sich rasend schnell und mit ihm das Ziel. Niadas Hand schwebte über dem Knopf, der den Schild auslöste. In wenigen Minuten konnte sie Adelheid ihren Erfolg melden. Sie riss die Nase des Schiffes hoch, weg vom Boden. Der Schild flackerte auf, nahm ihr kurz die Sicht. Aber der erwartete Schlag, mit dem ihr Schild das verfolgte Boot treffen sollte, blieb aus. Niada kreischte vor Wut.
*
Joak öffnete vorsichtig die Augen. Er hatte nie damit gerechnet, dass ihm ein Flug einmal auf den Magen schlagen könnte, aber das Manöver, das Anjasia gerade vollbracht hatte, war der komplette Wahnsinn. Er würde es sich merken.
»Wir müssen raus.« Die Lilim schälte sich bereits aus den Gurten. »Er wird explodieren.«
Zu viert taumelten sie durch die Luke. Sie waren noch immer in der Schlucht.
»Los!« Anjasia deutete auf eine schmale Passage. »Wir müssen weg.«
Sie rannten los. Kamen nur wenige Meter weit, dann explodierte der Gleiter. Die Druckwelle warf sie zu Boden.
Anjasia war sofort wieder auf den Beinen. »Wenn wir Glück haben, verschwenden sie Zeit damit herauszufinden, ob wir mit explodiert sind.«
Die nächsten Minuten rannten sie über Geröll, sprangen über Büsche und die Reste von Lawinen und arbeiteten sich tiefer in den engen Riss hinein. Immerhin konnte man sie von der Luft aus nicht sehen.
Elyn schloss zu Anjasia auf. »Ich muss etwas abholen!«
»Was?« Die Lilim rannte weiter.
Elyn erkannte, dass sie den Landeplatz mit dem zerstörten Gleiter keineswegs zufällig gewählt hatte. Anjasia wusste genau wo sie sich befanden und wohin sie sie führte. »Ich hab Bodenproben genommen, die ich nicht zurücklassen möchte. Ich muss sie holen.«
»Solltest du nicht erst einmal dafür sorgen, dass du hier mit heiler Haut herauskommst?« Anjasia setzte mit Leichtigkeit über einen Stein. »Ich meine, immerhin bist du nicht allein. Die beiden Männer vertrauen dir.«
Wie sollte sie Anjasia das erklären? Hier ging es nicht darum, Eorthors Willen zu erfüllen, sondern Aurec zu helfen. Dem depressiven Aurec, der jeden Tag mit sich haderte, an dem er nicht nach Kathy suchen konnte.
14. Für eine Handvoll Proben
Nervös beobachtete Anjasia ihre Umgebung. Sie konnte nicht fassen, was sie hier tat. Anstatt sich in ein sicheres Versteck zurückzuziehen und zu überlegen, wie sie alle aus dieser gefährlichen Situation herauskamen, hatte sie Elyn nachgegeben. Die Alyske bestand darauf, ihre Bodenproben, die sie in einem Hotelzimmer in der Nähe des Raumhafens von Entrop-C versteckt hatte.
»Ich stimme Anjasia zu.« Joak zog die Stirn in Falten und betrachtete argwöhnisch das Haus, in dem sich der Teleporter befand. »Das ist Wahnsinn, Elyn.«
»Ich sehe das genauso.« Remus nickte. »Selbst wenn ALSKYP nicht entkommen ist, sollten wir lieber auf die Proben verzichten und überlegen, wie wir hier wegkommen. Immerhin haben wir auch so einiges zu berichten.«
Elyn schüttelte den Kopf. »Das, was wir haben, ist nichts! Wir brauchen die Proben. Ohne die sind selbst ALSKYPS Daten nur die Hälfte wert.«
»Was ist dieses ALSKYP, von dem ihr andauernd redet?« Anjasia ließ den Eingang des Teleporterhauses nicht aus den Augen. Es wurde nicht bewacht – und das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Die beiden Terraner blickten Elyn fragend an.
Die Alyske antwortete der Hexe. »ALSKYP ist eine Entwicklung meines Vaters. Es ist etwa so groß.« Mit den Händen maß sie ein Straußenei ab. »Eine Kombination aus Alysker- und Kypertech-Technologie – sprachgesteuert – die darauf spezialisiert ist, fremde Systeme zu hacken und Daten nach einem vorher festgelegten Suchmuster herunterzuladen. Und es ist begrenzt in der Lage, autark zu handeln.«
Die Hexe zog fragend eine Augenbraue hoch. »Autark?«
»In engen Grenzen!« Elyn zuckte mit den Schultern. »Es ist darauf programmiert, einem Gegner nicht in die Hände zu fallen. Es zerstört sich oder flieht.«
Mehr wollte sie nicht sagen. Sie mochte Anjasia – jetzt, wo sie wieder sie selbst war, fühlte sie sich mit Mögen besser –, aber sie war immer noch eine Lilim und musste nicht die letzten Geheimnisse des Eies erfahren, etwa dass es fähig war, mit Datenquellen zu kommunizieren und eigenständig den Weg nach Hause zu finden.
Anjasias Stirn umwölkte sich. Die Vorstellung, dass einem Fremden wie Eorthor sensible Daten in die Hände fielen, gefiel ihr nicht. Zu recht machte sie ihn für Elyns distanzierte Haltung verantwortlich.
»Was sind das für Proben, Elyn?«
Der Alyske entging der Unterton in der Stimme der Lilim nicht. So unbefangen wie möglich antwortete sie: »Bodenproben – Sand, Steine und so ein Zeug. Ich interessiere mich für die Geschichte deiner Heimat. Wie diese Welt entstand, ob sie sich vollständig von den Planeten im Normalraum unterscheidet oder ob es Gemeinsamkeiten gibt.« Das war wenigstens keine vollkommene Lüge.
Anjasia fühlte sich elend. Was tat sie hier? Diese Leute vor einer sadistischen Bestrafung zu retten war eine Sache, aber was Elyn, die sie aufrichtig geliebt hatte, nun verlangte … Andererseits … Sie seufzte lautlos. Sie hatte nicht den Eindruck, dass Elyn sie belog, und wenn etwas Schaden anrichtete, dann dieses Hightechei. Dagegen konnte sie wohl kaum noch etwas tun. Und ja, sie mochte diese neue Elyn, die sie jetzt kennenlernte. Sie mochte sie wirklich.
»Ich habe einen raumtauglichen Gleiter. Mit dem kommen wir genauso gut zum Raumhafen. Es dauert ein wenig länger, ist aber sicherer.«
»Kann man mit diesem Teleporter das Entropia-System verlassen?«
Elyns Frage klang harmlos. Anjasia schüttelte den Kopf. »Nein! Verlassen kann man das System nur mit einem Schiff.«
»Warum sollte Adelheid dann damit rechnen, dass wir einen Teleporter benutzen?«
Die Hexe biss sich auf die Unterlippe.
»Damit muss sie nicht rechnen. Die Benutzung der Teleporter wird protokolliert.«
Elyn zuckte mit den Schultern. Sie verließ kurzerhand die Deckung und rannte auf das Gebäude zu.
Joak und Remus folgten ihr. Anjasia zerdrückte einen Fluch zwischen den Lippen und schloss sich ihnen an. Elyn stürmte einfach in das Innere des Gebäudes. Die beiden Terraner zogen die Waffen, die sie aus dem abgestürzten Flugboot mitgenommen hatten. Zu dritt stürmten sie weiter. Anjasia rannte ihnen nach. Sie betete zu SI KITU, dass niemand getötet wurde.
*
Wütend starrte Aurec den Alysker an. Über den Daten, die er dem ALSKYP entnommen hatte, schien er seine Tochter vollkommen zu vergessen.
»Was willst du denn, dass ich tue?« Eorthors Augen musterten ihn ruhig und überlegen.
Aurec hasste diesen Ausdruck.
»Mit NESJOR den Normalraum verlassen und das Entropia-System angreifen?«
Er wollte keineswegs seine drei Freunde im Entropia-System zurücklassen. Zu viel hatte er mit Joak, Remus und Elyn durchgemacht, um sie so schändlich im Stich zu lassen.
»Du schweigst?« Eorthors Augen streiften ihn berechnend. »Denkst du darüber nach, dich mit deiner SAGRITON einer Invasion anzuschließen?«, spottete der Alysker.
Aurec unterbrach die Verbindung. Sollte das arrogante Ekel doch mit seinem Ei glücklich werden. Er jedenfalls würde etwas unternehmen.
Sofort nahm er Kontakt zu Roi Danton auf, der auf Som weilte.
Das lebensgroße Hologramm des Sohnes von Perry Rhodan erschien in der Zentrale der SAGRITON. Im Hintergrund sah der Saggittone den Chronisten Jaaron Jargon schreibend in einem Sonnenstuhl. Pyla saß daneben oder lag vielmehr in der Sonne. Mathew Wallace und Jan Scorbit waren ebenfalls dort. Sie alle machten einen vergnügten Eindruck und bereiteten sich auf ihre Reise zu diesem skurrilen Grimm T. Caphorn vor, um herauszufinden, was er über das Riff wusste.
»Oui?«
»Schlechte Nachrichten! Unsere Spione sind in Schwierigkeiten.«
Aurec schilderte Roi, was geschehen war. Viel wusste der Saggittone ja selbst nicht, doch auch Perry Rhodans Sohn war dafür, nicht tatenlos herumzusitzen und zu warten, bis Eorthor mit den Analysen dieser künstlichen Intelligenz fertig war.
*
»Hat Anjasia endgültig ihren Verstand verloren?« Niada konnte nicht fassen, was man ihr gerade gemeldet hatte. Sie hatten den Teleporter nach Entrop-A benutzt. Wie weit wollte sie mit ihrem Verrat gehen? Sie stellte eine Verbindung nach Entrop-A her und informierte die Sicherheit dort, dann meldete sie sich bei Adelheid und erstattete Bericht.
»Idiotin!« Das Gesicht der alten Lilim verschwand kurz vom Monitor.
Niada starrte verwirrt auf den leeren Schirm. Anstatt eines Lobes für ihr schnelles Handeln, beschimpfte man sie. Manchmal war es schwer, Adelheid nicht zu hassen.
Adelheid erschien wieder. »Sie sind immer noch auf Entrop-C!«
»Aber die Logbücher …«
»Kann man manipulieren.« Adelheid unterbrach ihren Einwand mit einer wegwerfenden Geste. »Vergiss nicht … wir reden hier über Eorthors Tochter! Sie wird Entropia verlassen wollen und das geht am besten vom Hafen auf Entrop-C aus. Dem einzigen Hafen, denn sie selbst kennt. Sie wird sich nicht auf Anjasia verlassen.« Adelheids Stimme war fest. Sie irrte sich bestimmt nicht. »Ich vermute, das Mädchen hat einiges bei ihrem Papa gelernt.«
»Die Protokolle des Teleporters manipulieren?« Niada schüttelte skeptisch den Kopf. »Sie müsste es ja auf beiden Seiten getan haben und …«
»Niada!«
Adelheids Gesicht wirkte amüsiert, nicht wütend, wie sie befürchtet hatte.
»Hör auf zu denken und schwing deinen Hintern nach Entrop-C. Wir treffen uns da!«
*
Anjasias Puls raste! Das war ein unglaublicher Adrenalinschub gewesen. Zu viert hatten sie den Teleporterraum gestürmt, besetzt und dann hatte Elyn das Log manipuliert. Beeindruckt hatte sie der Alyske zugesehen und bedauert, dass sie keine wirkliche Verbündete war. Von Eorthors Tochter hätten die Lilim eine ganze Menge lernen können.
Zum ersten Mal glaubte sie daran, dass ihren Schützlingen die Flucht gelingen konnte. Sie wischte den Gedanken beiseite, wollte sich nicht damit beschäftigen, was sie selbst tun würde. Elyn und die beiden Terraner gingen ganz selbstverständlich davon aus, dass Anjasia sie begleiten würde. Sie selbst war sich dessen nicht so sicher. Ihrem Gewissen zu folgen war eine Sache, Entropia zu verraten eine ganz andere.
*
Adelheids Grinsen war diabolisch. Immer wieder war sie in Gedanken durchgegangen, was die Alyske wohl tun würde. Auf den Vorteil ihrer Manipulation vertrauen und sich direkt zum Hafen wenden oder hatte sie die Nerven, erst einmal Informationen einzuholen? Sich zu überzeugen, dass ihre List geglückt war, so wie Adelheid es machen würde? Die Augen der Hexe glühten. Die Passagen zum Normalraum waren gesperrt. Den Hafen konnte sie eine Weile sich selbst überlassen.
Sie konnte es sich leisten zu spielen. Entschied sich dafür, dass Elyn ihr nicht unähnlich war. Sie würde sich ein Versteck suchen und Informationen sammeln. Ja! Das war es, was sie tun würde. Ihre Hände aktivierten die Kommunikationsanlage, gaben den Befehl ein, eine gewisse Kategorie von Hotels darüber zu informieren, dass die Spione bei ihnen absteigen könnten.
Nicht die ganz einfachen Häuser und auch nicht die Zwielichtigen. Nein! Adelheid wusste genau, welche Häuser sie an Elyns Stelle bevorzugen würde. Ihre Augen glühten unheimlich. Die alte Lilim hatte das Jagdfieber gepackt.
*
Ein Mittelklassehaus, das von einer nicht mehr jungen Lilim mit verkniffenem Gesicht geführt wurde. Graues Haar! Anjasia schüttelte den Kopf. Wie konnte man sich derart gehenlassen! Die Zeichen des Alters waren doch wirklich kein unumgängliches Schicksal.
Elyn nickte der Frau zu und steuerte, gefolgt von den Männern, den Flur im Erdgeschoss an. Ihr blieb keine Wahl, als den dreien zu folgen.
Am Ende des Ganges legte die Alyske ihren Daumen in die dafür vorgesehene Mulde und die Tür zu ihrem Zimmer glitt zur Seite. Das Zimmer war einfach und sauber. Elyn schloss die Tür sorgfältig hinter ihnen und ging zum Bett hinüber. Sie kniete sich auf die weiche Matratze und legte die Handflächen flach auf die schmale Konsole, die sich über dem Kopfende befand. Etwas knackte und ein Teil der Wandverkleidung fiel auf das Kopfkissen.
Die Alyske kümmerte sich nicht darum. Mit beiden Händen griff sie in die dunkle Öffnung. Als sie die Arme zurückzog, hielt sie vorsichtig einen Beutel zwischen den Fingern. Sie verstaute ihn sorgfältig am Körper. »So!« Sie sprang vom Bett herab und lächelte. »Das war es. Wir können los.«
»Wegen dem kleinen Täschchen so ein Risiko?« Joaks Blick zeigte deutlicher als jedes Wort, dass er nicht daran glaubte, dass der Inhalt das Wagnis rechtfertigte.
»Kommt schon.« Elyn ging zur Tür.
Joak zog die Wangen zwischen seine Zähne. »Irre ich mich oder wird sie ihrem Vater ähnlicher?«
»Nicht ähnlicher!« Remus versuchte, das ungute Gefühl abzuschütteln, dass ihn seit ihrem Abschuss verfolgte. »Sie hat seine Willensstärke und eine gute Portion seines Selbstbewusstseins. Ihre Fähigkeit zum Mitleid und ihre Attraktivität überdecken das nur meistens.«
15. Entscheidungen auf Entrop-C
»Was? Sie hat mich bestohlen? Nein, das kann ich gar nicht glauben«, sagte Constance Zaryah Beccash scheinbar aufgebracht, nachdem Niada ihr von dem Diebstahl ihres Codearmbandes berichtet hatte. Constance war gerade erst aus Siom Som zurück gekehrt. Und schon wurden ihr schockierende Neuigkeiten überbracht.
»Sie haben dein Vertrauen ausgenutzt. Adelheid ist wütend«, berichtete Niada. Sie stockte, als sie die alte Hexe von weitem erkannte. Adelheid trug ein rotes Kleid, welches ihr bis zu den Waden ging. Ihre Sandalen gaben den Blick auf dicke, grün lackierte Zehennägel frei. Constance starrte auf Adelheids Füße.
»Willst du sie küssen?«, fragte die Oberste Lilim, als sie angekommen war.
»Was? Nein«, schreckte Constance hoch. Dann sah sie Niada und Adelheid abwechselnd an.
»Es heißt, unsere Verbündeten haben mich bestohlen?«
»So ist es«, sagte Adelheid knapp und spazierte um Constance herum. Constance bemerkte sofort das Misstrauen der Alten. Verdächtigten sie etwa Constance des Verrats? Nun, sie sympathisierte mit den Terranern und Saggittonen, wollte Frieden und hielt nichts von den männerverachtenden Thesen vieler ihrer Schwestern. Doch sie war ebenso enttäuscht wie sie.
»Die Codes wurden dir zugewiesen. Es bleibt also nur die Theorie, dass Terraner während deines Aufenthalts in Siom Som an die Daten gelangt sind. Freiwillig oder gestohlen«, resümierte Niada und blickte Constance gehässig an. Die rieb sich die Augen.
»Gestohlen natürlich. Dabei waren sie alle so nett. Elyn, Joak und Remus. Ausgerechnet die? Nein, ich bin verwirrt, empört, verwundert und erstaunt. Das ist so richtig obskur.«
Adelheid winkte ab.
»Du bist ebenso naiv wie treudoof. Dir kann man zwar vertrauen, aber keine wichtigen Aufgaben anvertrauen.«
»Danke«, stammelte Constance. Nun traten ihr wirklich Tränen in die Augen.
Niada lächelte.
»Nun«, setzt Constance wieder an, diesmal betont naiv. Wenn die anderen sie für ein Dummchen hielten, dann passte das wohl. »Wissen wir denn, wo sich die drei Flüchtigen befinden?«
»Es sind vier. Sie haben die Lilim Anjasia auf ihre Seite gezogen.«
»Ach!«, rief Constance. Sie kannte Anjasia. Eine unauffällige und freundliche Natur. Eher ein Mauerblümchen, ein guter Kumpel und eine Naturliebhaberin, keine konspirierende Verräterin. Niada und Adelheid wandten sich von Constance ab und unterhielten sich abseits. Sie stellte sich an die Brüstung des Balkons und blickte über die Täler und Wälder. Überall standen kleine Ferienhäuser zur Erholung. Abgeschieden vom Stress der Metropolen und Arbeit.
Ryla trat näher. Sie erkundigte sich nach Adelheid und Niada.
»Oh, die machen wichtige Beratungen. Du solltest sie besser nicht stören.«
Ryla hatte Ehrfurcht vor Adelheid. Außerdem schätzte sie Constance, die offiziell als Agentin galt im Kampf gegen das Quarterium. Offenbar hatte sich Adelheid nie die Blöße gegeben, ihre wahre Meinung über sie den anderen Schwestern kund zu tun.
»Worum geht es?«
Ryla zögerte einen Moment, dann berichtete sie: »Eine besorgte Lilim meldete uns zwei Lilim in Begleitung zweier fremdartig aussehender Männer.«
Ryla übergab Constance einen Miniholoprojektor mit den Koordinaten. Die griff mit beiden Händen zu.
»Ich sehe mir das persönlich an«, sagte sie und machte sich auf den Weg.
*
Elyn, Joak Cascal und Remus Scorbit versteckten sich im Bad, als der Türsummer ging. Anjasias Herz raste. Hatte man sie entdeckt? Andererseits – besaß Adelheid die Höflichkeit, noch um Eintritt zu fragen? Sie betätigte den Türöffner. Vor ihr stand eine Lilim mit langen braunen Haaren in einem grünbraunen Dress mit schwarzen Stiefeln. Ihre Augen irisierten grün, blau und braun.
Constance! Constance Zaryah Beccash.
»Hab ich euch«, sagte sie und schob sich an Anjasia vorbei. »Ihr könnt rauskommen. Alle drei. Ich weiß, dass ihr hier seid. Was fällt euch ein, mein Codearmband zu klauen und für euer bescheuertes Unternehmen zu missbrauchen?«
Elyn, Joak Cascal und Remus Scorbit traten hervor. Anjasia verstand die Welt nicht mehr. Constance schien wütend zu sein, aber irgendwie doch nicht. Constance seufzte und ließ sich auf einen Stuhl nieder.
»Wir müssen noch sehr am gegenseitigen Vertrauen arbeiten. Verratet ihr mir, wieso ihr diese Agentenmission macht?«
Joak nickte.
»Die Entropen waren bisher nicht redselig und vertrauenerweckend uns gegenüber. Seid ihr Freunde oder Feinde? Wir müssen mehr über euch herausfinden.«
Constance stöhnte leise.
»Wir waren euch gegenüber arrogant und geheimnisvoll. Der Kurs von Katryna wird von Adelheid fortgesetzt. Ich verstehe euch ja. Aber ihr hättet fragen können.«
»Wie denn? Hallo Constance, möchtest du deine eigene Spezies verraten?« Joak wirkte ehrlich ratlos.
Constance sah ihn verwundert an. »Nein, aber ihr hättet sagen können, dass ihr meine ID-Karten kopiert und ich nichts verraten soll.« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Joak wechselte irritierte Blicke mit Elyn und Remus.
Constance erhob sich und streckte die Hände hoch.
»Wie dem auch sei. Ich ergebe mich, bin eure willenlose Sklavin. So wie Anjasia, bei der ihr ebenfalls euren Psychostrahler angewendet habt. Wir sind jetzt eure Gefangenen und Druckmittel im Austausch.«
Cascal war noch mehr erstaunt. Er hörte das Brummen von schweren Gleitern. Elyn sah aus dem Fenster.
»Wir kriegen Besuch«, sagte die Alyske.
Cascal überprüfte die Fluchtmöglichkeiten. Constance wollte sie offenbar nur hinhalten. Sie winkte Anjasia zu sich und stellte sich demonstrativ vor das Fenster. Die junge Hexe folgte ihrem Beispiel.
»Was soll das?«, wollte Cascal wissen.
»Sie sollen uns sehen«, erwiderte Constance. »Nun hoffen wir mal, dass Aurec mit der Denkerin0001 sprechen konnte.«
Cascal verstand nun gar nichts mehr. Da ertönte aus einem Lautsprecher die Stimme der Denkerin0001.
»An die drei Agenten. Nach kurzen und intensiven Verhandlungen mit dem saggittonischen Kanzler Aurec, dem Vertreter der Liga Freier Terraner Roi Danton und dem Alysker Eorthor sind wir zu einer friedlichen Übereinkunft gekommen. Ihr lasst eure gesammelten Daten zurück und lasst die beiden Lilim frei. Dann werdet ihr nach Som gebracht.«
Constance zwinkerte Cascal zu. Sie wartete zwei Minuten, dann rief sie mit volltönender Stimme:
»Die drei akzeptieren. Allerdings soll der Austausch erst in Siom Som stattfinden. Im Orbit von Som. Bis dahin bleiben Anjasia und ich ihre Geiseln.«
Währenddessen versteckte Elyn einen kleinen Teil der gesammelten Proben.
Ihnen wurde ein mittelgroßer Raumgleiter zur Verfügung gestellt. Nachdem Elyn, Cascal und Scorbit diesen sorgfältig nach versteckten Fallen durchsucht hatten, setzten sie sich mit den beiden Lilim ins Gefährt. Cascal steuerte den Gleiter zur SI KITU. Dort wurden sie im Hangar bereits von Adelheid, Niada und Denkerin0001 sowie drei Dutzend Tertiärentropen erwartet. Der Gleiter parkte. Durch die Frontscheibe konnten sich beide Parteien genau beobachten.
Schweigen herrschte. Was würde mit Anjasia geschehen? Würde Adelheid ihr den Psychostrahler abkaufen? Elyn hatte versucht, die junge Hexe davon zu überzeugen zu fliehen, doch Anjasia hatte abgelehnt. Sie war der Auffassung, dass das die diplomatischen Beziehungen noch erschweren würde. Sie würde ihre Strafe akzeptieren, sollte es eine geben. Mindestens jedoch würden ihr und Constance keine wichtigen Aufgaben mehr zugewiesen werden. Zum Glück war es nicht einfach, Constance als Beobachterin und Verbindungsperson zu den Terranern und Saggittonen abzulösen. Vermutlich würde sie diese Aufgabe behalten. Jedoch würde den Entropen ein Misstrauen in ihre Fähigkeiten bleiben.
Die SI KITU verließ durch das Portal die Hyperraumblase und erreichte das Siom-System. Dort fand nun der Austausch statt.
Die IVANHOE II und SAGRITON schwebten im Orbit von Som.
»Die Zeit ist gekommen«, sprach Denkerin0001. Sie schwebte auf ihrer Scheibe vor dem Gleiter. Neben ihr standen Adelheid und Niada. Beide wirkten ungeduldig.
Constance öffnete die Tür. Sie hielt inne und flüsterte: »Die Entropen planen eine Expedition ins Riff. Wir suchen nach Maya ki Toushi. Sie hat eine Aura der Hexen«, sagte sie und stieg aus. Anjasia hielt Elyn die Hand entgegen. »Ich benötige deine Proben aus dem Zimmer.« Elyn nickte und übergab sie schweigend. Dann hielt sie Anjasia sanft am Arm fest. »Du musst die Entropen verlassen. Bei uns ist es sicher. Nutze die nächste Chance, die sich dir bietet.«
Anjasia lächelte.
»Ich bin eine Lilim. Ich kann mich nicht aus meiner Verantwortung stehlen. Wenn es Änderungen im Rat der Lilim geben soll, dann doch nicht, wenn man sich verdrückt. Hass, Arroganz und Verachtung regieren die Entropen. Vielleicht kann ich einen Beitrag dazu leisten, das zu ändern. Lebe wohl, Elyn!«
Sie schenkte Elyn ein letztes Lächeln und stieg zusammen mit Constance aus. Gemessenen Schrittes gingen sie zu Adelheid und überreichten ihr die Proben.
»Ihr dürft jetzt losfliegen«, entschied Denkerin0001. Cascal steuerte den Gleiter aus dem Hangar und flog in Richtung IVANHOE II. Es war geschafft. Doch was würde aus Anjasia und Constance werden? Das Schicksal der beiden war ungewiss.
16. Eine sensationelle Entdeckung
Ein Bett! Joak machte sich nicht die Mühe, seine Kleidung abzulegen. In voller Montur fiel er auf die weiche Matratze und schnarchte, noch ehe sein Kopf das Kissen berührt hatte. Die junge Frau, die ihn zu seiner Kabine geleitet hatte, lächelte und verschloss leise die Tür. Obwohl Aurec seine Gäste direkt auf die Krankenstation des Schiffes gebracht hatte, machten an Bord bereits erste Gerüchte über ihre Abenteuer auf dem geheimnisvollen Planeten der Hexen die Runde. Das Mädchen lächelte. Auch wenn Joak nicht sehr gesprächig gewesen war, heute würde sie in der Kantine im Mittelpunkt stehen.
*
Eine heiße Dusche. Elyn ließ ihre Kleider zu Boden gleiten. Sie drehte das kalte Wasser auf. Vorsichtig prüfte sie mit einem Zeh die Temperatur, ehe sie unter den Massagestrahl trat. Mit geschlossenen Augen genoss sie einen Augenblick lang einfach die Kühle. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass Adelheid sie einfach hatte gehenlassen.
In Gedanken durchlebte sie noch einmal die letzten Stunden. Es war ein Wunder, das keiner von ihnen schwerer verletzt war. Sie dachte an Remus, der sich in die Flammen des Scheiterhaufens gestellt hatte, um ihr Leben zu retten. Er lag noch auf der Krankenstation, weil die Ärzte seine Haut und die Haarwurzeln regenerieren wollten.
Sie dachte an Cascal, der sich noch immer die Schuld an ihrer Gefangennahme gab. Dabei hatte er seinen Fehler schon mehrfach wiedergutgemacht.
Sie dachte an Anjasia, voll Sorge, dann voller Empfindung. So langsam wurde ihr klar, was die junge Frau ihr gezeigt hatte.
Elyn seufzte wohlig.
Ganz langsam ließ der Schrecken des Feuers nach.
*
Eorthor blickte sich im Hangar der IVANHOE II um.
Aurec kam ihm auf halben Weg entgegen. »Eorthor! Ich …«
»Spare dir das!« Seine Hand beschrieb eine wegwerfende Geste. »Wo ist sie?«
»Deine Tochter erholt sich! Ebenso wie die beiden Terraner. Die drei haben eine ganze Menge mitgemacht.«
»Ich will sie sofort im Konferenzraum sehen!«
»Nein!« Noch nie in seinem Leben hatte Aurec ein Nein so sehr genossen.
»Wie? Nein …?« Der Alysker war tatsächlich aus dem Konzept gebracht.
»Remus ist noch auf der Krankenstation. Cascal und Elyn brauchen Ruhe. Anordnung der Ärzte.«
»Ärzte!« Eorthor legte seine ganze Verachtung in dieses eine Wort. »Elyn braucht keine Erholung! Sie ist meine Tochter.«
Irrte er sich, oder hörte er tatsächlich einen Anflug von Stolz in Eorthors Stimme? »Man hat deine Tochter auf einen Holzstoß gestellt und angezündet, nachdem man sie zuvor geschlagen und gefoltert hat. Ich denke, da braucht auch eine Unsterbliche etwas Ruhe. Selbst wenn sie Eorthors Tochter ist.«
Eorthor schwieg. Zeichnete sich da eine Sorgenfalte auf seiner Stirn ab? So etwas wie Mitgefühl für seine Tochter?
Aurec winkte einen Roboter herbei. Das kugelförmige mechanische Wesen transportierte eine große Schatulle bei sich.
»Dort enthalten sind alle Daten, die die drei im Entropia-System gesammelt haben. DNA-Proben, Gesteinsproben, Downloads von Archiven und Aufzeichnungen. Wenn du Elyn einen Gefallen tun willst, untersuche ihre Arbeit aus den letzten Tagen«, sagte Aurec eindringlich.
»Ich werde euer größtes Labor benötigen. Informiere die dortigen Wissenschaftler, dass sie frei haben und mich nicht stören sollen«, beschloss Eorthor in seiner unnachahmlichen Art. Aurec gab die »Bitte« an den Kommandanten Xavier Jeamour weiter, der eine Forschungsstation räumen ließ. Der Roboter erhielt die Anweisung, den Alysker dorthin zu begleiten.
*
Langsam öffnete Elyn die Augen. Alles war noch verschwommen. Sie schloss sie wieder. Sie war noch so müde von den Strapazen. Doch Arbeit wartete auf sie. Sie musste das gesamte Material auswerten. Sie öffnete die Augen erneut, diesmal sah sie klarer und schreckte hoch!
»Vater!«
»Gut geschlafen, Tochter?«
Eorthor saß an ihrem Bett. Er hatte ihr sogar Frühstück gemacht. Zwei Nahrungsergänzungskapseln und ein Glas Vitaminwasser. Sie nahm brav das allzu gesunde Frühstück zu sich.
»Zieh dich an, wir müssen die Ergebnisse der Untersuchungen besprechen.«
Er drehte sich um und blickte an die Wand. Elyn sprang aus dem Bett und ging in die Hygienezelle. Dort wusch sie sich schnell und streifte frische Kleidung über.
»Welche Untersuchung?«, fragte sie schließlich.
»Ich habe das Material der Entropen ausgewertet. Die Ergebnisse sind überraschend. Eure Mission war erfolgreich.«
So viel Lob ihres Vaters hatte sie seit tausend Jahren nicht mehr bekommen. Sie begleitete ihn in den Konferenzsaal. Dort warteten bereits Aurec, Xavier Jeamour und Joak Cascal. Und es gab richtiges Frühstück. Terranische Brötchen mit süßem Honig und Marmelade. Croissants mit Schokolade. Frische Eier. Kaffee und Tee. Elyn war hungrig und schlug noch einmal zu. Es schmeckte himmlisch. Währenddessen betraten auch Roi Danton, Mathew Wallace, Gal’Arn, Jonathan Andrews und Lorif den Besprechungsraum.
»Sind wir jetzt endlich vollzählig?«, fragte Eorthor genervt.
Aurec nickte.
Danton schlürfte seine Tasse Kaffee laut. Wallace türmte einen Berg Rühreier auf seinen Teller.
»Dies ist eine wissenschaftliche Besprechung von großer Tragweite und kein Picknick«, rügte der Alysker.
Wallace räusperte sich. Elyn schenkte sich ihren Kaffeebecher voll und fragte Danton, ob er auch noch was haben wollte.
»Wir haben das aus Cartwheel verschwundene Galor-System mitsamt seinen Bewohnern gefunden!«
Stille!
Alle starrten Eorthor entgeistert an. Nun hatte er offenbar ihre Aufmerksamkeit. Elyn grübelte über die Aussage nach. Was meinte ihr Vater damit?
Nach einer Kunstpause, die ihr Vater ganz offensichtlich genoss, fuhr er dann fort: »Die Gesteinsproben als auch die DNA-Proben der Entropen sind eindeutig. Das Entropia-System wurde aus den Resten der Planeten des Galor-Systems erschaffen. Meine These lautet: Das Galor-System wurde 1306 NGZ aus dem Raumzeitkontinuum gerissen und in die Vergangenheit versetzt. Das System wurde auseinander genommen und neu gebaut. Es ist auch möglich, dass es sich in einem Zeitrafferfeld befand.«
»So wie Trokan und die Herreach«, warf Jeamour ein.
Elyns Vater hasste es, unterbrochen zu werden. Mit eisiger Miene erwiderte er jedoch eine Zustimmung.
»Korrekt. Die Entropen haben rund eine halbe Million Jahre Evolution innerhalb von knapp einem Jahr hinter sich gebracht. Doch nicht nur das System wurde künstlich neu geschaffen. Die Entropen-DNS ist eindeutig.«
Zur Veranschaulichung aktivierte er mehrere Hologramme, die die Entropen zeigten.
»Wir kennen vier Arten der Entropen. Die Hexen, die Denker, die Sekundärentropen und die Tertiärentropen. Ich konnte ihren Genpool analysieren. Sie haben terranische DNS, pelewonsische DNS und galornische DNS. Die Hexen verfügen zusätzlich über einen mir bisher unbekannten Genpool. Ich vermute, diese unbekannte DNS ist für ihre Fähigkeiten verantwortlich.
Um es verständlich auszudrücken: Die Entropen sind aus der Bevölkerung des Galor-Systems entstanden. Aus Galornen und aus quarterialen Terranern und Pelewons.«
Elyn ließ die Informationen sacken. Sie blickte in die Runde. Danton, Aurec, Cascal und die anderen wirkten verblüfft.
»Das bedeutet also, ein sehr mächtiges Wesen hat absichtlich das Galor-System damals aus dem Raumzeitkontinuum gerissen, um es im Hyperraum in einen Zeitraffer zu transferieren, wo es in aller Ruhe Gott und Frankenstein spielen konnte?«, fasste Danton zusammen.
»Primitiv ausgedrückt ja«, erwiderte Eorthor und ergänzte: »Die Entropen haben einen konditionierten Hass auf das Quarterium. Ferner scheint das Patriarchat eine besondere Rolle für die Hexen oder Lilim zu spielen. Dieses mächtige Wesen hat eine ganze Spezies gezüchtet und für eine bestimmte Aufgabe konditioniert: die Vernichtung des Quarteriums.«
»Demnach sind die Entropen unsere Verbündeten«, schloss Cascal.
»Jedoch mit Vorsicht zu genießen, wie ihr am eigenen Leib erfahren habt. Extremisten sind keine verlässlichen Verbündeten«, warf Aurec ein.
»Die Frage ist doch, welches Wesen ist so mächtig?«, wollte Gal’Arn wissen.
Eorthor zeigte den Anflug eines Schmunzelns.
»Die Mutter der Entropie natürlich. SI KITU!«
*
Schweigend wartete Aurec auf ein Zustandekommen der Verbindung. Er hatte sich so hingestellt, dass die Kamera, die das Bild übertrug, nur ihn erfasste.
Adelheids Gesicht erschien auf dem Monitor. »Was ist denn jetzt schon wieder?« Die alte Lilim machte einen genervten Eindruck.
»Ich entschuldige mich für die Störung, edle Adelheid.« Aurec konnte nicht verhindern, dass er die Hexe jetzt mit neuen Augen sah.
»Ja?« Adelheid musterte ihn befremdet. »Hast du mich gerufen, um mich anzustarren?«
Er riss sich zusammen. Es war nicht an der Zeit, die Entropen mit ihrer Entdeckung zu konfrontieren. Niemand außerhalb dieses Raumes würde zunächst von der Entdeckung der beiden Alysker erfahren. »Ich bitte um Entschuldigung. Die Verbindung schien gerade nicht stabil zu sein.« Er straffte sich. »Ich wollte in aller Form um die Erlaubnis ersuchen, das Portal nach Terra benutzen zu dürfen.«
»Was?« Adelheids Stimme peitschte durch den Raum. »Das ist doch die Höhe!« Sie wandte sich um.
Neben ihr schwebte Denkerin0001 ins Bild. »Die edle Adelheid hat recht.« Empörung schwang in ihrer Stimme mit. »Wie könnt ihr es wagen, nachdem ihr uns derart niederträchtig hintergangen habt, auch nur an eine derartige Bitte zu denken.« Ihr Doppelkinn waberte vor Entrüstung.
»Außerdem …« Adelheid hatte ihren Gefühlsausbruch überwunden. Ihre Stimme war kalt wie Eis. »Wir sind mit einem Projekt beschäftigt. Es erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit.« Ihre Hand senkte sich auf die Konsole, um die Verbindung zu unterbrechen.
»Warte!« Aurec hob die Hand.
»Wir ziehen es vor, erst einmal nichts mehr von euch zu hören, Bündnispartner!«
Der Bildschirm erlosch.
»Wichtiges Projekt!« Eorthor schüttelte den Kopf. »Krähen züchten!«
»Nein!«
Überrascht wandten sie sich Cascal zu.
»Eine Expedition ins Riff!«
»Was?« Aurecs Stimme war alarmiert.
»Joak hat recht.« Elyn erinnerte sich deutlich an Constances Worte. »Die Entropen planen eine Expedition ins Riff, um nach Maya ki Toushi zu suchen.«
»Weshalb?« Aurec fühlte eine starke Unruhe. Die Entropen betrachteten das Riff ausschließlich als Gefahr, die es zu vernichten galt. Mit allem, was sich darin befand, also auch mit Kathy. Sein Blick suchte Elyn. Die Alyske ahnte seine Gedanken. Sie nickte ihm zustimmend zu. Aurec sah auf sein Chronometer. Es war der 14. April 1308 NGZ. Roi Danton war vor wenigen Stunden zusammen mit Mathew Wallace, dem Chronisten Jaaron Jargon, der Riffanerin Pyla, einer Hexe namens Yvonne und Jan Scorbit zur Welt Herton IV aufgebrochen, um der Einladung dieses seltsamen Sektengurus Grimm T. Caphorn zu folgen. Doch er brauchte sie für die Expedition. So legte er endgültig das Datum für den Aufbruch auf den 20. April dieses Jahrs fest.
Dann sollte es zum Riff gehen. Um mehr über das geheimnisvolle kosmische Wunder in Erfahrung zu bringen, den Entropen zuvorzukommen und um Kathy endlich zu retten!
Ende
Im nächsten Roman treffen wir auf den illustren Grimm T. Caphorn. Der Medienguru lädt die ehemaligen Kriegsparteien ein, auf Herton IV seinen kosmischen Visionen zuzuhören. Mehr darüber schreibt Nils Hirseland in Band 114 mit dem Titel
GEIẞEL DES KOSMOS
DORGON-Kommentar
Kommentar I
Das verquere Unternehmen »Ausspionieren Entropias« ist durch die selbstlose Hilfe der Hexe Anjasia noch einmal gut für unsere drei »Spione« ausgegangen, diese sind wohlbehalten wieder nach Siom Som zurückgekehrt und Eorthor, als der eigentliche Nutznießer der völlig überzogenen Aktion, kann triumphieren.
Wie bereits aus meinem letzten Kommentar zu entnehmen war, halte ich das ganze Unternehmen für absolut überflüssig und, man verzeihe mir meine etwas blumige Wortwahl, völlig schwachsinnig.
Man sollte den Sinn des ganzen Unternehmens nur einmal umdrehen, um sich die Situation der Entropen zu verdeutlichen. Wie würde beispielsweise die LFT, mit Perry Rhodan an der Spitze, reagieren, wenn Lilim, unter Einsatz ihrer Para-Fähigkeiten, führende Mitglieder der Ligaadministration beeinflussen und dann Luna infiltrieren würden, um beispielsweise durch eine besondere Syntronik NATHAN anzuzapfen und so die militärischen Geheimnisse der LFT auszuspionieren. Dabei kommt noch hinzu, dass gerade die Position und der Zugang der Passageanker der Hyperraumblase essenzielle Bedeutung für die Sicherheit Entropias haben, da nur über diese das entropische System angreifbar wird. Bei der ganzen Streichelpolitik, die die LFT und die quarteriale Opposition gegenüber dem mörderischen Regime des Emperadors verfolgt, steht zu befürchten, dass diese Informationen über kurz oder lang nach Paxus gelangen und früher oder später quarteriale Mörder den Weg nach Entropia finden werden. In ihrer schizophrenen Haltung gegenüber dem Reich des Emperadors scheint es so, dass man den Lügen und Beschwichtigungen des alten Spaniers mehr Beachtung schenkt als den legitimen Interessen eines, zugegeben etwas gewöhnungsbedürftigen Bündnispartners, der jedoch seine Bündnistreue bereits mit dem Leben ungezählter Entropen unter Beweis gestellt hat.
Den Gipfel des ganzen Irrsinns (man verzeihe mir meine harten Worte) leistet sich Aurec, indem er überlegt, das Entropia-System direkt anzugreifen, um die drei Spione zu befreien. SI KITU sei Dank ist es nicht dazu gekommen, da Adelheid rechtzeitig einlenkte. Und doch zeigt gerade dieses Beispiel das irrationale Verhalten der gesamten chauvinistischen Führungsriege der Alliierten, die anscheinend durch eine weiblich dominierte Gesellschaft zutiefst verunsichert wird.
Jürgen Freier
Kommentar II
Dieser Roman war ein harter Brocken. Wir haben die Handlungslinien umgeschrieben, so wie sie zur neuen Version des Rideryon-Zyklus passen. In der jetzigen Form macht die Hexenwelt-Episode jedoch deutlich mehr Vergnügen.
Elyn hat etwas erlebt, das sie noch nicht kannte: Die hingebungsvolle Liebe einer fröhlichen jungen Frau, die alles Gute für sie wollte, unabhängig von Leistung und Wohlverhalten. Die sich einfach in sie verliebt hatte. Wenn sie Anjasia heimgebracht hätte, wie wäre ihr gestrenger Vater damit zurechtgekommen?
Hoffen wir, dass Constance und Anjasia aufs Neue einen Platz in Adelheids Herrschaftsbereich finden – und dass Elyn diese neue Art, aufeinander zuzugehen, im Herzen behalten kann.
Alexandra Trinley
GLOSSAR
Geschichte der Entropen
Galornia wurde mit dem gesamten Galor-System durch die Entität SI KITU nach dem Angriff von Torsors Bestien am 12. April 1306 NGZ aus dem normalen Raum-Zeit-Kontinuum gelöst und in eine Para-Realität eingebettet. Dabei wurde das System einem anderen Zeitbezugsrahmen unterworfen, was bedeutet, dass, im Vergleich zum Einsteinuniversum, ein Zeitsprung in die Vergangenheit von etwa 500.000 Jahren stattgefunden hat.
Als das ehemalige Galor-System im Jahr 1307 NGZ wieder in das »normale« Raum-Zeit-Kontinuum zurückkehrt, hat die Kultur der sich aus den überlebenden Galornen und Bestien entwickelten entropischen Volksgemeinschaft eine Entwicklung von ca. 500.000 Standard-Jahren hinter sich. Die unterschiedlichen Völker arbeiten eng zusammen und bezeichnen sich selbst als Entropen. Die Evolution der heute vorhandenen Populationen erscheint rätselhaft, jedoch belegen archäologische Funde auf Entrop-A (dem ehemaligen Galornia), dass der Ausprägung der heutigen Formen der unterschiedlichen Entropen, zumindest teilweise, eine natürliche Evolution zugrunde liegt. Allerdings müssen auch mehrmals Eingriffe in den Genpool der verschiedenen entropischen Völker stattgefunden haben bzw. muss in der Vergangenheit die natürliche Mutationsrate sehr hoch gewesen sein.
Die Bevölkerung Entropias besteht zur Jetztzeit (14. Jahrhundert NGZ) aus drei unterschiedlichen Rassen (siehe eigene Glossareinträge), die die Entropische Volksallianz bilden. Das Verhältnis der drei Rassen ist durch eine sehr ausgeprägte Arbeitsteilung und Spezialisierung bestimmt, die terranische Soziologen und Anthropologen bei oberflächlicher Betrachtung an einen Insektenstaat erinnert.
Auf Galornia überlebten anscheinend hauptsächlich Galornen und gestrandete Bestien, was in den beiden quantitativ vorherrschenden Populationen der Sekundär- und Tertiärentropen zum Ausdruck kommt. Für diese Populationen konnten die Anthropologen entsprechende Fossilien auf Entrop-A nachweisen. Inwieweit überlebende Terraner und andere Thoregon-Völker in den Genpool der entropischen Volksgemeinschaft eingegangen sind, ist Gegenstand einer erbitterten wissenschaftlichen Auseinandersetzung zwischen den Genetikern der Untersuchungskommission der Universität Terrania. Auf jeden Fall ist die genetische Herkunft und anthropologische Entwicklung der Primärentropen und vor allem der sogenannten Hexen noch lange nicht geklärt, was auch daran liegt, dass die Hexen zwar einem wissenschaftlichen Team der Universität Terrania umfassende Untersuchungen auf Entrop-A erlaubt haben, jedoch sich nach wie vor biologischen, genetischen und anthropologischen Untersuchungen verweigern.
Entropia-System
Das Sonnensystem von Entropia befindet sich in einer Hyperraumblase.
Den »inneren Ring« bilden acht Planeten, die alle eine Schwerkraft von 1,2 g besitzen. Diese Planeten verfügen über eine »normale« Stickstoff-Sauerstoff-Atmosphäre und entsprechen weitgehend der ursprünglichen Welt Galornia. Auf der elliptischen Umlaufbahn sind die Planeten in Form eines Achtecks angeordnet und tragen die Eigennamen Entrop-A bis Entrop-H.
Der »äußere Ring« wird durch sechs Planeten gebildet, die sich ebenfalls auf einer konzentrischen Umlaufbahn befinden und ein Sechseck bilden. Bei diesen Planeten handelt es sich ausschließlich um Eiswelten mit einer Stickstoff-Methan-Atmosphäre, deren Schwerkraft bei 3,2 g liegt. Diese Welten bilden durch gewaltige Rohstoffvorkommen die industrielle Basis der entropischen Volksgemeinschaft und tragen die Eigennamen Mol-I bis Mol-VI.
Zur aktuellen Handlungszeit sind die Welten Entrop-B bis Entrop-H von einer gemischten Bevölkerung aus allen Mitgliedern der entropischen Volksgemeinschaft besiedelt. Entrop-A ist ausschließlich den Hexen und den Denkern vorbehalten.
Auf den »äußeren Welten« befinden sich gewaltige Fabrik- und Werftanlagen, die vor allem durch die Primär- und Sekundärentropen gewartet werden.
Das gesamte Entropia-System stellt eine eigene Para-Realität dar und ist durch ein unbekanntes Energiefeld vom Einsteinuniversum abgetrennt. Inwieweit das gesamte System innerhalb des Raumes bewegt oder versetzt werden kann, ist unbekannt.
Primärentropen (Volk des Geistes)
Entwicklung
Über die Herkunft der »Denker« ist fast nichts bekannt, sie gleichen in ihrem Aussehen keinem anderen entropischen Volk. Genanalysen legen jedoch die Vermutung nahe, dass sie entweder durch Genmanipulation oder beschleunigte Mutation aus dem Genpool der ursprünglichen Bestien und Galornen entstanden sind. Eventuell sind hierbei genetische Eigenschaften anderer Thoregon-Völker beteiligt.
Physiognomie
Das Aussehen der Denker kann nur als skurril bezeichnet werden. Bei männlichen Exemplaren ist ein riesiger Kopf durch einen langen, dünnen Hals mit dem fast ballförmigen Torso verbunden. Aus dem Torso ragen vier lange, tentakelförmige Arme, die nach allen Seiten beweglich sind. Diese enden in jeweils einer schmalen, sechsgliedrigen Hand mit zwei gegenüberliegenden Daumen. Irgendwelche Gliedmaßen, die zur Fortbewegung dienen können, fehlen völlig. Die Hautfarbe ist blau, wird jedoch mit zunehmendem Alter immer heller.
Der ovale Kopf wird durch vier paarweise angeordnete Augen und eine gewaltige Knollennase beherrscht. Den absonderlichen Eindruck komplett machen die beiden seitlich angeordneten Schlappohren, die an einen Cocker Spaniel erinnern und mit langen Haaren bedeckt sind. Der übrige Kopf ist kahl.
Weibliche Vertreter der Spezies sind größer und besitzen einen etwas anderen Körperbau. Der Torso ist bei ihnen nicht kugelförmig, sondern gleicht mehr einem Flaschenkürbis, der in der Mitte eingeschnürt ist.
Haarfarbe
Bei männlichen Denkern ist die Farbe der Ohrhaare überwiegend braun, bei weiblichen Exemplaren schimmern diese in allen Regenbogenfarben.
Augenfarbe
keine bestimmte
Körpermaße
Die Größe variiert zwischen etwa 1,20 und 1,60 m, wobei die weiblichen Denker grundsätzlich größer sind.
Gewicht
durchschnittlich etwa 60 bis 90 kg
Stoffwechsel, körperliche Fähigkeiten
Die Denker sind warmblütig. Sie ernähren sich rein vegetarisch durch feine Kräuter und Pflanzensprossen, die sie roh verzehren. Darüber hinaus essen sie gewisse Knollenwurzeln, die jedoch zuvor gekocht werden müssen.
Der Körper ist äußerst widerstandsfähig, nur der gewaltige Kopf ist gegen äußere Einwirkungen, z. B. durch Schläge, empfindlich.
Die Denker haben die Fähigkeit, sich innerhalb von Schwerefeldern zu bewegen, d. h. sie besitzen eine Art natürlichen Antigravantrieb. Aus diesem Grund benötigen sie zur Fortbewegung auch keine Gliedmaßen. Dabei kann der Körper auf über 60 km/h beschleunigt werden. Wenn Gefahr droht, sind sie in der Lage, den unteren Teil des Körpers, ähnlich wie ein Haluter, strukturell zu verhärten und praktisch ein natürliches Geschoss zu bilden. Allerdings können massive Hindernisse nicht durchschlagen werden, da der Kopf nicht geschützt ist.
Die Lebenserwartung ist unterschiedlich und bewegt sich in einem Zeitrahmen von etwa 300 bis 800 Jahren. Die Ursache hierfür ist unbekannt.
Partnerschaft und Fortpflanzung
Das »Volk des Geistes« ist zweigeschlechtlich, wobei die Fortpflanzung durch einen komplizierten Prozess erfolgt. Während des Paarungsaktes ist der weibliche Teil dominant, der Empfängnis geht ein intensiver Akt voraus, der bis zu 90 Minuten dauern kann.
Nach vollzogener Befruchtung reift der Fötus zuerst innerhalb der Vorgebärmutter des weiblichen Teiles und durchläuft dort die erste Entwicklungsphase, die etwa 90 Tage dauert. Während dieser Zeit ist der männliche Partner durch spezielle Hormone, die nur während weiterer Geschlechtsakte vom weiblichen Partner übertragen werden können, an diesen gebunden. Nach Abschluss dieser Phase muss der Fötus während eines weiteren Paarungsaktes vom weiblichen auf den männlichen Partner übertragen werden, der in der Zwischenzeit, unter dem Einfluss der übertragenen Hormone, einen Brutbeutel entwickelt hat. Nach der Übertragung wächst der Fötus innerhalb dieses Brutbeutels heran und verlässt diesen nach etwa 160 Tagen.
Mit dieser »Geburt« endet die Verantwortung des männlichen Partners, die weitere Erziehung ist allein die Sache der Mutter. Jedoch bleiben beim männlichen Partner Hormonreste zurück, die es im Normalfall verhindern, dass sich die gleichen Partner ein zweites Mal paaren. Während der durchschnittlichen Lebenszeit einer Denkerin ist diese, im Abstand von mehreren Jahren, etwa 5 bis 12 Mal empfängnisbereit.
Die Kindheit der Denker dauert etwa 30 bis 35 Jahre, die Mutter bildet dabei mit ihren noch nicht erwachsenen Kindern eine Familie. Oft kommt es vor, dass sich Schwestern bei der Erziehung ihrer Kinder zusammenschließen und eine Großfamilie bilden.
Die Väter der Kinder spielen dabei keine Rolle.
Eine Besonderheit der männlichen Denker ist, dass sie normalerweise, außerhalb einer Fortpflanzungspartnerschaft, nur über latente Geschlechtsorgane verfügen, erst der Wunsch einer Denkerin nach Paarung führt, wiederum durch Hormonübertragung, zur Ausbildung der Geschlechtsorgane. Dabei kann der weibliche Teil bewusst steuern, ob der Paarungsakt zur Empfängnis führen soll.
Darüber hinaus nähren und erziehen die Denkerinnen die Babys der Sekundärentropen, die sich zu Hexen entwickelt haben. Diese werden in ihrer Kindheit Teil der Großfamilie.
Besondere Fähigkeiten
Das »Volk des Geistes« verfügt über ausgeprägte parapsychologische Fähigkeiten, die jedoch geschlechtsspezifisch sind. Beide Geschlechter sind starke Telepaten.
Männliche Denker sind Suggestoren und in der Lage, die völlige Kontrolle über den Körper eines anderen Lebewesens zu übernehmen. Diese Fähigkeit kann dazu benutzt werden, andere Lebewesen durch psionische Überladung des Nervensystems zu töten.
Die Denkerinnen sind Telekineten und können, ähnlich wie die Báalol-Priester, gegen sie gerichtete psionische Energie auf einen möglichen Angreifer zurückwerfen. Allerdings verfügen sie, im Unterschied zu den Antis, nicht über die Fähigkeit der Individualaufladung von Schutzschirmen.
Im Unterschied zu den anderen entropischen Völkern haben die Denker keine individuellen Namen, sondern tragen nur eine Nummer, die ihren Rang innerhalb der Volksgemeinschaft widerspiegelt.
Das »Volk des Geistes« denkt überwiegend rein logisch, hat jedoch einen grotesken Humor, der auf andere Wesen oft sehr verletzend wirkt.
Sekundärentropen
Die Sekundärentropen sind als die eigentlichen Nachfahren der ursprünglichen Galornen anzusehen, jedoch, und das ist unzweifelhaft, müssen in der Vergangenheit Vermischungen mit zweigeschlechtlichen Bestien aufgetreten sein, was durch entsprechende Körpermerkmale und Genanalysen eindeutig nachzuweisen ist. Bei den heutigen Formen sind jedoch keine Paarungen mit den Nachkommen der Bestien (Tertiärentropen) bekannt. Außerdem legen unregelmäßig auftretende atypische Geburten nahe, dass auch das Erbgut von humanoiden Rassen im Genpool der Sekundärentropen enthalten ist. Die Sekundärentropen sind ausschließlich zweigeschlechtlich.
Physiognomie
Die Sekundärentropen sind schlanker als ihre Vorfahren, jedoch genauso muskulös. Ihre Hautfarbe ist ein helles Blau, das manchmal leicht rötlich schimmert. Der Kopf wird von einem stacheligen Kamm abgeschlossen.
Genau wie die Tertiärentropen verfügen sie über drei Augen und sind sechsgliedrig, wobei die beiden Armpaare jedoch nicht unterschiedlich ausgeprägt sind.
Männliche Vertreter der Spezies verfügen über einen ausgeprägten Vollbart, während dieser bei den weiblichen Vertreterinnen ihres Volkes fehlt. Stattdessen ist der Kopf durch einen weichen Haarflaum bedeckt.
Der weibliche Teil der Spezies hat, im Unterschied zu den Ur-Galornen, markante Geschlechtsmerkmale herausgebildet. Nach Eintritt der Pubertät entwickeln die weiblichen Sekundärentropen ausgeprägte Brüste, die jedoch im Unterschied zu den menschlichen aus reinem Muskelgewebe bestehen und sich nach dem Ende der Gebärfähigkeit wieder zurückbilden. Im Gegensatz zu den männlichen Vertretern der Spezies verfügen sie über leichte telepathische Fähigkeiten.
Wie eingangs bereits ausgeführt, können auch atypische Exemplare der Sekundärentropen geboren werden. Diese gleichen, bis auf die typischen Schläfenhörner, dem »Volk der Macht« (siehe Glossareintrag).
Haarfarbe
Männliche Sekundärentropen haben keinen Haarwuchs, jedoch ausgeprägten Bartwuchs, was als Merkmal einer ausgeprägten Männlichkeit gilt. Die weiblichen Sekundärentropen haben einen feinen Flaum, der den Kopf bedeckt. Beiden ist ein stacheliger Kamm auf dem Kopf gemeinsam. Die Bart- oder Flaumfarbe kann das gesamte Farbspektrum umfassen.
Augenfarbe
dunkles Rot
Körpermaße
Die Körpergröße variiert zwischen ca. 1,90 und 2,10 m, die Schulterbreite beträgt etwa 80 cm, wobei die männlichen Sekundärentropen i.d.R. größer und muskulöser sind.
Gewicht
durchschnittlich etwa bis 170 kg
Stoffwechsel, körperliche Fähigkeiten
Die Sekundärentropen sind Warmblüter. Ihr Nahrungsspektrum umfasst sowohl pflanzliche als auch tierische Nahrung. Normalerweise bevorzugen sie jedoch pflanzliche Nahrung. Sekundärentropinnen nehmen während einer Schwangerschaft auch tierische Nahrungsmittel zu sich.
Sekundärentropen können ihr Blut mit Sauerstoff übersättigen, so dass sie bis zu 35 Minuten in einer sauerstoffarmen oder sauerstofflosen Umwelt ohne technische Hilfsmittel überleben können. Jedoch verfügen sie nicht über die Fähigkeit, im Vakuum ohne entsprechende Ausrüstung zu überleben.
Die genetische Verwandtschaft mit den Tertiärentropen kommt auch darin zum Ausdruck, dass sie sich ebenfalls an unterschiedliche Schwerefelder anpassen können. Die Bandbreite der natürlichen Anpassung liegt zwischen 1 und etwa 2,5 g.
Weibliche Sekundärentropen sind schwache natürliche Telepathen. Sie können sich allerdings nur mit den anderen Mitgliedern der entropischen Volksgemeinschaft in Verbindung setzen.
Die Lebenserwartung der männlichen Sekundärentropen beträgt etwa 650 Jahre, weibliche Vertreterinnen der Spezies können über 800 Jahre alt werden.
Partnerschaft und Fortpflanzung
Sekundärentropen leben in einer Vielehe, was hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass das Verhältnis von männlicher zu weiblicher Bevölkerung 5:1 beträgt. Aus diesem Grund sehen die Sekundärentropen ihre Partnerin als besonders schützenswert an. Eine geschlossene Ehe besteht normalerweise auf Lebenszeit und kann nur unter besonderen Umständen geschieden werden. Eine Sekundärentropin lebt i.d.R. mit vier bis fünf männlichen Ehepartnern zusammen und bleibt in gesondert geschützten »Familienburgen« zurück. Ihr obliegt die Erziehung der Kinder, wobei normalerweise ein männlicher Partner die Rolle des »Vaters« der Kinder ausfüllt und sie in der Erziehung unterstützt. Während der Lebensspanne von etwa 800 Jahren kann eine Sekundärentropin, im Gegensatz zu den Ur-Galorninnen, etwa 12 bis 15 Kinder gebären. Eine Schwangerschaft dauert ca. 30 bis 32 Monate. Nach einer Geburt erlischt die Empfängnisbereitschaft für etwa 20 Jahre.
Die weiblichen Sekundärentropen leben sehr zurückgezogen in besonders geschützten »Familienburgen« und treten normalerweise nicht in der Öffentlichkeit auf.
Weibliche Föten können während der Schwangerschaft, unter ungeklärten Umständen, überragende parapsychologische Fähigkeiten und eine völlig abweichende Physiognomie entwickeln. Diese Säuglinge teleportieren sofort nach der Entbindung nach Entrop-A. Dabei kann es öfter zu Fehlteleportationen kommen, d. h. die Säuglinge teleportieren entweder in den freien Raum oder sind nicht in der Lage, telepathisch auf sich aufmerksam zu machen, und sterben. Diese Geburten sind äußerst selten, deshalb liegt der Anteil dieser als »Hexen« bezeichneten Art weit unter einem Promille der Gesamtbevölkerung.
Des Weiteren entwickeln etwa 5 % der männlichen Säuglinge eine weitgehend humanoide Physiognomie, d. h. sie gleichen mehr oder weniger den humanoiden Völkern, wobei ihr Aussehen jedoch stark variieren kann.
Besondere Fähigkeiten
Männliche Sekundärentropen sind sehr muskulös und in ihrer Jugend schlank. Mit zunehmendem Alter neigen sie zur Fettleibigkeit und nähern sich immer mehr dem Aussehen der ursprünglichen Galornen. Sie verfügen nur über geringe paraphysikalische Fähigkeiten, die meist nur latent vorhanden sind. Dafür haben sie eine ausgesprochene Begabung in technischer und wissenschaftlicher Hinsicht. In der ersten Hälfte ihres Lebens sind sie eigentlich sehr gute Kämpfer, jedoch trat diese Fähigkeit nach der Bildung des gemeinsamen Reiches mit den Tertiärentropen in den Hintergrund. Zur aktuellen Handlungszeit sind sie hauptsächlich in der Forschung und Entwicklung tätig und bilden vor allem das technische Personal der gemeinsamen Raumflotte.
Tertiärentropen
Die Tertiärentropen sind überwiegend aus dem Genpool der auf Galornia gestrandeten Bestien entstanden. Zu diesen gehörten sowohl eingeschlechtliche als auch zweigeschlechtliche Exemplare. Aus archäologischen Funden und uralten Mythen kann geschlossen werden, dass es dabei mehrmals zu gemeinsamen Nachkommen mit den überlebenden Galornen gekommen sein muss. Die heutigen Formen der Tertiärentropen sind jedoch ausschließlich eingeschlechtlich und vermehren sich durch Knospung. Dabei ist jedoch eine Art »Paarung« notwendig, d. h. zwei Tertiärentropen lösen gegenseitig die Knospung aus. Es kommt, nach allen bisherigen Erkenntnissen, dabei jedoch nicht zum Austausch von Gen-Material.
Physiognomie
Die Tertiärentropen sind in Körperbau und Aussehen sehr stark haluter- oder bestienähnlich, wobei aber eine ausgeprägte Individualität hinsichtlich des Aussehens festgestellt werden kann. Die lederartige Haut ist dunkelblau bis schwarz violett und mit einem ausgeprägten Muster von tiefen Rillen und Kerben versehen.
Den auffälligsten Unterschied zu den Haluterähnlichen bildet die Kopfform. Diese ist, im Gegensatz zu den Halutern und ihren Vorfahren, fast eiförmig, wobei die »Spitze« des »Kopfeies« in einen kurzen Halsansatz übergeht. Dadurch sind die Tertiärentropen in der Lage, ihren Kopf zu bewegen. Das Gesicht wird durch drei grüne Augen beherrscht, die in einem stumpfwinkligen Dreieck im oberen Bereich angeordnet sind. Dadurch hat eine Neo-Bestie ein Gesichtsfeld von etwa 180°, wobei sie ihren Kopf um jeweils 45° nach links oder rechts drehen kann. Von der Schädeldecke aus verläuft ein gezackter, rot-violetter Kamm, der an einen Saurier erinnert, bis zum Halsansatz.
Genau wie bei den Haluterähnlichen sind die Glieder in Zweierpaaren angeordnet, wobei die muskulösen »Beine« im Vergleich zu Haluterähnlichen etwa doppelt so lang sind. Das oberhalb der Körpermitte befindliche Armpaar kann, wie bei den Halutern, als Laufarme benutzt werden. Im Unterschied zu den Halutern verfügt jedoch auch dieses Armpaar über Greifhände, die vor allem für schwere, grobe Arbeiten gebraucht werden. Das obere Armpaar ist entsprechend dem humanoiden Körperbau seitlich an den breiten Schultern angeordnet und wird hauptsächlich für feinmotorische Tätigkeiten benutzt.
Haarfarbe
keine, jedoch zackenförmiger Kamm, der von der Schädeldecke bis in den Nacken verläuft und je nach Erregungszustand zwischen Rot und Violett wechselt
Augenfarbe
irisierendes Grün
Körpermaße
Die Körpergröße variiert zwischen ca. 4,50 und 6,20 m, die Schulterbreite beträgt etwa 1,70 bis 2,50 m.
Gewicht
durchschnittlich etwa 1500 bis 3200 kg
Stoffwechsel, körperliche Fähigkeiten
Der Hauptunterschied zu den Haluterähnlichen liegt in der Körperbiologie und -chemie. Tertiärentropen sind normalerweise Warmblüter und brauchen biologische Nahrung. Ihr Nahrungsspektrum reicht von pflanzlicher Nahrung jeder Art (so können sie ohne weiteres Baumstämme verdauen) bis zu jeder denkbaren tierischen Nahrung. Dabei bevorzugen sie, wenn vorhanden, tierische Nahrung, die sie roh verzehren. Sie können innerhalb ihres Körpers Nahrungsdepots anlegen, die es ermöglichen, etwa 20 Tage ohne Nahrung auszukommen. Wenn diese zu Neige gehen, fällt der Körper in eine Art Stasis, die es ermöglicht, nochmals etwa 30 Tage zu überleben. In diesem Zustand verhalten sie sich wie Kaltblüter, sind jedoch geistig voll aktiv. Diese Stasis kann durch bewusste Entscheidung einmalig unterbrochen werden, jedoch nach spätestens 24 Stunden muss eine ausreichende Nahrungsaufnahme erfolgen, ansonsten stirbt der Körper, er verhungert. Während dieser Phase erwachen die latent vorhandenen telepathischen Fähigkeiten, um mit einem Artgenossen oder einem anderen Mitglied der entropischen Volksgemeinschaft Kontakt aufzunehmen.
Eine Besonderheit besteht darin, dass sich ihre Muskulatur automatisch der Schwerkraft der Umgebung anpasst, d. h. ihre Körperkraft wächst entsprechend dem umgebenden Gravitationsfeld, die Grenze liegt bei etwa 6 g. Dieser Prozess ist nicht bewusst steuerbar.
Die durchschnittliche Lebenserwartung der Tertiärentropen beträgt ca. 400 bis 500 Jahre. Sie verkürzt sich mit jeder Knospung um etwa 50 Jahre.
Fortpflanzung
Tertiärentropen sind eingeschlechtlich, wobei die Fortpflanzung durch Knospung erfolgt. Die Knospung kann jedoch nicht individuell ausgelöst werden, sondern setzt einen ebenfalls zur Knospung bereiten Partner voraus. In einer Art »Paarungsprozess« wird dabei gegenseitig die Bildung eines »Samens« aus dem Körpergewebe des Tertiärentropen ausgelöst.
Nach der Bildung des »Samens« reift dieser zuerst innerhalb des Körpergewebes zu einer Miniausgabe eines Tertiärentropen heran, bis er sich nach Abschluss der »Embryophase« nach etwa 60 Tagen vom Körper des »Mutterentropen« abschnürt. Ab dieser Phase ist das »Kind« ein eigenständiges Lebewesen, das eine Kindheit von etwa 10 Jahren durchläuft, bis es als erwachsen gelten kann. Während dieser Zeit entwickelt es individuelle Körpermerkmale.
Besondere Fähigkeiten
Tertiärentropen sind durch ihren Körperbau dazu prädestiniert, den Schutz der übrigen Völker der entropischen Volksgemeinschaft zu übernehmen. Man könnte sie auch als die Soldatenkaste bezeichnen. Sie verfügen über eine beträchtliche Intelligenz und sind keinesfalls als hirnlose Tötungsmaschinen anzusehen.
Tertiärentropen sind sehr widerstandsfähig, jedoch in dieser Hinsicht Haluterähnlichen klar unterlegen. Vor allem verfügen sie nicht über die Fähigkeit, ihren Körper molekular zu verändern, sie sind, genau wie Humanoide, äußerlich verletzbar. Allerdings verfügen sie über die Fähigkeit der beschränkten Zellregeneration, die sie bewusst steuern können. So können auch schwere Verletzungen, die jedoch nicht tödlich sein dürfen, innerhalb kurzer Zeit geheilt werden. Je nach Schwere der Verletzung verfallen sie dabei in Stasis und müssen danach große Nahrungsmengen zu sich nehmen.
Adelheid M’nuu Dentai
Geboren: unbekannt
Alter: unbekannt
Herkunft: Entropia
Größe: 1,86 Meter
Gewicht: 63,5 Kilogramm
Haarfarbe: grau
Augenfarbe: grüngelb
Merkmale: Unbeherrscht, überheblich. Verfügt über ein ausgeprägtes Ego, das jede Kritik als Majestätsbeleidigung empfindet. Glaubt an die absolute Überlegenheit der Hexen gegenüber allen anderen Völkern.
Innerhalb der entropischen Führung duldet sie keine abweichenden Meinungen und setzt ihre Interessen kompromisslos durch. Ein enges Verhältnis hat sie zu den Krummschnabelkrähen, die von ihr besonders gehegt und gepflegt werden.
Para-Fähigkeiten: Unbekannt, vermutlich Instinkttelepathie und Instinktsuggestion.
Bemerkungen: Adelheid M’nuu Dentai verfügt als »Hohe Hexe« über die absolute Macht, die sie kompromisslos missbraucht. Dabei versteht sie es vorzüglich, sich durch ihre skurrile Erscheinung zu tarnen und so ihre Gegner zu täuschen. In Wirklichkeit verfolgt sie skrupellos ihre politischen Ziele und will die Macht Entropias auf die umgebenden Galaxien ausweiten.
Gesellschaft und Regierungsform
Die Gesellschaftsform der Entropen kann als gemäßigtes Matriarchat bezeichnet werden, wobei jedoch die Hexen außerhalb der normalen Gesetzmäßigkeit stehen.
Oberstes Regierungsorgan ist der »Rat der Denkerinnen«, den, zumindest nach dem Sinn der Verfassung, die fähigsten Vertreterinnen und Vertreter der Primärentropen bilden.
Die beiden anderen Volksgruppen der Entropen bilden eigene Räte, die jedoch an die Beschlüsse des »Rates der Denkerinnen« gebunden sind.
Ursprünglich wurden die Mitglieder in gemeinsamen »Burgversammlungen« aller entropischen Völker ernannt, jedoch werden seit der Ausbreitung der Entropen über den »Innenring« des Entropia-Systems die Mitglieder durch direkte Persönlichkeitswahl bestimmt. Die Amtszeit ist nicht begrenzt und endet theoretisch mit dem Tod des Mitglieds, doch kann das einzelne Mitglied jederzeit durch eine erneute Wahl abgewählt werden, was jedoch sehr selten vorkommt. Im Normalfall treten die gewählten Ratsmitglieder nach einigen Jahrzehnten bis Jahrhunderten selbst zurück und ermöglichen eine Neuwahl.
Als Exekutivorgan ist dem »Rat der Denkerinnen« der »Rat der Wächterinnen« zugeordnet, dem ausschließlich Mitglieder des Hexenvolkes angehören.
Über dem Rat der Wächterinnen steht die »Hohe Hexe«, die über nahezu diktatorische Vollmachten verfügt. Über die Art und Weise, wie der Rat der Wächterinnen und die Hohe Hexe aus dem Kreis der Hexen bestimmt wird, ist nichts bekannt.
Die Hüter der Thermodynamik sind ein Gremium aus den führenden Vertretern der Volksgruppen. Sie stellen ein Gegenstück zu dem Rat der Wächterinnen dar und nehmen eine kontrollierende Funktion gegenüber dem Rat der Wächterinnen ein. Sie können Fehlverhalten aufdecken und anmahnen, jedoch keine Aktionen ergreifen.
Zur aktuellen Handlungszeit um 1308 NGZ ist Adelheid M’nuu Dentai das Amt der Hohen Hexe übertragen. Grundlage ihrer Macht ist eine breite Mehrheit im Rat der Wächterinnen, der ihr nach dem geheimnisvollen Unfalltod ihrer Vorgängerin nahezu diktatorische Vollmachten übertrug. Nur eine Handvoll traditionell eingestellter Hexen unter Führung von Hexenmeisterin Verdande Ylâvy Shangaard bilden eine kleine Opposition, die jedoch nur über geringen Einfluss verfügt.
Auf eine weitere Besonderheit soll hier noch hingewiesen werden, die wiederum auf einen überlieferten Mythos zurückgeht. Im Falle einer essenziellen Gefahr für den Bestand der entropischen Gemeinschaft soll im »Berg der Ahnen« »Die große Alte« erwachen, um die Führung aller entropischen Völker zu übernehmen. Was sich hinter diesem Glauben verbirgt, ist unbekannt. Es scheint, dass diese geheimnisvolle Gestalt mehrmals in der überlieferten Mystik das gesamte entropische Gesellschaftssystem in seiner Entwicklung entscheidend geprägt hat.
Entropische Raumflotte
Die Raumflotte der entropischen Volksgemeinschaft besteht aus verschiedenen Typen von schwarzen, eiförmigen Raumschiffen, die äußerlich den Schwarzen Schiffen der Ur-Galornen vom Typ KEMPEST gleichen.
Die Schiffe haben eine gemischte Besatzung aus Primär- und Sekundärentropen, wobei zumindest immer ein Denker (je nach Größe des Schiffes männlich oder weiblich) die Funktion des Kommandanten einnimmt. Allerdings geht die Befehlsgewalt immer auf eine Hexe über, sofern diese an Bord ist.
Typen
Typ A: Länge 2350 m, größte Breite 1820 m – Trägerschlachtschiff
Typ B: Länge 1650 m, größte Breite 1270 m – Schlachtschiff
Typ C: Länge 1220 m, größte Breite 810 m – Schwerer Angriffskreuzer
Typ D: Länge 780 m, größte Breite 530 m – Leichter Kreuzer
Typ E: Länge 230 m, größte Breite 120 m – Schwerer Trägerkreuzer
Typ F: Länge 140 m, größte Breite 70 m – Leichter Trägerkreuzer
Mitgeführte Trägerkreuzer sind im »Basisteil«, dem dicken Ende des Eies in entsprechenden Dockingbuchten energetisch und mechanisch angeflanscht und starten nach vorn.
Eine Besonderheit stellen Expeditionsbasisschiffe dar, die auf der Zelle eines Trägerschlachtschiffs aufgebaut sind, jedoch nur über kleinere Fernaufklärungseinheiten verfügen. Schwerpunkte dieser Klasse sind eine überragende Schutzschirmtechnik und wesentlich leistungsstärkere Triebwerke.
Daneben gibt es noch diverse kleinere Einheiten wie Jäger, Landungsfahrzeuge und Erkundungseinheiten.
Technik
Die Grundlagen der entropischen Technik sind weitgehend unbekannt und scheinen auf anderen Prinzipien zu beruhen als die der Menschheit bekannten Technologien.
Auffälligster Unterschied ist dabei, dass die Entropen anscheinend völlig auf Sonnenzapfung oder Hypertrop-Zapfer zur direkten Gewinnung von Energie aus dem Hyperraum verzichten.
Die verwendete Technik muss sehr alt sein, denn die bewohnten Planeten des inneren Rings geben keinerlei Anhaltspunkte auf frühere oder gegenwärtige Umweltschäden.
Beim ersten Kontakt mit den eiförmigen Schiffen der Entropen fiel vor allem auf, dass diese im energetischen Spektrum fast nicht anzumessen waren, da die ausgestrahlten Emissionen so gering sind, dass sie im allgemeinen Hintergrundrauschen der kosmischen Strahlung und im Hyperraumrauschen weitgehend untergingen. Die Grundlage der verwendeten Technik scheint in der Nutzung der Gravitation zu liegen.
Hinsichtlich Leistungsvermögen, Bewaffnung und verwendeter Schutzschirmtechnik scheinen die Schiffe allen Schiffstypen der Menschheit klar überlegen zu sein, jedoch ist eine realistische Einschätzung derzeit noch nicht möglich.
Volk der Macht (sogenannte Hexen)
Das Volk der Macht oder die sogenannten Hexen stellen den geheimnisvollsten Teil der entropischen Volksgemeinschaft dar. Aus uralten Überlieferungen ist bekannt, dass im Laufe der bekannten Geschichte immer wieder weibliche Wesen aus dem Genpool der Galornen geboren wurden, die über ein weitgehend humanoides Aussehen und ausgeprägte parapsychologische Fähigkeiten verfügten. Alles deutet darauf hin, dass es sich dabei um spontane Mutationen handelt, deren Ursachen jedoch unbekannt sind.
Mitglieder des Volkes der Macht haben besondere Privilegien und stehen außerhalb der normalen entropischen Gesellschaft. Sie genießen eine geradezu mystische Verehrung, was darin begründet liegt, dass es ihnen gelang, den Jahrzehntausende währenden Krieg mit den Tertiärentropen zu beenden und das gemeinsame Reich zu begründen.
In der gesamten Geschichte der entropischen Gemeinschaft sind nur wenige männliche Vertreter des Hexenvolkes überliefert, die in den Legenden und Mythen als die »Mörder der Finsternis« bezeichnet werden. In den uralten Mythen ist davon die Rede, dass diese ausnahmslos versucht haben sollen, ein grausames, auf Mord und Unterdrückung basierendes System zu errichten. Während des »Zeitalters der Schatten und des Blutes« muss es nach uralten Legenden unter einem als »Blutsäufer« bezeichneten Hexer zu Massenmorden und unsagbaren Gräueln gekommen sein, bevor dieser durch eine weitere mystische Gestalt, die nur als »Die große Alte« bezeichnet wird, getötet wurde.
Es bleibt die Frage, ob diese Überlieferungen auf tatsächlichen Ereignissen beruhen oder nur das Ergebnis von Urängsten sind. Allerdings bildet die Furcht vor den Hexern ein kollektives Trauma der entropischen Gesellschaft. Dies führt dazu, dass, wenn ein männlicher Säugling nach Entrop-A teleportiert, dieser sofort durch mehrere Hexen getötet wird. Allerdings ist die Geburt von Hexern äußerst selten, der letzte bekannte Fall liegt mehrere Jahrhunderte zurück.
Physiognomie
Die Hexen sind humanoid und gleichen im Aussehen am ehesten Dämoninnen der terranischen Sagenwelt. Sie sind schlank und verfügen, wie die Menschen, nur über zwei Arme. Das Gesicht, das eine geradezu aggressive Sinnlichkeit ausstrahlt, wird von zwei kurzen, leicht nach oben geschwungenen Hörnern, die seitlich aus der Schläfenregion wachsen, und einem dritten Auge mitten auf der Stirn beherrscht. Sie verfügen über ausgeprägte Geschlechtsmerkmale, jedoch bestehen die Brüste, wie bei den weiblichen Sekundärentropen, aus festem Muskelgewebe. Der Kopf ist von einer wilden Haarmähne bedeckt, die in der Regel schulterlang getragen wird.
Der Körper ist insgesamt sehr athletisch, die Hexen sind in ihrer Körperkraft mit den Galornen vergleichbar. Das Volk der Macht bevorzugt äußerst freizügige Kleidung, bei der die festen Brüste meist frei bleiben. Bei Kampfeinsätzen tragen sie lederartige Harnische und bis über die Knie reichende Stiefel. Insgesamt können die Kampfkombinationen, die individuell gestaltet sind, ebenfalls nur als äußerst freizügig bezeichnet werden. Die Hexen drücken ihre Individualität darüber hinaus durch vielfältige Schmuckreifen aus, die an allen denkbaren Körperteilen getragen werden. Dabei ist jedoch nicht klar, ob diese noch zusätzliche Funktionen erfüllen.
Haarfarbe
alle denkbaren Farben, oft auch mehrfarbige Strähnen
Augenfarbe
uneinheitlich, jedoch oft gelbe Bindehaut und rötliche, katzenähnliche Pupillen
Körpermaße
etwa 1,80 bis über 2 m
Gewicht
durchschnittlich etwa 80 bis 130 kg
Stoffwechsel, körperliche Fähigkeiten
Über den Stoffwechsel ist relativ wenig bekannt. Es scheint, dass sie auch hier in erster Linie den humanoiden Rassen gleichen. Eine Besonderheit stellt jedoch der Aufbau der Haut dar, die wesentlich widerstandsfähiger ist als bei Menschen und eine fast lederartige Struktur besitzt.
Das Nahrungsspektrum gleicht im Wesentlichen ebenfalls dem der Humanoiden, wobei sie in der Lage sind, auch wesentlich gröbere Nahrung zu verdauen.
Wie alle entropischen Rassen können sie sich in gewissen Grenzen unterschiedlichen Gravitationsfeldern anpassen, diese Fähigkeit scheint allen entropischen Rassen gemeinsam zu sein. Auch verfügen die Mitglieder des Hexenvolkes über die Fähigkeit der Zellregeneration bei einfacheren Verletzungen.
Die Hexen scheuen keine körperlichen Auseinandersetzungen und sind, auf Grund von Körperkraft, Schnelligkeit und Para-Fähigkeiten, teilweise gefürchtete Kämpferinnen. Allerdings scheinen diese Eigenschaften unterschiedlich stark ausgeprägt zu sein.
Über die Lebensspanne ist wenig bekannt, die Hexen scheinen einem langsamen Alterungsprozess zu unterliegen, was vermutlich an ihren Zellregenerationsfähigkeiten liegt. Greise Vertreterinnen ziehen sich nach Entrop-A an einen geheimnisvollen Ort zurück, der als »Station des letzten Weges« bezeichnet wird, wo sie vermutlich sterben. Über ihr tatsächlich erreichbares Alter ist nichts bekannt.
Partnerschaft und Fortpflanzung
Über die sexuellen Gewohnheiten ist sehr wenig bekannt, allerdings entsteht der Eindruck, dass das Volk der Macht i.d.R. gleichgeschlechtliche Partnerschaften bildet. Wie diese strukturiert sind, ist unbekannt. Alte Mythen berichten jedoch davon, dass es unter dem Joch der Hexer zu geradezu perversen Ausschweifungen gekommen sein muss, durch die alle entropischen Völker betroffen waren. Diese sollen ihre mächtigen parapsychologischen Fähigkeiten dazu eingesetzt haben, die anderen Völker zu versklaven und auch körperlich ihren Wünschen anzupassen. Inwieweit die Überlieferungen auf Tatsachen beruhen, kann heute nicht mehr beurteilt werden.
Ob das Volk der Macht in der Gegenwart noch über die Fähigkeit der Fortpflanzung verfügt, ist unbekannt. Nach allen vorliegenden Informationen gab es angeblich seit vielen Jahrtausenden keine natürliche Geburt mehr. Daher kann auch niemand sagen, ob »natürlich« gezeugter Nachwuchs in Fähigkeiten und Aussehen den Hexen entsprechen würde.
Als Folge der Beschränkung auf die »zufällige« Mutation aus dem Genpool ist die Zahl der Hexen äußerst gering, jedoch weiß niemand, wie groß ihre Population tatsächlich ist.
Besondere Fähigkeiten
Das Volk der Macht verfügt über ausgeprägte parapsychologische Gaben, zumindest die Telepathie und die begrenzte Levitation sind allen Hexen gemeinsam.
Hierbei scheinen die »Schläfenhörner« eine wichtige Rolle zu spielen und durch ihre Größe den Umfang und die Stärke der Para-Fähigkeiten zu bestimmen.
Darüber hinaus verfügt jede Hexe anscheinend über die Fähigkeit, in die Gestalt einer weiblichen Humanoiden zu wechseln. Ob auch der Wechsel in andere Lebensformen möglich ist, ist nicht bekannt.
In ihrer menschlichen Form verfügen die Hexen über keine parapsychologischen Fähigkeiten, einzige bekannte Ausnahmen sind Constance Zaryah Beccash und Ylva Eir Hrydja, die auch in ihrer menschlichen Gestalt über ihre Hexenkräfte verfügen können.
Zur aktuellen Handlungszeit um 1308 NGZ treten die Hexen fast ausschließlich in ihrer humanoiden Gestalt auf und versuchen, ihr wahres Aussehen und ihre Para-Fähigkeiten zu verschleiern. Selbst in ihrer Heimat, dem Entropia-System, stoßen Elyn und ihre Begleiter ausschließlich auf gewandelte Hexen. Der Grund für dieses Verhalten ist völlig unbekannt.